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Endlich hatte der gestrenge Winter auch aus den altersgrauen Straßen Königsbergs Reißaus nehmen müssen. Murrend war er vor den heißen Strahlen der Frühlingssonne über die Grenze in das russische Reich geflüchtet.
Vater trank jetzt nicht mehr frierend »ostpreußischen Maitrank«, den dampfenden Grog, und Mutter setzte in dem winzigen Gärtchen, der zu ihrem neuen Reich gehörte, Primeln und Stiefmütterchen ein. Ihre Rangen aber tummelten sich vor den Toren auf dem Walter-Simon-Platz. Dort schleuderte Norbert den Fußball, ließ Heinz seine Drachen steigen, und Liselotte errang hier Lorbeeren beim Tennisspiel. Die beiden Kleinen aber zogen mit Marie in die Glacis, die Anlagen, die rings die Stadt umkränzten.
Manchmal war es Liselotte, als ob sie ihr Lebtag hier in Königsberg gewesen wäre. Sie hatte in den sechs Wochen vollständig Wurzel geschlagen in dem fremden Boden. Die Sprache kam ihr nicht mehr lächerlich vor, und ihr schlesischer Dialekt schwand mehr und mehr. Sie kaufte mit Fritzi, die ein Naschkätzchen war, um ein Dittchen Kuchenkrümel, sie vertilgte mit Begeisterung bei Werscholeits das Nationalessen, »Schmand mit Glumse«, trotzdem sie weißen Käse eigentlich gar nicht mochte. Und sie drohte den Kleinen nicht mehr »es setzt Katzenköpfe«, sondern nur noch auf gut Ostpreußisch: »Wart', es jibt Mutzköpp!«
»Unser fünfter Junge ist ein richtiges Königsberger Mariellchen geworden!« lachte Vater oft verwundert.
»Wenn sie nur auch etwas mädchenhafter würde!« seufzte Mutter dann.
Ja – damit hatte es gute Wege!
Liselotte war rangenhafter als je, Suses und Hannis sanfter Einfluß fehlte. Fritzi von Walden, die neue Freundin, war selbst so durchtrieben wie ein kleiner Gassenjunge, und Gretchen Werscholeit ließ sich trotz ihrer stattlichen Länge von den beiden kleinen Dingern vollständig beherrschen. Wenn Lilo und Fritzi beisammen waren, machten sie nichts als Dummheiten.
Auch das Zankteufelchen, das sich während der innigen Freundschaft mit der verträglichen Suse ganz verkrochen hatte, machte sich jetzt in Liselottes nettem Zimmerchen wieder breit.
Laubschats, die alten Herrschaften, die das Parterregeschoß bewohnten, wußten ein Lied davon zu singen. Die glaubten nicht anders, als die wilde Jagd hätte über ihnen ihren Einzug gehalten. Von morgens bis abends ging das Getrampele, Türengeschleudere, Zanken und Brüllen. Dreimal hatten die alten Herrschaften sich schon bei den Eltern beklagt. Liselotte, die Hauptschuldige, versprach reumütig jedesmal Besserung, aber bereits im nächsten Augenblick hatte sie alle guten Vorsätze vergessen. Keiner, nicht einmal Norbert, schmetterte die Türen so temperamentvoll ins Schloß wie das Fräulein Tochter. Die alten Leutchen fuhren jedesmal zusammen und sahen ängstlich zu ihrer Gaskrone empor, auf der Glocken und Zylinder bedenklich klirrten.
Da beschloß Frau Laubschat eines Tages, sich das junge Dämchen mal selbst zu langen. Als Liselotte gerade rittlings das Treppengeländer herabrutschte, trat sie aus ihrer Tür. Das kleine Mädchen versuchte von ihrem eigenartigen Sitzplatz aus einen mißglückten Knicks.
Mit einem kühnen Satz wollte sie sodann an der alten Dame vorbei, denn Fritzi wartete im Logengarten auf sie, da blieb sie mit dem weißen Stickereikleid an dem Treppenpfosten hängen. Sie schlug mit der Stirn gegen das Geländer, das neue Stickereikleid aber zeigte eine klaffende Wunde. Liselotte war nicht wehleidig, mit der schmerzenden Beule auf der Stirn wurde sie schnell fertig, schmerzlicher war der Riß im Kleid.
Ganz entsetzt blickte sie auf denselben – o weh, das gab wieder eine tüchtige Standpauke!
»Hast du dir weh getan, Kind, komm' herein zu mir, ich mache dir eine Kompresse,« die alte Dame war erschreckt nähergetreten.
Liselotte schüttelte den brummenden Kopf.
»Ih wo – bloß mein neues Kleid, wenn – ach, wenn Sie so gut sein würden und mir Nähnadel und Faden geben,« bat sie liebenswürdig; nach oben, unter Mutters Augen wagte sie sich in diesem Zustande nicht.
Frau Laubschat ließ die Kleine freundlich eintreten. Sieh hin – wie allerliebst und bescheiden dieses Radauteufelchen sein konnte! Die alte Dame beschloß, sie bei ihrer Ehre zu packen.
»Komm', Kind, ich werde es dir nähen, du bist ja noch viel zu klein dazu,« sagte sie und kramte ihr Brillenfutteral hervor.
Liselotte fühlte sich an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen.
»Ich werde nächsten Monat zwölf,« sie stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Ei nein, da bist du wohl gar nicht das ungezogene Mariellchen, das den größten Spektakel da oben macht! Das ist gewiß eine kleinere Schwester von dir, denn ein Mädel von fast zwölf Jahren ist doch schon groß und verständig! Das pflegt doch wie ein Mütterchen für die jüngeren Geschwister zu sorgen und nicht mit ihnen zu streiten und zu raufen! Ein Mädchen von zwölf Jahren, das ist auch rücksichtsvoll, das denkt doch daran, ob die übrigen Mieter im Haus nicht Kopfschmerzen von dem Tumult bekommen – nicht wahr, Kind?« Frau Laubschat hatte im freundlichsten Tone zu Liselotte gesprochen – war das nun Ernst oder Scherz – Lilo wurde nicht klug daraus.
Aber auf eine Antwort konnte die alte Dame lange warten, denn das kleine Mädchen hatte das errötende Gesicht tief über das Stickereikleid geneigt und nähte den Riß mit ellenlangen Stichen zusammen. Der Boden brannte ihr unter den Füßen.
Gott sei Dank – endlich war sie mit einem gestotterten Dank und verlegenem Knicks glücklich wieder draußen.
»Eine jüngere Schwester, ja, hätte ich nur eine, dann wäre ich sicher artiger und verträglicher,« dachte Liselotte wieder ganz geknickt, während sie dem am Schloßteich gelegenen Logengarten zulief.
Frau Laubschat aber sah mit seinem Lächeln hinter ihr her – ob es wohl etwas genützt hatte?
Freilich, wenigstens für einen Tag.
Ganze vierundzwanzig Stunden lang dachte Liselotte daran, Frieden zu halten und möglichst wenig zu trampeln. Es wurde ihr nicht allzu schwer, ihren guten Vorsatz auszuführen, denn sie war den ganzen Nachmittag über nicht zu Hause und während der Nacht verhielt sie sich stets ganz ungewöhnlich friedlich. Am nächsten Vormittag aber war sie in der Schule – und dann, ja dann hatte sie wirklich an anderes zu denken, als an Frau Laubschats Kopfschmerzen. Manchmal bekam sie zwar einen Heidenschreck, wenn sie die Tür gar zu dröhnend zugeknallt hatte, dann schloß sie dieselbe noch einmal leis und zart. Oder aber, wenn das Toben in der Kinderstube zu arg wurde, schrie sie wohl dazwischen: »Schscht – Laubschats schicken wieder rauf!« Und sie puffte die Brüderchen, wenn sie nicht gleich gehorchten, so energisch, daß das Gebrüll nun erst recht einsetzte.
In der Schule erging es Liselotte oder vielmehr »Günther« recht gut. Längst hatte sie nicht mehr den letzten Platz inne. Nach dem französischen Probeextemporal war sie gleich auf die erste Bank gesetzt worden.
Wenn nur die Linkshandkurse nicht gewesen wären! Die verbitterten Liselotte den ganzen Aufenthalt in der Schule. Man ging dort von dem Prinzip aus, beide Hände gleichmäßig auszubilden, es gab Schreibstunden, in denen nur mit der linken Hand geschrieben werden durfte. Die anderen Mädchen waren von der untersten Klasse an daran gewöhnt, aber Lilo, die an und für sich nicht gerade geschickt war, brachte wahre ägyptische Hieroglyphen hervor.
»Mit der linken Pfote kann kein Mensch schreiben,« hatte sie ungeduldig gerufen, als Fräulein Honigsüß, die Schreiblehrerin, ihr Vorhaltungen machte, daß ihr Geschriebenes mehr wie Krausgebackenes aussähe und nicht wie Buchstaben. Da war das Fräulein aber gar nicht honigsüß gewesen, sondern gallenbitter, und hatte Liselotte klar gemacht, daß erstens ein Mensch keine Pfoten hätte, und daß zweitens eine Schülerin höflich und bescheiden zu einer Lehrerin zu sprechen habe. Seitdem haßte Lilo die Schreibstunden noch viel mehr. Sie sollte zu Hause täglich eine halbe Stunde üben, aber das Raufen und Lärmen ließ ihr dazu keine Zeit. So mogelte sie, sowie Fräulein Honigsüß die Augen nur gewandt hatte, und schrieb mit der rechten Hand. Aber so viel Mühe sie sich auch gab, sie brachte nicht so zitterige Krähenfüße fertig wie mit der Linken – meist wurde sie abgefaßt.
Fast noch schlimmer als die Schreibstunde war der Handarbeitsunterricht, den ebenfalls Fräulein Honigsüß erteilte.
Liselotte, die bei keiner Handarbeit Ausdauer hatte, stand hier wahre Folterqualen aus. Ihre Fingerchen mühten sich vergebens, das harte Leinen zu meistern. Es war ebenso widerspenstig wie Liselottes Sinn – denn ach, sie sollte ein Herrenhemd nähen! Und noch dazu zum großen Teil mit der linken Hand. Wie oft sie sich innerhalb einer Minute piekte, das wußte sie selbst kaum noch. Ihre Arbeit zeigte patriotisch die deutschen Landesfarben, schwarz, weiß, rot. Denn an Sauberkeit ließ das kleine Fräulein viel zu wünschen übrig, meist machte sie sich mit Tintenfingern ans Werk.
»Vatchen, ich nähe ein Hemd für dich!« hatte sie nach der ersten Stunde stolz geäußert.
»Na, hoffentlich erlebe ich es noch, daß es fertig wird,« schmunzelte der Vater, der sein Töchterchen kannte, lustig.
»Es wird wohl nur für Norbert werden,« teilte sie nach der nächsten Stunde schon etwas weniger stolz mit, »ich habe einen falschen Faden ausgezogen und da ist es zu kurz geworden!«
Armer Norbert – wenn der jemals in die bedauernswerte Lage kommen sollte, Lilos selbstgefertigtes Hemd zu tragen! Liselottes Kappnähte glichen korinthischen Säulen, wehe dem Ärmsten, der dieselben auf seiner Haut fühlte!
Heute hatte Liselotte absolut keine Lust zu ihrer Näharbeit. Die Junisonne flimmerte so lustig zu den hohen Fenstern hinein, gerade so wie voriges Jahr in das niedrige Klassenzimmer in Schlesien.
Was mochte Suse wohl jetzt machen? Ob sie auch aus Gedanken eine Brücke über die weite Entfernung zu der Freundin baute? Nein – Suse war aufmerksam und andächtig während des Unterrichts, wenn die ihr einen bittenden Blick in der Stunde zugeworfen, hatte auch die zerstreute Lilo ihre abschweifenden Gedanken gesammelt und aufgepaßt.
Und hier? Liselotte warf einen Blick zu Suses Nachbarin hin.
Fritzi, der Rüpel, schien auch keine besondere Neigung für ihren Saum zu haben. Sie beschäftigte sich angelegentlich damit, niedliche kleine »Springer« aus Pergamentpapier zu fertigen und dieselben auf dem großen Atlas unter dem Tisch hopsen zu lassen. Als sie Liselottes interessierten Blicken begegnete, zielte sie ausgelassen und schnellte einen Springer geschickt gegen Lilos Näschen. Liselotte, die auf diesen Angriff nicht vorbereitet, stieß ein erschrecktes »Herreje« aus.
Dies machte Fritzi ungeheuren Spaß, aber Fräulein Honigsüß, die den Ausruf ebenfalls vernommen, weniger. Sie ließ sich Liselottes Handarbeit, die sie mit spitzen Fingern anfaßte, vorzeigen, und als sie sah, daß das kleine Mädchen so gut wie gar nichts in der Stunde gemacht, gab sie ihr als Strafarbeit auf, die ganze Naht zu Hause zu morgen fertig zu kappen.
Entsetzlicher Gedanke! Liselotte blieb den Rest der Stunde in einem Gähnen, das würde ein trostlos öder Nachmittag werden!
»Aber erstens kommt es immer anders – und zweitens, als man denkt,« das war die neueste Weisheit, die Lilo von Fritzi gelernt hatte.
Mutter packte daheim das Geburtstagspaket für die Großmama, und das Töchterchen durfte ihr helfen. Die Küchenkante, die Liselotte zu diesem Tage gehäkelt hatte, war natürlich wieder nicht zurzeit fertig geworden, und nun stand sie beschämt neben der Kiste. Hatte sie denn gar nichts für die Großmama zum Mitschicken?
Da fiel ihr Blick durch das Fenster auf einen kleinen Laden an der Ecke. Dort hingen allerlei Plakate. Und plötzlich machte Liselotte einen Freudensprung.
»Ich hab's – ich schicke der Großmama doch noch was« – und spornstreichs war sie an ihrem irdenen Mohrenkopf, um mittels einer Schere einige Groschen herauszubugsieren.
»Mutti – ich darf doch?« Eine Erlaubnis wartete sie gar nicht mehr ab, sondern wie sie da war, ohne Hut, mit zerzausten Haaren und spinatbekleckster Schürze, eilte sie über die Straße. In jeder Hand ein kleines Paket, war sie alsbald wieder zurück. Unten im Gärtchen traf sie die Mutter, die zur Stadt wollte.
»Och – du gehst weg, Muttel, ist das Paket schon zu, ich habe doch noch eine Überraschung für Großmuttchen,« Liselotte schob beleidigt die Unterlippe vor.
»Nein – nein, Kind, es geht erst heute abend fort, ich will noch etwas besorgen, gib acht auf die Kleinen, Marie ist auf dem Boden, ich habe die Kiste hochgestellt, daß sie nicht herankommen. Du solltest dich übrigens schämen, in solchem Aufzuge herumzulaufen,« ein strafender Blick streifte Liselottes Schürze und Haare.
Lilo stahl sich an Frau Laubschats geöffnetem Fenster vorüber, denn wenn die sie so erblickte, glaubte sie ganz bestimmt nicht, daß sie bald zwölf Jahre alt wurde.
Droben ertappte sie Heinz gerade dabei, wie er auf den kleinen ans Büfett gerückten Tisch klettern wollte, denn dort oben stand die Geburtstagskiste.
»Ich wollt' man bloß nachsehen, ob auch alles drin is,« verteidigte er sich schreiend, da Liselotte ihn sofort an einem Bein herunterzerrte. Der Sicherheit wegen spedierte sie ihn gleich bis in die Kinderstube, wogegen er sich mit Ellenbogen und Knien verteidigte. Liselotte mußte ihre Pakete aus der Hand legen, um ihn zu bändigen. Aber als es jetzt klingelte und Anna »Jretchen Werscholeït« meldete, ließ sie den zeternden Heinz schnell los, denn sie schämte sich vor der Freundin.
An die auf Kurtchens Stühlchen vergessenen Pakete dachte Fräulein Liederlich nicht mehr.
Gretchen kam, um die Freundin zum nächsten Sonntag, ihrem Geburtstage, nach Cranz, dem eine halbe Stunde von Königsberg gelegenen Ostseebad, einzuladen. Dort wohnten Werscholeits auf Sommerwohnung, Gretchen aber blieb die Woche über, der Schule wegen, in der Stadt bei einer Tante.
Liselotte war sofort Feuer und Flamme. Himmlisch würde es in Cranz werden! Der Vater war schon öfters Sonntags mit ihnen herausgefahren, aber das war lange nicht so interessant, als wenn man allein fahren durfte.
»Du kommst sicher nach Haus, aber den Hausschlissel mußt dir jeben lassen, wir fahren alle zusammen und setzen dich hier am Bahnhof dann in die Alaktrische, du fährst ja bis an deïn Haus!«
Liselotte strahlte. Wenn nur Mutti ihre Erlaubnis gab zu der selbständigen Heimkehr! Bis jetzt hatte Norbert sie noch immer abholen müssen, aber sie war doch kein Baby mehr!
Gretchen, die etwas phlegmatisch und nölig war, blieb zwei Stunden bei Liselotte, trotzdem sie nur auf einen Augenblick gekommen. Mit keinem Gedanken dachte Liselotte an ihre Schwesterpflichten noch an ihre Strafarbeit zu morgen. All ihr Denken gipfelte, als Gretchen endlich gegangen war, darin, »ob ich wohl Sonntag allein nach Haus kommen darf?«
Mehrstimmiges Geheul aus dem Kinderzimmer erinnerte sie an Mutters Gebot. Je – die Bälger, die hatte sie in ihren Zukunftsträumen rein vergessen.
»Wenn du petzt, verklopp' ich dich zu Puppenlappen,« großsprecherisch stand Heinz vor dem plärrenden Edchen, als die Schwester das Kinderzimmer betrat.
»Was ist los, was soll er nicht petzen?« Zankteufelchen rief es im befehlenden Ton.
»Geht dich gar nichts an,« meinte der noch eben so kühne Heinz ziemlich ängstlich, und »geht diß gar niß an!« wiederholte nun auch Edchen, immer noch heulend.
»So, das geht mich sehr viel an, gleich sagst du's, oder ich sperre dich in die dunkle Besenkammer,« drohte Liselotte, Edchen beim Schlafittchen nehmend.
»Wir haben Kuchen gegeßt,« schrie dieser wie am Spieß.
»Wo habt ihr ihn hergenommen – wirst du wohl die Wahrheit sagen!« Liselotte verlangte von dem Kleinen, was sie selbst nicht immer befolgte.
»Da – dort vom Stuhl,« schrie Edchen, da Liselotte ihn etwas nachdrücklich gegen die Wand preßte.
»Was –« Liselotte ließ sofort den kleinen Missetäter los und sprang zu Kurtchens Stühlchen.
Dort lagen zwei zerfetzte Papiere mit einigen vergessenen Krümeln.
»Um Gottes willen« – sie wurde plötzlich blaß – »ihr habt ja Hundekuchen und Vogelkeks genascht, das sollte ja für Großmamas Teckel und fürs Hänschen sein – ihr habt euch ganz sicher vergiftet!
Dreistimmiges ohrenbetäubendes Gebrüll erfüllte das Kinderzimmer.
»Wir sind vergiften« – »wir wollen aber niß tot gesterbt werden« – »er hat so srecklisse Bauchsmerzen,« der Weinerich krümmte sich in seiner Ecke.
Mit entsetzten Augen starrte Liselotte auf die schreienden Kinder. Sie war schuld daran, wenn sie sich vergiftet hatten, durch ihre Liederlichkeit waren sie an Großmamas Hundekuchen geraten!
»Norbert – Norbert« – ebenfalls weinend riß sie die Tür zu des Bruders Zimmer auf.
Der saß unbekümmert um das Toben nebenan, an das er gewöhnt war, bei seiner lateinischen Übersetzung.
»Norbert, die Jungs haben sich an Hundekuchen und Vogelkeks vergiftet,« schrie sie voll Angst.
»Dämelsack – dann müßten doch die Hunde und Vögel auch davon sterben, ihr Weiber habt doch nicht die Spur Logik im Grips,« er sah überlegen auf die kleinere Schwester.
Aber da die drei nach wie vor brüllten, und der Weinerich jetzt sogar über »danz srecklis dolle Bauchsmerzen« klagte, beruhigte sich Liselotte nicht.
»Vielleicht ein Brechmittel, Norbert,« schlug sie erregt vor.
»Kann nie schaden, es ist noch eins von Heinz' letztem Geburtstag in der Hausapotheke.« Das Brechpulver wurde eingerührt, aber als man es gerade den sich wehrenden Jören mit Gewalt einflößen wollte, kam zu ihrem Glück die Mutter nach Hause.
Die war nicht wenig erschrocken, aber als sie den Sachverhalt erfahren, lachte sie aus vollem Halse.
»Nicht einmal Hundekuchen ist vor euch Rangen sicher!« und sie beruhigte die wimmernden Kinder, daß sie ganz bestimmt nicht vergiftet seien. Kurtchens Schmerzen rührten wohl von einem Zuviel des Guten her. Norbert aber und Liselotte bekamen ein für allemal die strenge Weisung, das Kurieren auf eigene Faust, durch das sie noch mehr Schaden anrichten konnten, künftig zu unterlassen.
»Hat's denn geschmeckt?« erkundigte sich Norbert, der Süßschnabel, noch interessiert.
»Abßeulis – aber es war doch Tuchen!« Kurtchen hielt sich verpflichtet, allem, was Kuchen hieß, den Garaus zu machen.
So mußte Großmamas Geburtstagskiste ohne Hundekuchen und ohne Vogelkeks abgehen!
Da Mutti heute gerade nicht sehr gut zu sprechen auf ihr Töchterchen war, hielt der Schlaukopf es für geratener, die Erlaubnis für den Sonntagsausflug erst morgen zu erbitten.
Aber sie hatte die Rechnung ohne den Wirt, d. h. ohne Fräulein Honigsüß gemacht.
Als Liselotte am nächsten Morgen zwischen Zähneputzen und Haarekämmen ihre Mappe packte, die eigentlich am Abend vorher fix und fertig sein sollte, fand sie darin zu ihrem Entsetzen das verhaßte Herrenhemd.
Die Strafarbeit – allmächtige Güte – was fing sie jetzt bloß an! Es gab keinen anderen Ausweg, als die Handarbeit zu Hause zu vergessen. Das tat sie denn auch gründlich, indem sie ihr noch mit dem Fuß einen Stoß gab, daß sie bis unter den Kleiderschrank flog.
Vielleicht vergaß auch Fräulein Honigsüß, daß sie eine Strafarbeit anfertigen sollte, man hatte ja heute nur Schreibstunde bei ihr! Dieser Gedanke wirkte ungemein tröstlich. Aber Fräulein Honigsüß hatte ein gutes Gedächtnis.
»Günther, deine Kappnaht!« damit eröffnete sie die Stunde.
Liselotte teilte etwas unsicher mit, daß sie dieselbe zu Hause liegen gelassen habe.
»So werde ich dich unter Tadel schreiben, bring' mir dein Büchlein vor.«
Liselotte tat beschämt, wie ihr geheißen, und Fräulein Honigsüß schrieb in das kleine Ordnungsbuch, das jede Schülerin führen mußte, mit schönen Buchstaben »Günther getadelt, weil sie ohne Hemd in die Schule gekommen.«
»So – das läßt du vom Herrn Direktor und von den Eltern daheim unterschreiben« – der Unterricht nahm seinen Anfang.
Liselotte aber dachte weder daran, mit der linken, noch mit der rechten Hand zu schreiben, sie war einfach außer sich. Ihre ganze Umgebung machte sie rebellisch.
»Ich tu's nicht – ich tue es ganz bestimmt nicht, ich schäme mich ja tot vor dem Herrn Direktor, der denkt sicher, ich habe kein Hemd an,« so räsonierte sie flüsternd.
Aber es half nichts – sie mußte sich nach der Stunde zum Direktor begeben. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Das Direktorzimmer übte auf jede Schülerin, selbst auf die kecke Liselotte, einen bedrückend feierlichen Eindruck aus.
»Ei – Jünther – na, was jibt's?« der Herr Direktor sah sie freundlich an.
Blutübergossen reichte Liselotte ihr Ordnungsbüchlein hin.
»Nanu« – der Direktor stutzte, dann aber schien ihm ein Licht aufzugehen, er versuchte vergeblich seine Heiterkeit zu verbergen.
»Ei, daß mir das nicht wieder vorkommt, Jünther,« Liselotte war ohne Strafpredigt entlassen.
Auch daheim verursachte der Tadel nicht solch Unwetter, wie es sonst wohl der Fall gewesen. Der unbeabsichtigte Humor, der in den Worten lag, besänftigte selbst Muttis Erziehungswogen.
Aber mit ihrer Sonntagseinladung traute sich Liselotte doch noch immer nicht heraus. Erst wollte sie heute nachmittag ihre Kappnaht mal fertig nähen, das würde Mutter sicher versöhnen.
Ja – wo war das Unglückshemd denn bloß hingekommen? Unter dem Schrank, wo es Fräulein Liederlich so ordentlich verwahrt, lag es nicht mehr. Keiner hatte es gesehen, auch Marie nicht, die dort reingemacht.
Liselotte suchte und jammerte, weinte und suchte.
Das Hemd blieb unsichtbar.
Die Kinder wurden verhört, besonders die beiden Kleinen, die noch nicht zur Schule gingen, und die Marie stets beim Aufräumen der Zimmer halfen.
»Habt ihr nichts unter meinem Schrank gefunden?« Zum ixten Male richtete Liselotte diese Frage an die kleinen Brüderchen.
Und zum ixten Male antwortete der Neinerich sein gewohnheitsmäßiges »Nein«, während der Weinerich, der sich von seiner Vergiftung wieder erholt, plötzlich zu weinen begann.
»Er hat dehaupt tein Hemd defindet, nur ein ßöner Szeuerlappen hat untern Srank deliegt,« verteidigte sich der Kleine.
»Wo hast du ihn?« Zankteufelchen schüttelte das Bürschchen an den Schultern.
»In mein Eimerßen.«
Liselotte stürmte ins Kinderzimmer. Da stand Kurtchens kleiner Eimer, und aus demselben zog Liselotte jetzt entgeistert ein zum schwärzlich grauen Klumpen geballtes, nasses Etwas hervor. Es waren die Seitenteile zu Lilos Herrenhemd. Kurtchen hatte Marie mit dem »ßönen Szeuerlappen« beim Aufwischen der Zimmer geholfen.
Wie ein Racheengel stand Liselotte da und schlug dem verdutzten Kleinen den nassen Lappen um die Ohren. Aber Mutter entzog ihn dem Arm der Gerechtigkeit.
»Schäme dich, Liselotte, den Ärger über deine eigene Liederlichkeit an dem Kinde auszulassen, das unmöglich wissen konnte, daß du deine Schulhandarbeit unter dem Schrank verwahrst!« sagte die Mutter ernst.
»Nun habe ich kein Hemd – nun muß ich von Handarbeit dispensiert werden!« In all dem jammervollen Dunkel ging Liselotte plötzlich dieser Hoffnungsstrahl auf.
Aber sie täuschte sich recht sehr.
Der irdene Mohrenkopf mußte alle seine Spargroschen ausspucken, davon wurde neue Leinwand gekauft. Und jeden Nachmittag zwischen drei und vier, wenn die goldene Sonne auch noch so lustig in das Zimmer blinzelte und liebkosend braune Locken streifte, sah sie neben der Mutter einen emsig über Linnen gebeugten Mädchenkopf. Ob sie auch gleißte und lockte, das rosige Gesichtchen blieb eifrig über die Arbeit geneigt. Und lachend sah die Sonne, wie die Stiche allmählich kleiner und gleichmäßiger wurden, und wie nach und nach tadellos saubere Säume und zierliche Kappnähte unter Fräulein Liederlichs Fingerchen hervorgingen.
* * *