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5. Kapitel. Zensuren.

Oktoberferien.

Längst hatte Liselotte, was sie sich an jenem Jahrmarktsabend gelobt, wieder vergessen. Sie stupste und knuffte die Brüderchen zwar nicht mehr ganz so arg wie früher, aber wenn die kleinen Quälgeister sie gar zu sehr piesackten, rutschte ihr die Hand des öfteren nicht gerade liebevoll aus.

»Du sollst die Kleinen nicht hauen, mit Güte und Freundlichkeit erreichst du viel mehr bei ihnen,« schalt die Mutter. Aber Liselotte war anderer Ansicht, die hatte ihre eigenen großen pädagogischen Erfahrungen.

Auch das Versprechen, das sie sich selbst Suse Bertram betreffend damals gegeben, hatte sie nur halb erfüllt. Sie kränkte die Suse nicht mehr wissentlich – o nein, das wäre doch hundsgemein von ihr gewesen – aber sie tat auch nichts, um die früheren Zurücksetzungen wieder gut zu machen. Sie sagte »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«, geruhte, Suses Löschblatt mitzubenutzen, wenn sie selbst gerade keins da hatte, und auch hin und wieder beim Extemporal eine Vokabel abzuschielen. Aber des Mittags nölte sie möglichst lange in der Klasse, um nur ja nicht in die Verlegenheit zu kommen, mit Suse Bertram gemeinsam den Heimweg antreten zu müssen. Denn Suse eilte stets, so schnell sie konnte, nach Haus, um der Mutter noch in der Küche behilflich zu sein und um den Tisch zu decken.

Heute gab's Zensuren. Versetzung war zum Glück nicht, aber die Verteilung der Zeugnisse wurde immerhin als aufregende Sache betrachtet. Fräulein Rau überreichte die Zensuren in der Reihenfolge der neuen Rangordnung die sich nach den Zeugnissen ergeben hatte.

Sie stand auf dem Katheder und hielt die unschuldigen Blätter Papier, die doch über das Wohl und Wehe von so manchem Kinderherzen entscheiden sollten, in der Hand.

»Wie der Engel des Jüngsten Gerichts!« flüsterte Liselotte ihrer Intima Hanni zu, trotzdem ihr eigentlich gar nicht so scherzhaft zumute war. Denn gut wurde die Zensur keinesfalls.

»Das beste Zeugnis hat« – begann Fräulein Rau, machte eine Kunstpause und sah sich in der Klasse um. Sicher doch wieder Amtmanns Lenchen – keine zweifelte daran, und Lenchen selbst am wenigsten. »Das beste Zeugnis hat diesmal Suse Bertram,« vollendete Fräulein Rau, »sie wird die neue Klassenerste. Ich freue mich, Suse, daß es dir durch musterhaftes Betragen und steten Fleiß gelungen ist, den Ehrenplatz in der Klasse zu erringen,« sie reichte ihr die Zensur, auf der es von »sehr gut« ordentlich wimmelte.

Die bescheidene Suse wurde so rot wie das rote Musselinkleidchen, das sie trug. Jubel war es, glückseliger Stolz – wie werden sich die Eltern daheim freuen und der Großvater – und doch daneben ein beklemmendes Gefühl, daß sie, die stets zurückgestanden, jetzt plötzlich alle anderen überflügelt hatte. Was würde Amtmanns Lenchen nur dazu sagen?

Ja, Lenchen saß mit bitterbösem Gesicht da – »solche Ungerechtigkeit!« das war deutlich in ihren Zügen zu lesen.

»Wenn du diesmal den zweiten Platz einnimmst, Helene, so liegt das lediglich daran, daß du dich wohl allzu sicher in deiner Würde als Erste gefühlt hast. Die Aufmerksamkeit ließ öfter zu wünschen übrig, und auch die häuslichen Arbeiten waren hin und wieder flüchtig. Ich erwarte von dir, daß du dich im nächsten Halbjahr wieder zusammennimmst. Hanni Diefenbach, die dritte, ein recht gutes Zeugnis, in Französisch muß es noch besser werden.«

»Jetzt komme ich dran –« Liselotte setzte sich in Positur, »na, wie Gott will!« sie senkte ergeben den lustigen braunen Krauskopf.

»Edith Wendler, die vierte – fünfte, Hilde von Thielen – sechste, Ruth Wegener – siebente, Ilse Peters – achte – –«

»Ich bin ausgelassen – Fräulein Rau, ich bin ausgelassen,« rief Liselotte dazwischen, denn es war ja ganz klar, daß man sie nur vergessen hatte.

Fräulein Rau maß das vorlaute Mädel mit strafendem Blick.

»Achte – Liselotte Günther, so ungehörig, wie du dich soeben gezeigt, hast du dich auch sonst benommen, ich konnte nicht umhin, dir im Betragen das Prädikat ›im ganzen befriedigend‹ zu geben. Auch Aufmerksamkeit und Fleiß waren nur ›genügend‹. Wenn du trotzdem die letzte der ersten Bank geblieben bist, so hast du das nur deiner Begabung zu danken, die Fächer sind fast durchweg ›gut‹ und ›sehr gut‹. Wenn du dir Mühe geben würdest, könntest du die Erste sein. Um so mehr betrübt es mich, dir solche Schundzensur ausstellen zu müssen. Ich wünsche, ein derartiges Zeugnis nicht wieder bei dir zu sehen.«

Weiter verteilte Fräulein Rau ihre Zensuren, glückselige Augen oder Jammermienen folgten jedem raschelnden Blatte, aber Liselotte vernahm nichts mehr davon. Die hatte das Gesicht in beide Hände verborgen und vergoß heiße Tränen über die Schlechtigkeit der Welt, und der Schule insbesondere. Denn daß sie die Zensur redlich verdient hatte, das wollte ihr durchaus nicht in den Sinn.

So 'ne Blamage! All ihre Freundinnen und Kränzchenschwestern saßen über ihr, und Suse Bertram, deren Vater doch Vatchens Untergebener war, die Allererste – das war das Niederdrückendste!

Liselotte schluchzte laut auf.

Da schob sich eine warme Hand liebkosend zwischen ihre kalten Finger, und eine gepreßte Stimme flüsterte:

»Liselotte, mir macht meine Zensur und der erste Platz gar keine Freude mehr, weil du heruntergekommen bist, ich wollte, es wäre alles beim alten geblieben.«

Liselotte ließ die Hände sinken und schaute in Suses mitleidige Augen. Aber sie wollte sich nicht von Suse Bertram herumkriegen lassen – nein, die konnte viel reden, die freute sich ja doch, daß sie, die stets auf sie herabgesehen, jetzt so weit unter ihr saß – Liselotte dachte sich mit aller Gewalt in eine Feindseligkeit gegen Suse hinein.

Auch Hanni und die übrigen Freundinnen sahen voll Mitleid auf die weinende Liselotte, denn diese war ihres lustigen, lebhaften Wesens wegen allgemein beliebt.

»Zu Weihnachten kommst du wieder rauf,« tröstete Hanni – und »ich werde dich das nächstemal schon wieder runterkriegen!« prophezeite Amtmanns Lenchen der gar nicht mehr so freudig in die Welt blickenden Suse.

»Vergnügte Ferien – nächsten Sonnabend ist Kränzchen – auf Wiedersehen – Lilo, weine doch nicht so, sonst weiß die ganze Stadt gleich, daß du eine schlechte Zensur bekommen hast,« Hanni und Anni, die in der fünften Klasse Erste geworden, nahmen Liselotte in die Mitte.

Das Baumeistertöchterlein ging heute recht langsam durch den großen Garten dem elterlichen Hause zu. Mutter stand im Erker und sah sie mit verquollenen Augen ankommen – da wußte sie, was die Glocke geschlagen hatte.

»Fünf Plätze bin ich heruntergekommen – aber es ist so ungerecht – Suse Bertram wird immer vorgezogen – solche Ruppigkeit –« Liselotte reichte mit abgewandtem Gesicht ihr Zeugnis hin.

Nun gab's gleich ein Donnerwetter, am Ende schlug's gar ein!

Aber Mutter sagte kein Wort, nur furchtbar traurig sah sie aus. Das konnte Liselotte nicht sehen.

»Muttchen, liebste Muttel, sieh nicht so aus, lieber gib mir eine Ohrfeige –« bettelte das Töchterchen, das sonst gar nicht so empfänglich für Ohrfeigen war. »Ich will mich ja auch ganz gewiß bessern, paß auf, zu Weihnachten bin ich wieder auf meinem Platz,« setzte sie hinzu, als die Mutter noch immer schwieg.

»Das hast du mir schon oft versprochen, aber wie du zu Hause bist, so bist du auch in der Schule, die Zensur ist durchaus gerecht – – –«

»Und wenn se uns immer so srecklis verwippst, denn muß se auch 'ne sleste Stensur triegen, niß, Muttel?« Kurtchen ließ den Büfetttritt, auf dem er umhergeritten, stehen und stellte sich breitspurig vor die große Schwester.

Die schien nicht übel Lust zu haben, ihre Empörung an dem kleinen Frechdachs auszulassen, aber ein mahnender Blick von Mutter hielt sie in Schranken.

So sagte sie nur pflichtschuldigst: »Du Großmaul!« und nahm dann ihre unterbrochene Tätigkeit, ihr Taschentuch zu befeuchten, wieder von vorne auf.

»Mutti – was ist besser, ›störte häufig den Unterricht‹ oder ›zu Störungen geneigt‹?« der hellbraune Lockenkopf von Heinz tauchte vom Garten her am Erkerfenster auf. Gleich darauf erschien auch seine dralle, kleine Person im Fensterrahmen, und mit einem Satz sprang er zu dem im Hochparterre gelegenen Speisezimmer hinein. Mutter hatte Mühe, ein Lächeln zu verbergen.

»Junge, du hast doch nicht etwa schon wieder eine schlechte Zensur im Betragen?«

»›Zu Störungen geneigt‹ – ist das schlecht, Muttel? Norbert sagt, es wäre apart, und voriges Mal hatte ich ›störte häufig den Unterricht‹ – das ist doch viel schlechter, gelt?« Der Kleine sah die Mutter treuherzig mit seinen großen Braunaugen an.

Mutti verbarg das Gesicht hinter dem Zeugnis des kleinen Abc-Schützen.

»Aber Heinz, was sehe ich denn hier, im Rechnen noch nicht genügend – da hast du doch sicher wieder andere Dinge im Kopf gehabt – – –«

»Nee, Muttel, aber Herr Niemann meint, ich sei ein wahrer Rechengenius –«

»Rechengenie«, verbesserte Liselotte hinter ihrem Schnupftuch hervor.

»Rechengenie«, wiederholte der Kleine, »ich sei sonst ganz furchtbar lentiert, nur für Rechnen habe ich zufällig kein Talent, pensiere mich doch vom Rechnen, wenn ich den Pudel nicht haben kann – ja, Muttel – Hauptmanns Fritz ist auch vom Zeichnen pensiert – kann man sich nicht überhaupt von allen Stunden pensieren lassen?« Heinzens Fleiß berechtigte zu den schönsten Hoffnungen.

»Na, frag' mal Vater, ob er dich von allen Schulstunden dispensieren will, da kommt er gerade durch den Garten, und mit ihm Norbert – na, Gott sei Dank, doch einer, der ein vergnügtes Gesicht macht!«

Norbert schwenkte seine rote Gymnasiastenmütze schon von weitem. Während Liselotte heimlich erbittert feststellte, daß sie selbst zu Hause ungerecht behandelt werde – Heinz hatte viel weniger Schelte bekommen als sie! Daß Heinz noch ein kleiner Kerl war, der den Ernst der Schule kaum begriff, daran dachte Liselotte nicht.

»Hurra – Primus geworden!« Norbert stolperte zur Tür herein. »Aber eigentlich nur, weil Wegener so lange gefehlt hat – mächtiges Schwein habe ich gehabt!« setzte er ehrlich hinzu.

»Norbert, wie flegelhaft –« rügte die Mutter, trotzdem ihr der Stolz über ihren Ältesten aus den Augen strahlte. Sie strich ihm über das kurzgeschorene blonde Haar. »Brav, Norbert, doch wenigstens einer, der uns Freude macht!« nickte sie dem eintretenden Vater zu.

»Na, was haben denn unsere anderen Rangen für Zensuren bekommen, auch Erste geworden, Lilo – o weh, wohl von unten – hu, drei Tage Regenwetter – komm her, fünfter Junge, und erzähle, was du wieder ausgefressen hast!«

Liselotte sprang Väterchen aufs Knie. Das war der allerbeste Platz in der ganzen großen Welt. Da wurde einem das Herz immer wieder leicht, und wenn es vorher auch noch so schwer gewesen.

»Vatel – es ist so ungerecht – – –«

»Selbstverständlich, wann wäre dir jemals Recht geschehen, aber was denn eigentlich?«

»Soweit runter bin ich gekommen, und Suse Bertram Erste, denk doch nur, die Bertram-Suse –«

»Suse verdient den ersten Platz sicherlich, sie ist ein liebes, fleißiges Kind, aber deshalb brauchst du doch nicht solche Tränenüberschwemmung zu machen, wirst schon wieder heraufkommen, Kleines,« Vater trocknete seinem Mädel das nasse Gesichtchen.

»Und ›im ganzen befriedigend‹ habe ich auch bloß im Betragen,« noch einmal brach Liselottes ganzer Schmerz hervor.

»Im ganzen befriedigend – das ist doch nicht schlecht, dann hat doch dein Betragen immerhin noch befriedigt – hätte ich dir noch gar nicht mal zugetraut, Wildfang, hier zu Hause kriegt sie noch nicht mal ›im ganzen befriedigend‹, was, Mutter?« Der Baumeister sah jetzt erst, daß seine Frau ihm schon eine ganze Weile mit den Augen zuwinkte und jetzt lächelnd den Kopf schüttelte.

Richtig – er sollte ja streng sein, das hatte er doch wieder rein vergessen. Aber sei einer mal streng, wenn ihm solch eine Krabbe am Halse hängt!

»Also bessere dich, Strick,« der Vater gab seinem Liebling einen aufmunternden Klaps und ließ sie vom Schoß herunter.

Heinz, der sich durchaus von der Schule »pensieren« lassen wollte, kam jetzt an die Reihe.

Endlich lagen die Zensuren, die solchen Aufruhr verursacht, harmlos und friedlich wieder in ihren Mappen, und man saß bei der Suppe.

»Mir tut nur Norbert leid,« begann da die Mutter plötzlich.

»Wieso?« aus drei Mündern erscholl es zu gleicher Zeit.

»Du weißt doch, wegen Großmamas Brief,« meinte die Mutter zum Vater hin und holte ein knisterndes Kuvert aus der Tasche.

»Ach so,« Vater zog die Augenbrauen hoch.

»Was steht denn drin?« erkundigte sich Fräulein Neugier schon wieder ziemlich getröstet.

»Es steht drin, daß die Großeltern Norbert und dich für die Oktoberferien nach Berlin einladen, wir sollen euch hinschicken – aber nach deiner heutigen Zensur kann natürlich gar keine Rede davon sein.«

Liselotte saß starr. Den Mund, in den sie gerade einen Löffel Suppe schieben wollte, weit aufgerissen. War das nicht wie die Fata Morgana, von der Fräulein Rau neulich erzählte, die dem Wanderer in der Wüste plötzlich in herrlicher Schönheit erscheint, und wenn er sie greifen will, wieder spurlos verschwindet?

»Mutti – ach Muttel – – –« begann sie.

»Quäl mich nicht, Kind, denn das siehst du doch wohl selbst ein, daß du nicht noch eine Belohnung obendrein für deine Zensur verdient hast.«

»Vatchen, lieber, einziger Vatel – – –« das Schmeichelkätzchen wußte, an wen es sich wenden mußte.

Vater räusperte sich.

Aber Mutter meinte: »Es nützt dir auch diesmal beim Vater nichts, Liselotte, Strafe muß sein, vielleicht zu Weihnachten, wenn du dich bis dahin gebessert.«

»Das ist noch eine Ewigkeit!« Liselottes Tränen flossen in die Kartoffelsuppe.

»Ich kann doch nichts dafür, wenn sie runterkommt, ich bin doch Primus geworden,« brummte jetzt auch Norbert.

»Was meinst du, Vater, können wir den Jungen allein nach Berlin fahren lassen?«

Aber ehe sich der Vater noch dazu äußern konnte, hatte sich Heinz bereits der Angelegenheit bemächtigt.

»Ich kann ja mitreisen, denn is er nich so allein,« schlug er freundschaftlichst vor.

»Du – ›zu Störungen geneigt‹ – du hast doch wohl auch keine Ferienreise verdient,« drohte Mutter.

»Er will mit zu Omama fahren, er tann ßon danz herleine fahren, er hat dehaupt teine fleste Stensur dekrist,« begann nun auch der Weinerich zu mauzen.

»Na und du, Edchen, wie ist's mit dir?« lachte jetzt der Vater aus vollem Halse.

»Nein – will niß,« der Neinerich löffelte gemütlich seine Suppe weiter, wobei er den größten Teil auf das untergelegte Wachstuch verschwapste.

»Warum soll ich denn bloß nicht allein reisen?« begann Norbert von neuem, in seinem Gymnasiastenstolz gekränkt, während Liselotte und der Weinerich sich, wenn auch nur pianissimo, zu einem kleinen Heulduett vereinigten. »Ich bin Tertianer – Großstädter – geborener Berliner – da werde ich doch wohl solche lumpige kleine Reise selbst unternehmen können.«

Vater und Mutter lachten. Bei jeder Gelegenheit prahlte Norbert damit, daß er Großstädter sei, denn er war gerade vier Wochen alt gewesen, als der Vater damals von Berlin nach der Rheinprovinz versetzt wurde. Baumeisters Rangen hatten jeder in einer anderen Provinz Preußens die Welt beglückt. Wenn man den Vater fragte, wo er schon überall beruflich gewesen sei, dann ließ er seine »fünf Jungs« antreten und ihre Geburtsorte hersagen.

»Ja, Vater – einen geborenen Großstädter, den kann man wohl schon als selbständigen Reiseonkel in die Welt schicken, dann will ich nur deine Siebensachen zusammenpacken, Norbert, morgen früh kannst du dein Ranzel schnüren!« sagte die Mutter lächelnd.

»Hurra – Hurra – Hurra!« Norbert nahm das strampelnde Kurtchen auf den Arm und tanzte vor Freude mit ihm um den Tisch herum.

»Und unser Kiekindiewelt?« der gute Vater blickte mitleidig auf das schluchzende Töchterchen.

»Für diesmal hat sie's verwirkt,« die Mutter verließ das Zimmer, um den kleinen Handkoffer hervorzuholen.

Vater wurde von den drei Kleinen nach dem Hühnerhof gezogen, um die süßen kleinen »Puttel«, die am Vormittag erst aus dem Ei gekrochen, pflichtschuldigst zu bewillkommnen und zu bewundern.

Norbert stand am Fenster und starrte auf das blutrote Weinlaub, das die ganze Villa umrankte. Wie kam es nur, daß seine unbändige Freude mit einemmal so jäh erloschen? Er blinzelte zu dem Schwesterchen hin. Es war ein schwerer Kampf, der in dem dreizehnjährigen Jungenherzen tobte. Plötzlich schluchzte Liselotte besonders herzbrechend auf. Da war er mit drei Schritten neben ihr und packte sie beim Schopf.

»Heiliges Kanonenrohr – ich bleibe auch hier, ohne dich macht's mir gar keinen Spaß – Lilo, heule doch bloß nicht wie ein Schloßhund, wir fahren Weihnachten zusammen!« Ehe Liselotte dagegen Einsprache erheben konnte, lief der gute Bruder schon aus der Tür, um der Mutter seinen Entschluß mitzuteilen.

Aber auch Liselotte hatte inzwischen eingesehen, daß es schlecht von ihr war, Norbert durch ihren Jammer die Freude an seiner Reise zu nehmen. Energisch trocknete sie ihre Augen.

»Ich nehme dein Opfer nicht an,« sagte sie, als Norbert mit pfiffigen Augen, gefolgt von der Mutter, wieder ins Zimmer trat. »Ich habe es ja auch schließlich verdient, zu Hause zu bleiben!« Ihre Stimme wollte ihr nicht so recht gehorchen.

»Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung!« lachte Norbert, der auf einmal wieder ganz fidel war.

»Norbert hat für dich gebeten, Liselotte, und lediglich weil er selbst auf die Reise verzichten wollte, habe ich seinen Bitten nachgegeben. Aber ich erwarte von dir, daß du meinem Vertrauen entsprichst und dich im nächsten Schulvierteljahr der Ferienreise würdig zeigen wirst,« sagte die Mutter mahnend.

»Was – ich kumm mitte?« Liselotte faßte es noch gar nicht.

»Ja – aber sprich in Berlin nicht so schlesisch – du kannst dein Matrosenkleid unterwegs anziehen,« überlegte Muttchen bereits.

»Hurra – hurra – hurra –« johlte jetzt auch Liselotte wie Norbert vorhin. In wildem Indianertanz wirbelten sie nun alle beide um den Tisch herum.

»Ist es nicht doch am Ende besser, einen Bruder statt einer Schwester zu haben?« darüber hätte Liselotte sicherlich den ganzen Tag nachgegrübelt, wenn sie nur einen Augenblick Zeit dazu gehabt hätte.

Aber was gab es heute alles noch zu tun!

Als allerwichtigstes hatte Liselotte ihr Käthchen reisefertig gemacht, aber als der Puppenkoffer bereits gepackt stand, protestierte Norbert gegen die Mitnahme des armen Puppenkindes.

»Wenn man ganz allein reist, paßt es sich nicht, solch kindischen Firlefanz mitzuschleppen!« Liselotte war ihm heute so dankbar, daß Käthchen ohne jede Widerrede zu Hause blieb.

Mutter hatte eigentlich den ganzen Nachmittag damit zu tun, all den Unfug, den das Töchterchen als unerläßlich für den Berliner Aufenthalt anschleppte, wieder aus dem Koffer herauszuholen.

»Was willst du denn in Berlin mit der großen Gießkanne, da ist doch kein Garten, willst du die Straßen sprengen – und hier der Laubfrosch – um Himmels willen – das arme Tier erstickt ja unterwegs – Kinder, aber die Schlittschuhe braucht ihr doch jetzt im Oktober noch nicht, es ist ja noch Sommer draußen!«

»Ja, aber Berlin liegt halt nördlicher,« wagte Liselotte ganz bescheidentlich zu äußern.

»Aber doch nicht am Nordpol,« Mutter war ordentlich froh, als Liselotte sich aufmachte, um ihren Kränzchenschwestern noch schnell Lebewohl zu sagen.

Wie die staunten!

Rosenelfchen hatte es mal gut!

Es gab hundert Versprechungen, sich täglich zu schreiben, und tausend Abschiedsküsse.

An Suse Bertrams Haus aber lief Liselotte, so schnell sie konnte, vorbei, die wollte sie nicht sprechen.

Und dann hatten Baumeisters ihre beiden Ältesten endlich am andern Morgen glücklich in einem Abteil untergebracht. Unternehmungslustig blitzten die Augen der kleinen Reisenden.

»Grüßt die Großeltern, vertragt euch – seid bloß vorsichtig – geht nicht an die Tür –« bis zum Abgang des Zuges gab es gute Ermahnungen.

»Wenn uns was passiert, ziehe ich einfach die Notbremse –« Liselotte sah sich bereits danach um.

»Unterstehe dich – du bleibst noch hier –« da pfiff zum Glück der Zug, und Baumeisters Rangen fuhren freudestrahlend in die weite Welt hinein.

* * *


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