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9. Kapitel. In Rübezahls Winterreich.

Lustig schüttelte Frau Holle ihre Flockenfedern über das Riesengebirge aus. Es war echtes, rechtes Weihnachtswetter. Jeder Baum, jeder Strauch, ja auch das kleinste Zweiglein trug ein schneeweißes Feiertagskleid. Die hohen Berge hatten schlohweiße Allongeperrücken aufgesetzt, und die Häuslein im Schreiberhauer Tal trugen jedes eine dicke schneeige Pelzkappe.

Ein übermütiges Völkchen war es, das sich da im lustigen Flockengewirbel in Herrn Rübezahls Winterreich tummelte. Jauchzende Stimmen, helles Lachen und jubelnde Juchhurufe durchschnitten die klare, reine Bergluft.

Hier brausten die kleinen Rodelschlitten mit ihren rotbackigen und rotnasigen Insassen zu Tale, dort purzelten lachende Skiläufer und -läuferinnen auf den langen, spitzen Holzschuhen in den tiefen Schnee. Dazwischen erklangen fröhliche Kampfrufe bei ausgelassener Schneeballschlacht, und die Schlitten ließen ihre Glocken unternehmungslustig erschallen.

In dem warm durchheizten Lesezimmer des großen Hotels standen drei Kinder und hauchten voll Staunen Löcher in das schlanke Eispalmenmuster der hohen Fensterscheiben.

»Ist das schön – ist das märchenhast schön,« sagte die Blonde leise und schaute andächtig in die Zauberwelt des Winters hinaus.

»Ein famoser Jux – hurra, das sollen mal feine Tage werden!« Die Braune rief es mit blitzenden Augen.

»Heiliges Kanonenrohr – was stehen wir denn hier noch wie die Ölgötzen, anstatt uns gleich ins Kampfgetümmel zu stürzen, komm, Kleinchen,« der um einen Kopf größere Knabe gab seiner braunlockigen Nachbarin einen auffordernden Stoß mit dem Ellenbogen.

» En avant, Riese Goliath, an die Arbeit, Blauveilchen, jede Minute ist kostbar,« die Schwester war heute ungewöhnlich friedfertig.

Es bedarf wohl nicht erst einer Vorstellung, jeder hat sicher Baumeisters älteste Rangen und Suse Bertram in den jungen Herrschaften erkannt.

Wie der Wind wollten die drei durch das Lesezimmer ins Vestibül eilen. Aber Vater, der in einem ledernen Klubsessel seine Zeitung studierte, packte die vorüberrasende Liselotte beim Rattenschwänzchen.

»Nicht so hitzig, fünfter Junge, was meinst du wohl, wozu ich dich mitgenommen habe – bloß um zu rodeln und zu schneeballen – fehlgeschossen, erst hast du Hausfrauen- und Mutterpflichten an mir und Norbert zu üben. Droben stehen unsere Koffer noch unausgepackt, wollen sich die jungen Damen nicht ihrer erbarmen? Norbert mag inzwischen mit mir einen Spaziergang zur Josephinenhütte machen, denn wenn der euch da oben auf der Pelle sitzt, kommt nichts weiter als Unfug heraus.«

Des Töchterchens hübsches, lachendes Gesicht wurde mit einemmal ganz brummig. Was – sie sollte hier im Zimmer hocken, anstatt sich draußen in der herrlichen Schneelandschaft zu tummeln, sie sollte hier Hausfrauenpflichten üben – na, dazu war sie doch wahrhaftig nicht mitgereist!

Suse schien die unzufriedenen Gedanken, die der Freundin ganz deutlich auf die Stirn geschrieben waren, gar nicht zu bemerken.

»Komm, Lilo,« sie schlang zärtlich den Arm um die Schulter der Freundin, »wie nett, daß wir auch einmal etwas für deinen lieben Vater tun dürfen und ihm ein klein wenig unsere Dankbarkeit für die wunderschöne Reise beweisen können!«

Liselotte machte ein ziemlich verdutztes Gesicht dazu. So hatte sie die Sache wahrlich nicht aufgefaßt! Da stand auch schon wieder der eklige Norbert, der sein Schwesterchen in- und auswendig kannte, mit seinem krummgezogenen Buckel und nickte ihr unaufhörlich vorwurfsvoll zu. Wenn der alte, vornehme Herr nicht neben ihnen gesessen, dann hätte der Neckpeter jetzt ganz sicher eine schwesterliche Backpfeife fortgehabt. Aber vorläufig benahm sich Liselotte noch zahm und trat ihm nur im Vorübergehen erbost auf sein Hühnerauge.

Warum hatte sie sich nun eigentlich bloß geärgert, daß sie auspacken sollte? Liselotte wußte es nach fünf Minuten selbst nicht mehr. Es ging ja so lustig dabei zu, die beiden Mädelchen kicherten so herzlich bei ihrer Arbeit, daß eine nebenan wohnende Dame sie die beiden Lachtäubchen taufte.

Sie hatten aber auch allen Grund zum Lachen. Wenigstens Suse! Denn Liselotte stellte sich so unglaublich ungeschickt und ungewandt bei dem neuen Amt an, daß Suse, die ihrer Mutter schon lange in allem zur Seite war, aus dem Lachen nicht herauskam.

»Aber Lilo – die Morgenschuhe doch nicht auf das Fensterbrett, die gehören doch in den Nachttisch – nein, so ein Mädel, da baut sie Pfefferkuchen und Marzipan neben Kamm und Zahnbürste auf, das ist doch eklig – und deine schöne weiße Sportmütze doch nicht zu den Stiefeln – Herrgott, bist du noch dumm, meine kleine Lilo!«

»Oho – Respekt, ich bin zwei Monate älter als du, Knirps,« meinte Liselotte keine Spur empfindlich, »warte, wenn du dich über solch eine alte, würdige Dame, wie ich es im Vergleich zu dir, Kiekindiewelt, bin, lustig machen wirst!« Die alte, würdige Dame faßte den Kiekindiewelt rund um die Taille und wirbelte mit ihm zwischen Gummischuhen, Wäsche, Regenschirmen und Pelzsachen jauchzend im Zimmer umher, denn Suse wußte nichts mehr von einem kranken Fuß.

»Na, ihr seid mir ja zwei nette Hausfrauen, hast du die Mutter vielleicht schon mal beim Auspacken im Zimmer herumspringen sehen,« lachend stand der Vater mit Norbert in der Tür.

Suse wurde rot und genierte sich ein wenig. Liselotte aber flog dem Vater wie ein Federball um den Hals.

»Gottvoll war's – haben wir gelacht – ihr habt euch sicher nicht so fein in der Josephinenhütte amüsiert, und dabei haben wir alles ganz schrecklich ordentlich gemacht!«

»Mehr schrecklich als ordentlich« – Norbert wies spöttisch auf das lustige Durcheinander auf dem Fußboden.

»Mach' dir's doch selber«, Zankteufelchen wurde gleich wieder patzig und schleuderte Norbert geschickt einen seiner Morgenschuhe gegen den blonden Schädel.

»Du, es setzt Katzenköpfe!« drohte der Bruder.

»Jetzt kommt aber die Belohnung für euren Fleiß,« zum Glück für die Erhaltung des europäischen Friedens mischte sich Vater ins Gespräch.

»Was denn – bitte, was denn, Vatel?« Liselotte brannte vor Neugier.

»Erst fertig einkramen und dann warm vermummen, daß sich keins erkältet,« im Nu wurde Vaters Anordnung Folge geleistet.

Und dann ging es hinunter. Unten vor der Tür standen kleine Rodelschlitten, hellgelb – mit einem Jubellaut saß Liselotte auch schon auf dem einen.

»Sind das unsere, Vaterchen, sollen wir die haben – au fein!« sie wollte gleich losfahren.

Aber Vater, der schon öfters den Herrn Rübezahl zur Winterszeit in seinem Reich aufgesucht hatte, hielt es doch für ersprießlich, den Kindern erst einige Anweisungen, wie mit den Absätzen zu steuern, wie zu bremsen usw., zu geben, »denn wir haben an einem Beinbruch genug, nicht wahr, Suse?«

»Ach, wir sind ja schon so oft mit unserem kleinen Kinderschlitten den Eierberg zu Hause herabgegondelt – wir kennen den Rummel aus dem Effeff, was, Norbert?« Liselotte kletterte allen voran den Schneeabhang hinauf und zog ihren kleinen Schlitten hinter sich her.

Suse aber kannte den Rummel nicht aus dem Effeff. Die sah mit recht bänglichen Augen den sanft geneigten Abhang hinunter.

»Juchhu« – da flog die Liselotte schon an ihr vorbei jubelnd zu Tale.

»Holdrio–o–o,« da folgte auch Norbert seinem mutigen Schwesterchen.

»Na, Suse, nun kommst du dran,« meinte der Herr Baumeister, der als letzter den Beschluß machen wollte, freundlich.

»Ich – ach, ich mag nicht – ich glaube, es ist für meinen Fuß nicht gut, Doktor Peters meinte, ich dürfte ihm noch nicht allzu viel zumuten,« Suse wurde ganz rot, denn flunkern tat sie für gewöhnlich nicht.

»Nun, Kind, wenn es dir keine Freude macht, dann läßt du es eben, es soll ein jeder vollen Genuß von seiner Reise haben. Komm, koppele deinen Schlitten an den meinen und lauf' so hinab,« Suse tat erlöst, wie ihr geheißen.

»Hach, so 'ne Memme!« empfing Rosenelfchen ihr Blauveilchen unten.

Suse errötete bis zu dem blonden Seidenhaar.

Aber Norbert schwang sich, trotzdem er in den Flegeljahren war, zu ihrem Kavalier auf.

»Schäme dich, Lilo, es braucht doch nicht jedes Mädel so jungenhaft zu sein wie du – bist mir ja eine nette Freundin!«

Jetzt war die Reihe, rot zu werden, an Liselotte.

»Ich bin ein Greuel, Suse, sei mir nicht böse,« bat sie. Suse reichte ihr schon wieder versöhnt die Hand.

Von nun an machte Liselottes Vater, wenn seine zwei Rangen sich auf der Rodelbahn oder beim Skilaufen austobten, mit Suse Bertram und einem bekannten Ehepaar weite Spaziergänge in die wunderbare Winterwelt. Dabei lernte er den ganzen Gefühlsreichtum des kleinen Mädchens kennen, und er war glücklich, eine solche Freundin für sein Töchterchen zu haben.

Aber beim Schneeballen da durfte auch Suse nicht fehlen, und es war wirklich rührend anzusehen, wie Norbert bestrebt war, seine festen Jungsbälle möglichst sanft an Suses Kopf und Näschen gelangen zu lassen.

Liselotte dagegen wurde »feste« bombardiert.

»Au nich doch – nich so doll, du oller Grobian, warte – das wird aber gerächt,« und hui – flog ein mächtiger Schneeball, von Liselottes Hand kunstvoll geschleudert, dem Bruder gegen die Nase. Die begann natürlich sofort zu bluten, und Norbert mörderisch zu schimpfen, aber das tat dem Vergnügen keinen Abbruch.

Liselottes Schneebälle, die »saßen«, wie der fachmännische Ausdruck der Tertianer lautete, wo die hinschlugen, da wuchs kein Gras mehr.

Zu dieser traurigen Erkenntnis sollte auch ein Herr kommen, ein junger Student, der gerade mit einem Freunde den Kampfplatz durchquerte. Liselotte hatte ihr Lebtag nicht danach gesehen, ob sie irgendwelchen Schaden anrichtete, und nun gar im Kugelregen! So geschah es, daß der auf Norbert gezielte Schneekloß eine unbeabsichtigte Bahn nahm und dem nichtsahnenden Musensohn fast ein paar Backenzähne einschlug.

»Potzelement, seht euch doch vor!« räsonierte der junge Herr und hielt sich seine Backe.

Liselotte kicherte wie ein Kobold in ihre Muffe hinein, während Suse sie entsetzt anstarrte.

»Du mußt dich entschuldigen – schnell – lauf hinterher – oder tu's heute mittag bei der Table d'hôte, der Herr wohnt in unserm Hotel.«

»Piepmatz – fällt mir nicht im Traume ein – so 'n junger Knopp, hat ja kaum 'nen Schnurrbart, gegen den bin ich ja ne Dame!« Liselotte reckte ihr kleines Figürchen gewaltig.

»Was bist du, eine Dame – hahaha – kapitaler Witz – ein Quack bist du, ein ganz kleines Jör, das sich eben höchst ungezogen benommen hat,« fiel Norbert herausfordernd ein.

Das ließ sich Liselotte nicht gefallen. Das Zankteufelchen sprühte ihr aus den Augen.

»Und du – du bist ein Großmogul – dämlicher Bengel« – sie ergriff in Ermangelung von Kurtchens Kinderstühlchen, der zu Hause stets für Kriegszwecke benutzt wurde, den ersten besten Rodelschlitten und ging damit auf den sie durch Fratzenschneiden immer noch mehr reizenden Bruder los.

»Aber Lilo – pfui, Lilo!« Vergebens versuchte Suse die Freundin zurückzuhalten.

Erst als hinter ihr eine tiefe Stimme erschallte: »Was ist denn das hier für ein Spektakel, schämt ihr euch gar nicht, den andächtigen Frieden der Winternatur so zu stören,« ließ das aufgebrachte Mädchen ihre merkwürdige Waffe sinken und sah sich ein wenig erschreckt um.

Aber ihre Blauaugen wurden größer und größer – war das der Herr Rübezahl? Gerade so, wie er in ihrem Märchenbuche abgebildet, wie er hier allenthalben in den Verkaufsbuden auf Kästen und Pfeifen anzuschauen, stand er da. In seinem langen, weißen Bart hingen Eiszapfen.

»Der Herr Rübezahl duldet keine lärmenden Kinder in seinem Reich!« damit schritt der Alte in den silbernen Bergwald.

Mit weitaufgerissenem Munde starrte Liselotte hinter ihm drein.

»Das war er – das war er bestimmt!« flüsterte das sonst so kecke Mädel ganz eingeschüchtert.

»Wer denn – wer?« fragte Suse erstaunt.

»Er – der Herr Rübezahl selber – hast du nicht seine buschigen Augenbrauen gesehen und den langen Eisbart – und er hat es ja selbst gesagt, der Herr Rübezahl duldet so etwas nicht – – –« das wilde Kind blickte immer noch scheu über das Schneefeld zum Walde hin.

»Ach, Lilo, du bist ja verdreht – – –«

»Nein, sie ist gar nicht verdreht,« fiel jetzt Norbert ein, der es für ersprießlich erachtete, ein Schreckgespenst für seine kampflustige Schwester, die sich sonst nicht vor Tod und Teufel fürchtete, bei der Hand zu haben. »Sicher war das der Herr des Riesengebirges, und wenn du noch mal so unverschämt bist, dann verwandelt er dich einfach in eine Gans – wird ihm übrigens nicht allzu schwer werden, die Verwandlung,« setzte er schon wieder nörgelnd hinzu.

Aber Liselotte stand noch unter dem Eindruck der Erscheinung des Riesengebirgsgeistes. Sie hatte ein phantastisches Köpfchen, und wenn sie als Schülerin der vierten Klasse auch nicht mehr an Verwandlungen glaubte, daß Rübezahl hier in den Bergen hauste, das stand doch bombenfest. Sie blieb merkwürdig nachdenklich und bescheiden.

Auch mittags bei der Table d'hôte wirkte der Herr Rübezahl noch so weit auf sie ein, daß sie den Vorstellungen Suses nachgab und sich herabließ, sich bei dem jungen Herrn, der mit einer blauen Backe zur Table d'hôte erschien, zu entschuldigen.

»Aber was sage ich denn bloß – liebste, beste Suse, was soll ich denn bloß sagen?« Abbitten war für den kleinen Trotzkopf immer etwas Mißliches, und einem Fremden gegenüber noch viel peinlicher. Liselotte, die sonst stets den Mund auf dem richtigen Flecke hatte, tat auf einmal ganz kleinlaut.

»Du sagst einfach: entschuldigen Sie, bitte, aber ich habe es nicht gern getan,« Suse schob die Freundin unauffällig zu jener Ecke.

Nun stand die Liselotte vor dem blaubäckigen Herrn.

»Entschuldigen Sie, bitte – aber – aber es war zu komisch, wie mein Schneeball Sie traf,« drehte sie plötzlich Suses Worte um.

Die Herren blickten belustigt auf die hübsche Kleine.

»Ein Gruß von einer jungen Dame freut mich immer, selbst wenn er ein wenig schmerzhaft ist,« sagte der junge Herr galant.

Liselottes Gesicht verklärte sich.

Eine junge Dame war sie, trotzdem sie um Entschuldigung gebeten hatte – das mußte sie sofort Norbert unter die Nase reiben.

Sie stürmte recht wenig damenhaft im Hopsaschritt davon.

Die Bekanntschaft mit den beiden Studenten, die einen so feindseligen Anfang gehabt, entwickelte sich nun aufs freundschaftlichste. Die beiden fanden an den niedlichen Mädelchen und dem aufgeweckten Jungen Gefallen, und da auch sie dem Herrn Baumeister sympathisch waren, unternahm man manch gemeinsamen Ausflug miteinander.

Zum Zackenfall stiegen sie empor, der donnernd zur Tiefe stürzt, der in Milliarden und aber Milliarden von Wassertropfen zerstäubt, und den auch der grimmste Winter nicht in Eisesfessel zu schlagen vermag.

Suse stockte der Atem vor dieser Allgewalt der Natur, sie preßte sich fest an Liselottes Seite. Die aber fühlte sich durchaus nicht überwältigt, sie redete unaufhörlich – »wie ein Wasserfall«, sagte der Schneeballstudent.

Aber auch den Riesengebirgskamm erkletterten die kleinen Hochtouristen. Ausgerüstet wie zu einer richtigen Gletschertour mit Rucksack, Nagelschuhe und Bergstock, so stiegen sie zur Neuschlesischen Baude auf. Es war kein leichtes Stück Arbeit, denn der Schnee war hart gefroren – man rutschte – man kreischte – man purzelte – stand wieder auf. Solch kleine Extratour erhöhte das Vergnügen nur noch. Von der Baude ging es weiter über die weiten, unabsehbar weißen Schneefelder, die im Sonnenschein wie lauter Silber flimmerten.

»Wie tapfer unsere kleinen Damen marschieren,« meinten die Studenten anerkennend. Und Vater setzte hinzu: »Wenn meine Krabben sich beim Klettern so ausdauernd zeigen, nehme ich sie bald mal mit auf die Gletscher nach Tirol!«

Liselotte machte vor Freude einen Luftsprung, und im nächsten Augenblick lag sie mit der Nasenspitze im Schnee.

Aber als man endlich auf der Schneegrubenbaude anlangte, da fühlten die jungen Fräulein ihre Füßchen doch ganz gehörig, das kribbelte darin von der Kälte wie Selterwasser, und die Nasen leuchteten purpurn gleich Sonnenuntergang.

»Rosenelfchen hat eine Nase wie eine Rosenknospe,« ärgerte Norbert sein Schwesterchen.

»Und du hast eine wie 'ne Mohrrübe!« übertrumpfte ihn Liselotte.

»Wir sehen alle nicht viel besser aus,« lachte der Student, »aber seht mal den Alten dort drüben in der Ecke, an dessen Nase kann man ein Nordlicht anzünden!«

Die Kinder drehten, trotzdem es nicht gerade schicklich war, den Kopf.

»Rübezahl!« entfuhr es Liselotte jäh.

»Getroffen,« lachte der junge Mann, »der Herr des Gebirges in höchsteigener Person, nun heißt's aber schön brav sein!«

Ob der Berggeist Liselottes Ausruf gehört hatte, oder ob er die kleinen Raufbolde von neulich wiedererkannte, er drohte ihnen schmunzelnd mit seinem Krückstock und verließ die Baude.

Liselotte stürzte zum Fenster, da sah sie ihn in einem Nebelgewoge verschwinden. Nun war sie fest überzeugt davon, daß kein anderer als der Herr Rübezahl ihnen schon zweimal begegnet sei. Sie eilte zu dem Platz, auf dem er gesessen, ob die Tasse, aus der er getrunken, sich nicht in pures Gold verwandelt habe, wie es bei einem Berggeist so üblich – aber die Tasse war und blieb aus gang gemeinem Porzellan. Suses Scherzen gegenüber tat Liselotte allerdings, als ob sie über jeden Aberglauben erhaben sei, aber ganz im innersten Herzen sah es anders aus. Sie nahm sich fest vor, falls er ihr ein drittes Mal erscheinen sollte, sich aber bestimmt etwas Feines zu wünschen, denn man mußte die Gelegenheit dreist beim Schopfe packen, so stand es in ihrem Rübezahlbuch.

Der Abend wurde auf der Schneegrubenbaude zugebracht, denn am nächsten Tage sollte die Hochtour weiter zur Prinz-Heinrich-Baude gehen. Von dort aus beabsichtigte man dann per Hörnerschlitten über Agnetendorf ins Hotel zurückzukehren.

Es war der schönste Abend in Liselottes und Suses elfjährigem Leben. Zuerst wurden Gesellschaftsspiele arrangiert, und all die großen Leute, die auf der Baude übernachteten, spielten mit. Einfach gottvoll war's!

Und dann wurde getanzt. Ein Grammophon machte die Musik dazu, alles tanzte. Sogar die jüngsten Damen der Gesellschaft, Rosenelfchen und Blauveilchen, wurden von den Studenten aufgefordert. Sie waren nicht wenig stolz darauf, daß nicht nur Vater und Norbert, sondern auch fremde Herren mit ihnen tanzten. Es war doch gut, daß Liselottes Schneeball die Bekanntschaft vermittelt hatte.

Am nächsten Morgen aber, als die beiden Mädchen durch das Fenster ihres gemeinsamen Zimmerchens schauten, da sah es aus, als ob sie in das Land der Schneekönigin blickten. Die Silberflocken wirbelten im lustigen, wilden Tanze um die Baude, noch toller, als Liselotte und Suse am Abend vorher. Graue, gespenstische Wolken jagten als große, zerrissene Nebelfetzen über den Gebirgskamm, man mußte von einer Fortsetzung der Wanderung Abstand nehmen. Zum Glück standen Hörnerschlitten oben bereit, und wie der Wind sausten sie jetzt durch das dichte Flockengetriebe ins Schreiberhauer Tal hinab.

Suse hatte wahnsinnige Angst, sie umklammerte Liselottes Arm so fest, daß diese: »Au – kneif' mich doch nicht so!« losbrüllte.

Den Weg, zu dem sie viele Stunden beim Aufstieg gebraucht, brausten sie jetzt wie die wilde Jagd in wenigen Minuten hinab. Dagegen war die schönste Jahrmarktsrutschbahn bloß »madig«.

Wie die Schneemänner sahen sie aus, als sie endlich glücklich in ihrem Gasthaus anlangten.

Als der Schneefall nach einigen Stunden aufgehört hatte, glich der Platz vor dem Hotel einem großen Bildhaueratelier. Die Gäste hatten sich sämtlich in fröhliche Künstler verwandelt. Der frisch gefallene Schnee ließ sich wie Ton ballen und kneten und sah aus wie der weißeste karrarische Marmor. Bald entstanden allenthalben Statuen. Unter den drolligen Gebilden, aus denen die Phantasie ebensogut einen Elefanten wie eine Göttin herauslesen konnte, war auch manches von wirklich künstlerischem Wert. So erregte der aus Schnee geformte Skiläufer des Baumeisters Günther allgemeine Bewunderung.

Sein Töchterchen hatte das von Vater ererbte Talent in drastischer Weise benutzt. Ihr Rübezahl glich halb einem Eskimo, halb einem auf den Hinterbeinen schönmachenden Pudel.

Aber der Kopf mit dem langen Rübezahlbart und dem großen Schlapphut war unverkennbar.

Das fand wohl auch der alte Herr, der sich mit lustigem Gesicht hinter die kleine Künstlerin gestellt hatte und plötzlich mit einem »Also das kleine Fräulein versteht auch noch etwas anderes als nur zu raufen!« aus seiner Verborgenheit hervortrat.

Liselotte fuhr wie der Blitz herum.

Rübezahl – da war er selbst!

Aber dieses Mal wollte sie ihn nicht wieder so entwischen lassen, unbekümmert um die Umstehenden, rief sie mit erregter Stimme:

»Herr Rübezahl – ich wünsche mir einen neuen Federkasten mit der Schneekoppe und einen Federhalter mit Ansicht zum Durchgucken!«

Das waren augenblicklich ihre heißesten Wünsche.

Das allgemeine Gelächter, das sich rings erhob, machte das kecke Mädel verstummen. Irrte sie sich, oder hatte Rübezahl freundlich mit dem Kopf genickt? Ohne ein Wort zu sprechen, wandte er sich zum Gehen.

Liselotte blieb in begreiflicher Aufregung zurück. Suses Vorstellung, daß sie sich kindisch benommen habe, Norberts Neckereien, daß sie einen fremden Herrn angebettelt, und Vaters fröhlichem Lachen setzte sie erhabene Überlegenheit entgegen.

Aber am nächsten Tage lachte sie. Und wer zuletzt lacht, lacht am besten!

Da kam ein großes Paket an Fräulein Liselotte Günther. Und als sie dasselbe voll begreiflicher Neugier öffnete – und sogar den Bindfaden zerschnitt, damit es rascher ging, anstatt ihn aufzuknoten, was Mutter stets verlangte – da kamen drei prächtige Federkästen mit Schneekoppe und dem gewünschten Federhalter zutage. Dabei lag ein Zettel: »Für Liselotte und ihre beiden Gefährten von dem Berggeist Rübezahl.«

»Was sagt ihr nun?« Liselotte sah triumphierend von einem zum andern.

»Daß sich jemand mit dir einen Scherz gemacht hat!« sagte Norbert von oben herab, nahm aber freudig von dem ihm zugedachten Kasten Besitz.

Als die Weihnachtsferien längst vorüber waren, und die kleine Gesellschaft neugestärkt und erfrischt wieder daheim bei Muttern, da liebäugelte Liselotte in so mancher Schulstunde mit ihrem Schneekoppenfederkasten. Und sie träumte dabei von den herrlichen Tagen im Winterreich des Herrn Rübezahls.

War er es nun selbst – oder war er's nicht – Baumeisters Liselotte hat es nie erfahren.

* * *


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