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Es gab einen recht strengen, langen Winter diesmal in Schlesien. Die armen Leute stöhnten über die vielen teuren Kohlen, und die reichen ließen jeden Mittag einen Teller warmer Suppe mehr kochen, denn fast täglich stellte sich ein ausgehungerter und ausgefrorener Gast ein. Aber die Stadtjugend tummelte sich selig mit ihren blanken Schlittschuhen auf dem fest zugefrorenen Mühlenteich, dem die fahle Februarsonne nichts anhaben konnte. Und das Kränzchen blühte trotz Schnee und Eis.
Der Sonnabendnachmittag war der schönste Tag in der Woche, darin waren sich sämtliche Kränzchenblumen einig. Nicht nur, daß darauf der Sonntag mit seiner Schulfreiheit winkte, das Beisammensein der jungen Blümchen gestaltete sich auch von Mal zu Mal lustiger und anregender. Selbst den Müttern, die im Nebenzimmer den fröhlich lachenden Mädchenstimmen lauschten, erschien der Winter nicht mehr so grau und trostlos, denn der leibhaftige Frühling war ja nebenan eingekehrt.
Man las jetzt Maria Stuart mit verteilten Rollen, zwar reichlich früh, wie Frau Baumeister Günther meinte, denn ihre Lilo verstand sicher noch nicht den erhabenen Ernst der Dichtung. Aber da Liselotte gekränkt: »Bitte sehr, Muttel, ich habe am allermeisten dabei geheult,« geäußert hatte, mußte die Mutter die Waffen strecken. Ja – heulen taten sie alle sechs bei ihrer Lektüre, aber das Regenwetter hielt zum Glück nicht lange vor. Die geringste Kleinigkeit, ein falsch betontes Wort, genügte schon, um die Lachmuskeln zu entfesseln und im Augenblick Sonnenschein hervorzuzaubern.
Wenn nur das Verteilen der Rollen nicht gewesen wäre! Dabei setzte es meist Streit und Zank. Denn auch Kränzchenschwestern sind nicht immer verträglich.
Die Maria Stuart, die arme gefangene Königin, wollte jede gern lesen, aber Elisabeth, die so schlecht zu Maria war, mochte keiner sein. Besonders Glücksklee und Rosenelfchen, die beide etwas herrschsüchtig waren und einen harten Schädel hatten, gerieten häufig aneinander. Keine gönnte der andern die Rolle.
»Ich lese viel seelenvoller als du, folglich muß ich den Monolog sprechen,« spielte sich Hilde von Thielen auf.
»Du hast ja 'n Piepvögelchen, zieren tust du dich, und zwar eklig, daß man's gar nicht mit anhören kann, Fräulein Zierlappe, ich lese wenigstens natürlich,« widersprach Liselotte.
»Das lasse ich mir nicht gefallen, sie hat Zierlappe zu mir gesagt, das sage ich aber meiner Mama,« Glücksklee sprang empört auf.
»Kinder, seid doch bloß nicht so greulich zueinander, wir kommen doch zusammen, um fidel zu sein, und nicht, um miteinander zu zanken,« begütigte Glockenblume.
Vergißmeinnicht aber zog ihr Kassenbüchlein aus der Tasche und notierte: »Glücksklee und Rosenelfchen je fünf Pfennig für Zanken.« Es half nichts – jede mußte ihr Strafgeld entrichten. Danach war der Friede dann wieder geschlossen.
Die einzigen, die sich nie kabbelten, waren Rosenelfchen und Blauveilchen. Wenn Suse etwas sagte, nahm Liselotte Vernunft an, und wenn sie sich auch noch so sehr in eine Idee verrannt hatte. Abgesehen davon, daß sie die Freundin innig lieb hatte, konnte sie sich auch nicht von dem Gedanken frei machen, daß sie gegen Suse immer noch etwas gutzumachen habe.
Das Kränzchen hatte sich eine eigene »Kaschelbahn« im Schulgarten glatt geschliddert, auf ihr Eis durfte keine andere. Liselotte hatte von Vaters Bauten eine verwitterte Tafel ergattert, die hatte sie an dem kahlen Kastanienbaum daneben befestigt. Darauf stand: »Unbefugten ist der Eintritt streng verboten.«
Heute aber hatte das Kränzchen anderes im Sinn, als Maria Stuart und Kaschelbahn. In der französischen Grammatikstunde gingen kleine Papierrollen herum. Zettelchen waren es, auf denen stand: »Versammlung sämtlicher Kränzchenblumen in der Zehnuhrpause am Kastanienbaum.« Keine wußte, von wem die Zettelchen ausgingen, und was sie zu bedeuten hatten – alle brannten sie vor Neugier. Für die unregelmäßigen Verben hatte keine mehr auch nur die Spur Interesse, und es regnete Tadelstriche.
Als die alte, rostige Klingel zur Zwischenpause bimmelte, stürzte das Kränzchen zur angegebenen Stelle; Liselotte nahm sich nicht mal Zeit, ihr Cape umzubinden und wurde von der inspizierenden Lehrerin zu ihrem Ärger zurückgeschickt.
Endlich standen die Kränzchenblüten vollzählig um den beschneiten Kastanienbaum. In ihrer Mitte Amtmanns Lenchen, die überhaupt nicht zum Kränzchen gehörte und keine Gelegenheit unbenutzt ließ, um sich »anzumeiern«, wie es in der Kränzchensprache hieß. Sie machte ein höchst geheimnisvolles Gesicht.
»Nu sag' doch schon, was los ist, du willst dich bloß wichtig machen!« drängte Liselotte.
»Also heute ist Basarsitzung!« begann Lenchen großartig, nachdem sie sich noch ein Weilchen an den wißbegierigen Gesichtern geweidet hatte.
»Pah, na und – das wissen wir doch schon seit Adams Zeiten,« fielen die Blümelein enttäuscht ein.
»Ja, aber was dort beschlossen werden soll, davon habt ihr keine blasse Ahnung,« Lenchens Mutter war erste Vorstandsdame und leitete den alljährlichen Basar zum Besten des Armenhauses.
»Wahrscheinlich wieder solch mopsiger Kinderreigen wie im vorigen Jahre, wobei man sich die Beine ausrenken muß, gelt?« meinte Günthers Liselotte geringschätzig.
»Angeführt mit Löschpapier – etwas viel Feineres, eine Kindersinfonie soll der Herr Kapellmeister mit uns einstudieren und wir dürfen verkaufen helfen, vielleicht sogar in Kostümen, damit wir höheres Eintrittsgeld erheben können – ach, ich freue mich halbtot!«
Das Kränzchen war begeistert. Der alljährliche Basar bildete den Mittelpunkt der winterlichen Geselligkeit der kleinen Stadt; seit einigen Jahren wurden auch die Kinder der Vorstandsdamen dabei zugezogen.
In der darauffolgenden Geschichtsstunde war die Aufmerksamkeit eine recht geteilte. Das Kränzchen dachte entschieden mehr an Verkaufsbuden als an das Gotenreich.
»Geliebtes Hundeviechel, wir wollen beide ganz gleich angezogen gehen und in einer Bude verkaufen,« schrieb Liselotte auf ihr Löschblatt an Suse Bertram, während Herr Doktor Schwarz das glorreiche Ende der letzten Gotenkönige vor der Klasse entrollte.
Suse machte ein betrübtes Gesicht. Weniger wegen des Todes Totilas als wegen Liselottes Zeilen. Sie war bisher noch nie zu diesen Basarveranstaltungen hinzugezogen worden, da ihre Mutter nicht dem Komitee angehörte. Sie fühlte sich plötzlich ausgestoßen aus der fröhlichen Gemeinschaft der andern Blümchen. Von ihren Veilchenaugen löste sich unbewußt eine große Träne.
»Nun, Suse Bertram, wenn dir das traurige Schicksal der gotischen Helden so nahe geht, so sollst du uns noch einmal das Erzählte wiederholen,« sagte da Doktor Schwarz.
Suse, sonst stets eine aufmerksame Schülerin, hatte heute keinen Schimmer von der gestellten Aufgabe. Blutübergossen sah sie mit hilflosen Augen zum Katheder hin. Ihre Hand umklammerte wie einen Talisman Liselottes Löschblatt.
»Suse Bertram, hast du die Sprache verloren?« Doktor Schwarz war wegen seines Spotts gefürchtet.
»Nein – aber ich habe nicht aufgepaßt – entschuldigen Sie, bitte!« stieß Suse, wieder blaß geworden, heraus.
So 'ne Dämlichkeit – Liselotte hätte die Freundin wegen ihrer bornierten Aufrichtigkeit prügeln mögen – das sah doch Doktor Schwarz schon ganz allein, daß sie unaufmerksam gewesen, wie konnte man nur so grützdumm sein und ihn noch mit der Nase daraus stoßen!
»Das ist ja recht feierlich – nicht einmal solche erhebenden Heldentaten vermögen die Aufmerksamkeit der Klasse zu fesseln! Suse Bertram, darf ich fragen, wofür du dich mehr interessiert hast?«
Suse schwieg.
»Was hast du dort in der Hand?« examinierte Herr Doktor Schwarz, den die erste Klasse ob seiner guten Witterung heimlich den »Polizeihund« nannte, weiter.
Suse Bertram schwieg noch immer. Aber sie versuchte im Interesse der Freundin das verräterische Löschblatt zu einem roten Knäuel zusammenzuballen.
»Hergegeben,« erschallte da der kurze Befehl vom Katheder.
Mit schlotternden Knien, Liselotte einen Blick tiefster Verzweiflung zuwerfend, brachte Suse das belastende Blatt nach vorn.
»Geliebtes Hundeviechel –« las Doktor Schwarz stirnrunzelnd, während die Klasse hinter Taschentüchern, Heften und Zöpfen verstohlen kicherte.
»Das sind ja recht erfreuliche Sachen, mit denen man sich während der Geschichtsstunde beschäftigt, wer hat diesen Wisch geschrieben?«
Tiefe Stille in der Klasse. Keine kicherte mehr.
»Suse Bertram – ich frage dich, wer dieses Löschblatt beschrieben hat – soll ich noch lange warten?« Mit Doktor Schwarz war nicht gut Kirschen essen, wenn er böse war.
Trotzdem verharrte Suse in Schweigen. Sie biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten. Lieber wollte sie die härteste Strafe erleiden, als die Freundin angeben.
»Ich frage zum letzten Male – willst du es mir sagen, oder wird sich die Betreffende selbst melden?« Doktor Schwarz' Brillengläser funkelten von einer zur anderen. War es Zufall, daß sie auf Liselottes Gesichtchen besonders durchdringend hafteten?
Liselotte machte eine möglichst unbefangene Miene. Suse war als fleißige Schülerin beliebt, vielleicht kam sie mit einem bloßen Rüffel davon – zum Tadel hatte man immer noch Zeit!
»Gut – sagst du es mir nicht, so wirst du es vielleicht Fräulein Bergmann mitteilen, folge mir zur Schulvorsteherin, Suse Bertram.«
Suse mußte sich am Katheder festklammern. Der Boden schwankte mit ihr. Nur einmal war es vorgekommen, daß eine Schülerin zu Fräulein Bergmann geführt wurde, als sie den Lehrer belogen hatte – es galt als die furchtbarste Strafe.
Dennoch machte Suse einige Schritte hinter dem vorangehenden Lehrer her – sie litt ja für ihre Lilo, dieses Bewußtsein hielt sie aufrecht.
Aber Liselotte ließ ihre Suse auch nicht im Stich. Mit einem Satz war sie aus der Bank heraus und hinter Doktor Schwarz her.
»Herr Doktor – ich war's – ich habe ›geliebtes Hundeviechel‹ geschrieben, ich will es auch nie wieder tun, aber Suse kann nichts dafür!« so rief sie.
Doktor Schwarz stand still.
»Dacht' ich mir's doch – ich finde, daß eure Freundschaft recht wenig veredelnden Einfluß ausübt, anstatt daß du günstig auf Liselotte einwirkst, läßt du dich von dieser zu allerlei Allotria verleiten. Ihr werdet alle beide eine Strafarbeit zu morgen machen, da Liselotte ja schriftliche Ergüsse sehr zu lieben scheint. Ihr werdet mir einen Aufsatz über den Untergang des Gotenreiches anfertigen.« Doktor Schwarz nahm seinen unterbrochenen Vortrag wieder auf.
Suse saß mit beschämtem Gesicht da, Liselotte mit einem mißvergnügten. Heute hatte sich das ganze Kränzchen auf dem Mühlenteich zum »Schlittschuhfahren«, wie es in Schlesien heißt, verabredet, eine lange Schlange wollte man bilden und einen Omnibus. Es würde famos werden. Und sie sollten statt dessen eine Strafarbeit machen – es war nicht zum Blasen!
Aber alles heimliche Räsonieren half nichts. Während die Kränzchenschwestern jubelnd die glatte Bahn entlangfuhren, hockten Liselotte und ihr »geliebtes Hundeviechel« am Arbeitspult daheim und zerbrachen sich ihren armen Kopf über die letzten Tage der beiden heldenhaften Gotenkönige.
»Was mich der dämliche Totila angeht!« wütete Liselotte und knabberte gelangweilt am Federhalter.
Das waren die ersten Freuden des bevorstehenden Basars.
Aber es kam doch besser, als es den Anschein hatte.
Frau Baumeister Günther kehrte von der Vorstandssitzung zurück und teilte ihrem aufhorchenden Töchterchen mit, daß sie einen Teeausschank zum Basar übernommen habe. Ob Liselotte dabei helfen wollte?
Na, ob sie wollte – gut, daß auch Teja bereits ins Jenseits befördert war, sonst hätte Liselotte ihn sicherlich nicht mehr dorthin gelangen lassen.
»Aber Suse auch – liebe, gute Muttel, laß meine Suse auch in der Teebude helfen, gelt, Muttel?« bestürmte Liselotte die Mutter.
Frau Baumeister Günther überlegte einen Augenblick. Es war beschlossen worden, daß die Kinder in Kostüme gesteckt werden sollten, entsprechend den Waren, die sie feilboten. Dann mußte sie für Suse Bertram ebenfalls ein japanisches Teemädchenkostüm anfertigen – aber wiederum freute es sie, daß ihr Kind voller Gutherzigkeit sogleich an die Freundin dachte. So nickte die Mutter zustimmend mit dem Kopf und sagte: »Wenn du dich musterhaft artig bis dahin benimmst!«
Liselotte jubelte. Sie sprang im Zimmer umher, daß sofort von der Erschütterung eine kleine Vase ebenfalls vom Wandbrett sprang, und begann auf diese Weise sofort ihre musterhafte Artigkeit.
Auch bei der Kindersinfonie, die der Herr Kapellmeister einstudierte, durfte Suse mitwirken. Sie blies die Nachtigallflöte, und Liselotte die Wachtelpfeife.
»Tü–tü–tüü«, wo Liselotte ging und stand, pfiff sie wie eine Wachtel – »tü–tü–tüü« – sogar in der Geographiestunde, als man sich gerade in Afrika befand, ertappte sie sich dabei, daß sie plötzlich ihre Lippen zum Wachtelruf spitzte. Zum Glück hatte es der Lehrer nicht gehört.
Alle Kinder aus dem Kränzchen waren beteiligt. Eins war Pirol, eins Drossel, Amsel, eins schlug Triangel, eins brummte als Waldteufel. Unglaublich dumm stellte sich Amtmanns Lenchen dabei an. Liselotte konnte ein klein wenig Schadenfreude nicht unterdrücken, denn Amtmanns Lenchen mochte sie wirklich nicht recht leiden. Lenchen war ein wahres Genie an Unmusikalischkeit. Sie sollte der Kuckuck sein. Aber sie brachte es nicht fertig, den Kuckucksruf richtig im Takt aus einer kleinen Handharmonika herauszubringen, immer klang es, als ob eine Katze miaute.
Die Proben waren zu ulkig. Der Herr Kapellmeister schlug den Takt mit einem kleinen Stöckchen und zappelte dabei mit Händen und Füßen. Das sah aus, als ob er ein Hampelmann sei. Zählen mußten die Mädel wie die Maikäfer, wehe derjenigen, die sich verzählte und nicht Takt hielt, der hopste das Stöckchen des Herrn Kapellmeisters auf dem Rücken herum.
Es kam öfters vor, daß die kleinen Musikanten nicht volle Aufmerksamkeit für ihr Geblase und Geflöte hatten, denn in den blonden, braunen und schwarzen Kinderköpfchen spukten die Kostüme. Zu Hause wurden die Anzüge angefertigt, und keine wollte der andern verraten, als was sie komme. Jede aber dachte: »Ich bin ganz sicher die Schönste!« denn in solch einer kleinen Evastochter sitzt schon ein gut Teil Eitelkeit.
Liselotte hatte eine doppelte Überraschung. Sie hatte es sich von der Mutter ausgebeten, daß Suse nichts davon erfahre, daß sie auch als kleine Geisha in der Teebude verkaufen würde. Erst am Basartage wollte Liselotte die Freundin damit überraschen. Manchmal wurde es Liselotte nicht leicht, reinen Mund zu halten, wenn die andern so geheimnisvoll mit ihren Kostümen taten, und Suse still und gedrückt daneben stand. Dann war sie oft drauf und dran, der Freundin um den Hals zu fallen und ihr zuzuflüstern: »Sei nicht traurig, Suse, du gehörst dazu, du wirst sicher eine der Hübschesten sein!« Aber sie biß sich noch immer rechtzeitig auf die Lippen – sie wollte Norberts flegelhaften Ausspruch, daß »Weibsleute ewig schnabbern und sabbern müssen,« nicht wahr machen.
Mutter freute sich über ihr Mädel. Sie hätte ihr solche Uneigennützigkeit gar nicht zugetraut. Zwei japanische Kostüme fertigte die alte Näherin Gustel nach Mutters Angabe an, ein hellblaues und ein rotes. Liselotte war von dem hellblauen begeistert, immer wieder hielt sie sich den entzückenden »Kimono« an. Mutter beobachtete die kleine Eitelkeit lächelnd. Aber plötzlich sagte Liselotte mit einem tiefen Stoßseufzer: »Wir wollen Suse das hellblaue Kostüm geben, Muttchen, es wird ihr wunderhübsch zu ihren blonden Haaren stehen.« Nicht einmal die Mutter ahnte, wie schwer dem kleinen Mädchen dieses Opfer geworden.
Aber auch Liselottes Kimono wurde bildschön, und als sie sich das erstemal zur Probe anzog, die dunklen Locken hoch oben auf dem Köpfchen zum japanischen Knoten gedreht, von kleinen Fächern durchsteckt, über den Ohren große tiefrote Rosen und einen Riesenfächer im Rücken, da konnte sich selbst Norbert des Ausrufs nicht enthalten:
»Heiliges Kanonenrohr – warum biste nicht lieber ein Japaneschen geworden, Kleinchen, statt 'ne europäische Jöre?«
»Och, se is überhaupt kein richtiger Teechinese,« meinte Heinz abfällig, »sie hat ja gar keinen Zopf und gar keinen traurigen Schnurrbart, und denn mußte immer los mit dem Kopf nicken, siehste, so!« und er nickte so energisch mit seinem hellbraunen Lockenkopf, daß die weiße Konditormütze bedenklich ins Schwanken geriet. Heinz durfte nämlich auch mit zum Basar – er war unglaublich stolz darauf – Mutter hatte ihn in einen kleinen Konditor verwandelt, er sollte das Teegebäck verkaufen.
»Wie 'n Hemdenmatz siehste aus!« äußerte sich Edchen anerkennend zu Heinz, während Kurtchen japanische Trachtenstudien an Suses blauem Kimono unternahm und ihm alle fünf Pflaumenmusfinger aufdrückte.
Liselotte war außer sich. Sie revanchierte sich sofort und drückte dem Brüderchen ebenfalls ihre fünf Finger auf, aber flammend rot, auf die Backe. Heinz ergriff Partei für den kleinen Bruder, und bald lagen sich die kleine Japanerin und der Konditorjunge in den Haaren. Es war ein Anblick für Götter. Norbert hielt sich den Bauch vor Lachen, während der Weinerich mit wildem Geheul die Mutter herbeibrüllte.
»Kinder, ihr bleibt noch zu Hause – es kommt keiner mit zum Basar, wenn ihr nicht sofort Ruhe gebt –« noch nie war Mutters Worten so prompt Folge geleistet worden wie heute. Das Wort »Basar« übte eine wahre Zauberkraft aus; Japanerin und Konditor ließen voneinander ab, wie zwei bissige Köter immer noch vor sich hinkläffend. Nur der Weinerich blökte unentwegt seine Naht weiter.
»Nu kann Suse nicht mitgehen, mit solchem dreckigen Pflaumenmuskostüm kann sie sich doch nicht sehen lassen!« jammerte Liselotte.
Aber Muttchen wußte Rat. Mütter wissen immer Rat und machen alles wieder gut, was unverständige Kinderhändchen verdorben. Es war noch genügend Stoff da, daß ein neuer Teil eingesetzt werden konnte, bald war der Schaden repariert.
Auch Norbert mußte seine Kräfte in den Dienst der Wohltätigkeit stellen. Er und einige andere Knaben waren zum Programmverkauf erwählt worden.
Endlich kam der 27. Februar heran. Die Kostüme waren fertig, die Kindersinfonie klappte, sogar der Kuckuck miaute nicht mehr. In der großen Turnhalle des Gymnasiums war man eifrig am Werk, denn dort fand der Basar statt. Neugierige Jungennasen preßten sich während der Schulzwischenpausen gegen die hohen Fenster, an Vorsprüngen, Dachrinnen und Baumzweigen hingen die Schlingel, um einen Blick in das vorläufig noch verschlossene Paradies zu erlangen.
Die nüchterne, grau getünchte Turnhalle war nicht wiederzuerkennen. Längs und quer, über Eck und in schlanken Bogen spannten sich grüne Girlanden von duftenden Tannenzweigen, die Wände waren mit roten Stoffen bespannt, blaue, grüne und gelbe Fähnchen schauten lustig daraus hervor. In der Mitte standen in einem kleinen Lorbeerhain die Büsten des Kaisers und der Kaiserin. Bude reihte sich an Bude, eigenartig drapiert, jede für sich ein kleines Kunstwerk. Die Damen hatten die Ausschmückung ihres Verkaufszeltes selbst übernommen, da konnte man so recht sehen, wer über Geschmack und künstlerisches Empfinden verfügte.
Frau Baumeister Günthers Teebude erregte allgemeine Aufmerksamkeit. Aus japanischen Schirmen, Fächern, Papierservietten und großen leuchtenden, selbstgefertigten Chrysanthemen hatte sie ein richtiges japanisches Zelt hervorgezaubert. Liselotte träumte von nichts anderem mehr, als wie sie und Suse sich in diesem japanischen Häuslein als kleine Geishas ausnehmen würden.
»Willst du heute nach Tisch zu uns kommen und mir beim Anziehen helfen, Suse?« fragte Liselotte scheinheilig, als sie sich an dem großen Tage mittags von der Freundin trennte.
Suse schwankte einen Augenblick, sie wußte, daß ihr das Herz dabei weh tun würde, denn sie war die einzige vom Kränzchen, die nicht im Kostüm verkaufen durfte. Aber gleich darauf kam sich das gute Ding bodenlos schlecht vor, daß es ihr nicht genügte, sich an dem Aussehen der Freundin zu erfreuen.
»Ich komme, Lilo, natürlich komme ich und helfe dich fein machen,« sagte sie mit neidlosem Blick.
»Also Punkt drei,« Liselotte kam sich noch viel schlechter vor, daß sie die Freundin täuschte. Aber nur so war die Überraschung möglich.
Als Suse pünktlich nach Tisch erschien, war Liselotte schon frisiert.
»Komm, Suse, wir haben noch reichlich Zeit, Marie muß dich auch mal gerade so wie mich frisieren,« bat Liselotte.
»Ach, wozu denn,« wandte Suse ein, aber sie war doch ein ganz klein wenig neugierig, ob sie wohl ebenso hübsch aussehen würde wie Lilo.
Bald waren die weichen Blondhaare zur japanischen Frisur geordnet – »Mutter hat noch Rosen,« rief Liselotte und holte sie geschwind herbei.
»Süß siehst du aus, mein Susenkind, nun mußt du aber auch noch ganz bestimmt mein Kostüm anprobieren, wir sind ja in einer Größe,« lachte Liselotte. Sie war ganz aus dem Häuschen.
Suse wollte absolut nicht heran. Aber Lilo machte kurzen Prozeß. Wie einem Baby zog sie ihr das weiße Batistkleidchen aus und warf ihr dafür den hellblauen Kimono über. Das rote Gewand hatte sie wohlweislich fortgeräumt.
»Ach, Suse, flink, komm zum Spiegel und sieh dich an, du mußt heute so bleiben, du siehst einfach zum anknabbern aus!« jubelte Liselotte.
»Rede doch keinen Unsinn,« die sanfte Suse wurde ordentlich ärgerlich, daß Liselotte so wenig Zartgefühl bewies. Sie wollte so schnell wie möglich das fremde Kleid wieder abstreifen.
Jetzt aber war der Zeitpunkt gekommen, den Liselotte ersehnt.
»Suse, versprich mir, daß du fünf Minuten – nur noch fünf Minuten so bleibst, ja?« sie wartete gar nicht die Antwort der Freundin ab, sondern verschwand im Nebenzimmer. Suse sah Zweifelhaft zu Liselottes Mutter hin, die lächelte ihr freundlich zu. »Na, tu dem Mädel den Gefallen!«
Es waren noch nicht zwei Minuten verstrichen, da tat sich die Flügeltür auf und in ihrem Rahmen erschien eine ganz allerliebste kleine Japanerin in leuchtend rotem Kimono. Zierlich trippelte sie auf die kleine Blaue zu und machte ihr eine tiefe Verbeugung.
Suses Veilchenaugen weiteten sich unnatürlich.
»Lilo – was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, daß wir alle beide Mutter beim Verkauf helfen dürfen – Suse, hast du denn wirklich im Ernst geglaubt, ich werde ein Kostüm anziehen, wenn du keins hast?«
Suse vermochte kein Wort herauszubringen. Aber sie eilte auf Liselottes Mutter zu und küßte ihr voll Dankbarkeit die Hand.
Und dann lagen sich beide kleine Japanerinnen so fest in den Armen, daß Mutter Einhalt gebieten mußte, damit die schönen Kostüme nicht zerknautscht wurden.
»Fehlen bloß noch die Schlitzaugen!« sagte Norbert, kritisch um die beiden jungen Schönen aus dem Lande der Chrysanthemen herumgehend. Endlich hatte Mutter ihre kleine Gesellschaft beisammen. Heinz wurde das Brett mit Teegebäck vorläufig noch nicht anvertraut, das war bei dem Naschmäulchen zu gefährlich.
Unter dem zweistimmigen Gebrüll von Neinerich und Weinerich: »Nein – wir wollen niß zu Haus gelaßt werden.« – »Er will niß herleine bleiben, er will auch mitdenimmt werden!« setzte sich die Karawane in Trab.
Als man die große, durch bunte Flämmchen und Lampions erleuchtete Turnhalle betrat, in der bereits eine festlich frohe Menge hin- und herwogte, wurde es selbst der roten Japanerin ganz beklommen zumute. Der Basar hatte schon am Vormittag begonnen, die Teebude aber wurde erst zum Fünfuhrtee eröffnet.
»So, Mädels, nun übernimmt eine die Sahnentöpfchen hier und eine die Zuckernäpfchen, immer drei Stücken zu einer Tasse, an meiner Teekanne habt ihr nichts zu schaffen,« damit stellte Mutter ihre kleinen Hilfstruppen an. »Du, Heinz, gehst als ›fliegender Händler‹ im Saal auf und nieder und hältst deine Kuchen feil. Das Geld kommt hier in diese Büchse – Junge, wirst du wohl nicht als erster drauflosfuttern!« Heinz hatte den Verkauf bereits eröffnet, indem er sich eine Schokoladenwaffel, die es ihm angetan, zwischen die frischen Lippen schob.
Aber Frau Baumeister Günther mußte sich jetzt ihren Kunden zuwenden, denn von allen Seiten kamen die Bewohner des Städtchens und die Besitzer der benachbarten Landgüter, um bei ihr eine Tasse Tee zu trinken und mit den reizenden kleinen Japanermädeln zu scherzen.
Suses und Liselottes Wangen glühten. Bildschön sahen sie aus, besonders das Baumeistertöchterlein, das mit seinen dunklen Locken noch echter wirkte als die blonde Suse. Amtmanns Lenchen schielte denn auch des öfteren zu den Schulkameradinnen herüber und warf dann wieder einen vergleichenden Blick auf das eigene Kostüm. Sie hatte bestimmt geglaubt, daß sie alle andern ausstechen würde – sie war eine kleine Ägypterin und verkaufte Zigaretten – und nun mußte sie es erleben, daß Liselotte und Suse, die dummen Dinger, viel mehr Zuspruch hatten als sie selbst.
Die beiden kleinen Geishas hatten in der Tat nicht Hände genug, um all den Wünschen gerecht zu werden. Suse war gewandt und wußte sich schnell zu drehen, aber Liselotte pfefferte in der Eile sofort ein Sahnentöpfchen um, daß Suse mit ihr tauschte und sie bei dem ungefährlicheren Zucker postierte. Endlich flaute der Strom ein wenig ab, und die beiden Mädelchen hatten Muße, auch die andern Buden und vor allem die übrigen Kränzchenschwestern einer genaueren Musterung zu unterwerfen.
Landrats hatten den Vogel abgeschossen, die hatten sicher wieder das Originellste. Frau Landrat von Thielen stand einer Würfelbude, die sich ganz besonders des Besuches der kleinen Welt erfreute, vor. Ihre Hilde und Herbert hatte sie in eine Puppe und in einen Hampelmann verwandelt. Sie saßen da unter all den schönen Spielsachen, als ob sie auch mit erwürfelt werden konnten.
Ilse Peters kredenzte die Kelchgläser mit dem perlenden Sekt, den ihre Mutter verschenkte. Sie trug ein grünes Gazekleidchen mit Weinlaub und Trauben geschmückt, auf dem dunkelblonden Gelock einen Rebenkranz. »Kleine Bacchantin« wurde sie genannt.
»Sieh nur, Lilo, Pastors Ruth als Schwedin, da drüben – die mit der spitzen Mütze bei den schwedischen Handarbeiten, und dort die kleine Italienerin mit den Südfrüchten – ach, das ist ja Amtsrichters Edith, die hätte ich beinahe nicht erkannt.«
»Wo mögen nur unsere beiden Vergißmeinnicht stecken?« Liselotte stellte sich auf die Zehenspitzen. »Da – sind sie das nicht – au Wetter, sind die niedlich, dort, Suse – Knallbonbon und Kotillonorden,« die kleine Japanerin winkte Hanni und Anni Diefenbach mit beiden Armen, daß die weiten Ärmel ihres roten Kimonos wie Schmetterlingsflügel flatterten.
»Famos seht ihr aus, darf man euch plündern?« so empfing sie die Freundinnen.
»Das Berühren
Der Figüren
Mit den Pfoten –
Ist verboten!«
lachte Hanni.
»Erst nach der Kindersinfonie, wenn die Fidelitas beginnt, ist das Plündern gegen Moneten erlaubt«, setzt Anni hinzu.
Die Kindersinfonie – richtig – sie gab der schüchternen Suse einen Stich ins Herz. Wenn sie doch bloß nicht die Nachtigall wäre, die mußte besonders schön schlagen, viel lieber hätte sie als Waldteufel gebrummt.
»Na, bekomme ich auch eine Tasse Tee, kleine Geisha?« Der Freiherr von Rothenburg war an das japanische Zelt getreten. Mutter unterhielt sich gerade mit einer Bekannten und hörte nicht. Liselotte mochte sich nicht das Armutszeugnis ausstellen, daß sie eigentlich an die Teekanne nicht herandurfte, was hätte der Freiherr, der ihr eine Verbeugung wie einer richtigen Dame gemacht hatte, wohl davon gedacht! So griff sie vorwitzig nach Tasse und Kanne, warf noch einen schnellen Seitenblick zu der ruhig plaudernden Mutter und verschenkte dann mit möglichst erwachsener Miene den heißen Trank. Da wollte es das Unglück, daß gerade der »Wurst-Aujust«, ein Schulkamerad Norberts, mit seinen warmen Würsteln vorüberging, der interessierte die kleine Japanerin mehr als ihr Amt.
O weh – Liselotte sah nicht, was sie tat, die Tasse flog vom Verkaufstisch in tausend Scherben zu Boden, und der kochende Tee ergoß sich über die freiherrlichen Hosen.
Diese Blamage!
Der Herr von Rothenburg rieb seine nassen Beinkleider und begütigte und bat dabei für das kleine Japanermädel, denn die erzürnte Mutter wollte sie zur Strafe sofort nach Hause schicken.
»Ich kann ja gar nicht gehen, sonst fehlt ja die Wachtel,« zum Glück war Liselotte die Kindersinfonie noch gerade zur rechten Zeit eingefallen.
Und nun holte sich der Herr Kapellmeister seine Musikanten. Er schärfte ihnen nochmals Piano und Forte, Takthalten und genaues Zählen ein – und dann ging's los.
Famos klappte es! Endloses Händeklatschen belohnte die kleinen Künstler.
Liselotte konnte sich von ihrer Wachtelpfeife gar nicht trennen – »tu–tü–tüü« – bald erschallte es hier, bald dort im Saal.
Und als die kleine Japanerin endlich schlaftrunken in ihren Kissen daheim lag und dachte: »Ach, wie schön, daß morgen auch noch Basartag ist!« da erklang es noch einmal ganz leise schon halb im Schlaf: »Tü–tü–tüü.«
* * *