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Durch ein Meer schneeiger und rosenroter Obstblüten brauste der Zug, aber je weiter der Tag vorrückte, je höher sie nach Norden hinaufkamen, um so mehr nahm die Vegetation ab. Die Bäume, die in Schlesien schon in voller Blüte gestanden, hatten hier kaum die allerersten Knospen herausgesteckt. Immer kahler und kahler wurde es und schließlich schrie Norbert:
»Schnee – richtiger Schnee – hier ist ja noch Winter!«
»Ich glaube, wir kommen nach Sibirien, Vatel,« Liselotte lehnte den Kopf reisemüde an Vaters Ärmel.
»Scheint mir auch so – Königsberg bietet uns nicht gerade einen warmen Empfang,« Vater warf einen Blick von seinem Kursbuch auf die tote Landschaft, welche die Dämmerung schon in ihre grauen Tücher hüllte.
Mutter bemühte sich, die beiden Kleinen zu wecken, welche endlich nach unaufhörlichen Quängeleien in den Armen Maries, die voll Treue die Herrschaft begleitete, eingeschlafen waren. Denn schon tauchten die Lichter der alten Krönungsstadt auf.
Königsberg am ersten Mai tief im Schnee!
Vorläufig sahen die Kinder, soweit sie die Augen auch aufrissen, recht wenig von ihrer neuen Heimat, über einen Platz, auf dem ein fürchterlicher Sturm tobte, ging es gleich ins Hotel, und nach kurzem Imbiß sofort ins Bett. Selbst den Großen fielen die Augen fast zu vor Müdigkeit.
Am anderen Morgen, als Liselotte erwachte, mußte sie sich erst besinnen und zurechtfinden.
Ging sie denn heute erst um neun Uhr in die Schule?
Herrgott – sie war ja in Königsberg – wie der Wind war sie aus dem Bett und barfuß ans Fenster. Aber was sie hier sah, war nicht gerade überwältigend. Den grauschwarzen, räucherigen Bahnhof, der dort wie ein großes Ungeheuer kauerte, kannte sie schon vom Abend zuvor. Die elektrische Bahn, die bimmelnd die Straße entlangsauste, konnte ihr, die bereits in Berlin gewesen, auch nicht imponieren. Sonst nur vielstöckige Häuser ohne Gärten, hohe, qualmende Schornsteine, nirgends ein grünes Fleckchen, nur auf dem Platz ein paar spärliche, tief eingeschneite Bäume.
»Ulkig, die Straße hier heißt Klapperwiese –«
»Wohnen hier die Klapperstörche?« erkundigte sich Heinz interessiert.
Kurtchen und Edchen begannen sogleich mit lauten Stimmen zu plärren:
»Kapperstock, du duter,
Bring' uns 'nen tleinen Bruder –«
»Um Gottes willen nicht –« fiel Liselotte entsetzt ein, »ich habe an euch vier gerade mehr wie genug!«
Aber die beiden waren jetzt wie zwei aufgezogene Automaten.
»Kapperstock, du bester,
Bring' uns 'ne tleine Swester!«
ging es weiter.
»Na, das ließe sich eher hören, aber sie müßte gleich so groß sein wie Suse!« sehnsüchtig dachte Liselotte der fernen Freundin.
Vater warf sich in Wichs, um sich beim Landespräsidenten und seinen neuen Vorgesetzten zu melden, Mutter ging mit ihren beiden Großen auf die Wohnungssuche. Die Kleinen blieben bei Marie im Hotel, denn draußen wirbelten lustig die Schneeflocken vom grauen Maienhimmel.
»Das nennt sich hier den Wonnemonat«, lachte Norbert, mit neugierigen Augen die »Kneiphöfsche Langjasse«, die Hauptstraße der alten Stadt, betrachtend.
»Weißt du, was das ist, Norbert – ein Königsberger Klops –« ein großer Schneeball flog dem Bruder gegen die Mütze.
Norbert machte Miene, die Schlacht weiter fortzusetzen, aber Mutter, die sich ihrer Rangen vor den eleganten Vorübergehenden schämte, beendete schnell den übermütigen Kampf.
»Benehmt euch anständig – sonst bringe ich euch ins Hotel zurück! Seht mal, dort ist das alte, alte Schloß, in dem Preußens Könige gekrönt werden!« staunend schauten die Kinder zu dem herrlichen, ehrwürdigen Bau aus, der schon vielen Jahrhunderten getrotzt. Der Schloßteich mitten in der Stadt mit seinen Anlagen und Uferpromenaden erregte allgemeine Bewunderung. Nun ging es durch ein großes Tor mit Zinnen, Türmchen und schweren eisernen Türen. Scheuen Auges streifte die sonst so kecke Liselotte den mit geladenem Gewehr auf Posten stehenden Soldaten.
»Als ob man ins Gefängnis kommt,« flüsterte sie Norbert zu. Der warf sich in die Brust.
»Mumpitz – jetzt wird's doch gerade fein, jetzt kommen doch die Festungswälle, auf denen wir ›Krieg‹ spielen werden.« Er sah mit leuchtenden Augen auf die hohen Wälle, welche die Stadt wie einen Gürtel umgeben.
»Aber wenn man in den Festungsgraben fällt, ist's eklig,« meinte Liselotte, sich schon vorher wie ein nasser Pudel schüttelnd. Mutter aber zeigte lächelnd auf eine kleine Tafel.
»Das Betreten der Festungswälle ist streng verboten!« war darauf zu lesen.
»Ei verflixt und zugeknöpft!« Trotzdem Mutter unzufriedene Augen machte, wiederholte Norbert den etwas derben Ausruf noch einmal voller Heftigkeit.
»Was sollen wir denn dann überhaupt hier in Königsberg?« Liselotte war nicht weniger enttäuscht als der Bruder. Auf den Festungswällen herumzutollen, darauf hatten sie sich beide am allermeisten gefreut. Und nun war es damit Essig!
»Na, zum Glück gibt es hier für den Vater noch eine andere Beschäftigung,« Mutter mußte wider Willen lachen. Sie schritt den beiden recht kleinlaut folgenden Kindern voraus.
Zu den »Hufen« ging es hinaus, das war das neue Villenviertel außerhalb des Stadtwalls, dort wollten sie nach einer geeigneten Wohnung Umschau halten. Hier draußen gab es doch wenigstens kleine Gärten und Bäume, da würden sie ihr altes Heim nicht allzu sehr vermissen. Bald hatte man auch eine wunderhübsche Wohnung herausgefunden. Allerdings hatten andere Bewohner das Parterregeschoß inne. Sehr ruhige Mieter, ein älteres Ehepaar, wie die Wirtin zur Beruhigung mitteilte. Frau Baumeister Günther fühlte sich aber dadurch durchaus nicht beruhigt – im Gegenteil, sie empfand geradezu einen beklemmenden Druck, wenn sie an ihre fünf lärmenden Raufbolde dachte. Aber die Wohnung erschien so passend, daß die Mutter versprach, mit ihrem Gatten wiederzukommen.
»Sieh mal, einen Garten hat's auch – mieserig ist er man,« raunte Norbert der Schwester zu.
Die aber hatte dafür kein Interesse. Die ganze Zeit über kicherte sie schon recht jörenhaft in ihr Taschentuch hinein, und als man jetzt wieder auf der Straße stand, prustete sie laut heraus.
»Ich lach' mich tot – die Frau hat ja zum Quieken gesprochen – »eï neï, Se sallen mal sehen, es ward Ihn' schon bei mir jefallen, und das Zimmer für das trautste Mariellche ist doch scheen, necht?« Das boshafte kleine Ding ahmte den »ostpreißischen Dialekt« so wahrheitsgetreu nach, daß Norbert in ihr Lachen einstimmte.
Mutter aber lachte nicht. Die untersagte ihrem Töchterchen streng, sich über eine alte, würdige Dame lustig zu machen. »Meinst du, die Leute werden sich hier nicht auch über deinen schlesischen Dialekt amüsieren?« da schwieg Liselotte betreten still.
Das ironische kleine Fräulein sollte bald genug erfahren, wie weh es tat, ausgelacht zu werden.
Die Wohnung wurde gemietet, desgleichen eine ostpreußische Küchenfee, die sich rühmte, die beste Königsberger Fleck zu fabrizieren, und die – o Wonne – zu Norbert und Liselotte »Sie« sagte.
Liselotte hatte, als sie zuzog, ihr längstes Kleid angelegt und die Halbschuhe mit den hohen Absätzen, und siehe – ihr heißester Wunsch ging in Erfüllung. Die neue Anna sagte wirklich »Sie« zu ihr.
Aber beinahe hätte dadurch die kindliche Liebe und Ehrerbietung des Töchterchens zur Mutter gelitten. Denn Mutti meinte lächelnd: »Nein, Anna, zu Norbert mögen Sie meinetwegen ›Sie‹ sagen, der ist ja schon Obertertianer, aber Liselotte hat damit noch ein paar Jährchen Zeit, was, mein Mädel?«
Mutters Mädel war jedoch durchaus nicht derselben Ansicht. In ihrer jungen Brust tobte ein wahrer Vulkan von wütender Erregung, und sie hatte so schlechte, häßliche Gedanken und solch ein Neidgefühl gegen Norbert, daß sie sich später, als sie sich allmählich beruhigte, ganz entsetzlich derselben schämte. Durch doppelte Liebe und Zärtlichkeit versuchte sie ihre Gedankensünden wieder gut zu machen. Aber jedesmal, wenn Anna »Herr Norbert« sagte, gab es ihr einen Stich durch das Herz, ob das gutherzige Mädchen sie auch noch so freundlich »trautstes Angelche« nannte. Sie wollte kein Engelchen sein – nein – sondern »Fräulein Liselotte«!
»Vielleicht wird hier in der dritten Klasse schon ›Sie‹ gesagt,« das blieb noch ihr einziger Trost. Norbert und Heinz waren bereits eingeschult, letzterer mußte auf Wunsch der Eltern die Nona, die neunte Klasse, noch einmal durchmachen.
»Ob ich überhaupt geprüft werde?« fragte Liselotte, als Mutter mit ihr zum Direktor der städtischen Mädchenschule ging. »Vielleicht genügt meine letzte Zensur – schade, daß ich nicht lobenswert habe!« dachte sie weiter.
Der Herr Direktor war ein dicker, freundlicher Herr. Er sah erst das kleine Mädel durchdringend durch seine Brillengläser an, dann die Zensur, und machte darauf »hm, hm«, woraus man nicht recht klug werden konnte, ob es abfällig oder beifällig gemeint war.
»Ei, da wollen wir mal sehen, was das Mariellchen kann,« sagte er darauf wohlwollend.
Liselotte hatte Mühe, ernst zu bleiben. Der Herr Direktor sprach ja gerade so ulkig wie die Frau Wirtin und wie die Anna zu Haus, sie kniff sich tüchtig in den Daumen, um bloß nicht zu lachen.
»Also arst mal Französisch, nanne mir mal unrejelmäßije Varben – aber, Kindchen, das ist doch jar nicht schwer!« der Direktor nickte der schweigenden Liselotte aufmunternd zu.
Die aber kämpfte. Sie wußte, wenn sie jetzt nur den Mund aufmachte, mußte sie unfehlbar kichern.
»Ei, weißt du kein einzijes?« der Direktor machte ein mißbilligendes Gesicht.
Liselotte nahm sich zusammen.
» Faire, savoir, pouvoir« – stieß sie heraus, und dann ging es nicht weiter. Sie lachte laut und ungeniert los, zum größten Erstaunen des Herrn Direktors und zum sprachlosen Entsetzen der Mutter.
»Ei – was ist denn an diesen Varben so janz besonders lächerlich?« erkundigte sich der Direktor.
Es half nichts – das kleine Mädchen mußte antworten.
»An den Verben nicht –« stotterte sie, nun doch ein wenig verlegen, »aber Sie – Sie sprechen halt a bissel so, wie das Gedicht von dem dicken Mops, der keinen Königsberger Klops fraß,« setzte sie mit der ihr eigenen Zutraulichkeit hinzu.
Mutter war entgeistert über ihre unerzogene, naseweise Tochter, sie wäre am liebsten in ein Mauseloch gekrochen. Der Direktor aber, der selbst Kinder hatte, lachte von Herzen.
»Also das war's, eï, das hättest du jleïch sagen können, daran wirst dich wohl hier in Kenichsbarch jewehnen missen, aber du scheinst mir auch recht schlesisch zu sprechen, wie wär's, wenn ich dich jetzt auslachen mecht?«
Liselotte sah den guten Herrn Direktor mit ihren strahlenden Blauaugen treuherzig an. Da fand er es in ihren klaren Augen bestätigt, daß nur kindischer Übermut und nicht Boshaftigkeit das ungehörige Lachen verursacht. Von dem Augenblick an war der Herr Direktor mit Liselotte Günther gut Freund.
Mutter aber entschuldigte sich vielmals, daß ihre Tochter so wenig Lebensart besaß, trotzdem der nette alte Herr nichts davon hören wollte.
Die Prüfung wurde fortgesetzt. Liselottes Freundschaft mit Suse Bertram war doch nicht umsonst gewesen, sie hatten beide zusammen fleißig und gewissenhaft gearbeitet, Mutter war selbst erstaunt darüber, wie gut ihr Mädel in allem beschlagen war.
Der Direktor nickte zufrieden, und Liselotte strahlte. Am Ende kam sie sogar in die obere dritte Klasse!
»Hm – weïl du so jut jekonnt hast, wallen wir dich in die vierte Klasse, in die IV M, eïnreïhen,« sagte der Direktor, nachdem er ein Weilchen überlegt und in seinem Büchlein geblättert hatte.
Die neue Schülerin machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
In die vierte Klasse sollte sie, wo sie alles so fein gewußt hatte, unter die kleinen Krabben! Anni Diefenbach, auf die sie stets herabgeblickt, war in der IV M – nein, das war ungerecht!
Ihre noch eben so vergnügten Augen füllten sich sofort mit Tränen.
»Ich – ich –« stotterte sie, trotzdem sie wußte, daß es unschicklich war, zu sprechen, wenn sie nicht gefragt wurde, und trotzdem Mutter ihr verwarnende Blicke zuwarf.
»Nun, was willst du denn noch?« fragte der Direktor nicht unfreundlich.
»Ich – ich bin doch schon in die dritte Klasse gekommen, und nun soll ich wieder nach der vierten zurückversetzt werden, wo ich doch alles gewußt habe – unter die kleinen Jören soll ich!« jetzt schluchzte sie wirklich.
Der Herr Direktor lachte dröhnend.
»Achott, das ist wirklich schlecht von mir, aber ich kann dir nicht halfen – wir haben hier das Zehnklassensystem, da ist die vierte Klasse so jut wie bei euch die dritte – morjen um acht kannst dich eïnstallen.«
Liselotte war entlassen.
Aber die Schmach, in die vierte Klasse aufgenommen zu sein, hatten die Worte des Direktors nicht getilgt. Und als Norbert sie zu Hause noch hänselte und »zurückversetzter Quartaner« nannte, da gab es nach allen Regeln der Kunst die erste Prügelei in Königsberg.
Am andern Morgen zogen Baumeisters drei Ältesten zum ersten Male in die Schule.
Liselotte erhobenen Hauptes, denn sie wollte den Brüdern, welche den gleichen Weg mit ihr hatten, nicht zeigen, wie tief gedemütigt sie sich fühlte.
Das stattliche rote Backsteingebäude, das so ganz anders dreinschaute als Fräulein Bergmanns »räucherige Bude«, schüchterte sie heute, wo sie es ohne Mutter betrat, ziemlich ein. Aber gleich darauf ermannte sie sich – die Günther-Liselotte Angst – pah – nicht die Spur – und sie fragte ein kleines Mädchen recht herablassend nach der Klasse IV M.
Vierzig Augenpaare richteten sich mit unverhohlener Neugier auf die eintretende Neue. Diese blieb unschlüssig in der Nähe der Tür stehen, sie wußte nicht, wo sie sich hinsetzen sollte. Sie erwiderte die durchbohrenden Mädchenblicke, die sie wie Wurfgeschosse trafen, möglichst gleichmütig, aber allmählich stieg ihr doch, als man rings um sie herum die Köpfe zusammensteckte und miteinander tuschelte, die Röte des Ärgers in das Gesicht.
»Alberne Riken!« dachte sie erbittert, »kann nicht eine lieber die Futterluke aufmachen und mir sagen, welcher Platz frei ist!«
Da trat zum Glück der Lehrer in die Klasse. Doktor Schmidt war's, der Ordinarius, ein kleiner, kurzsichtiger Herr. Er holte seine Brille hervor und musterte die höflich knicksende Liselotte wie ein Wundertier.
»Ah, die Neue,« sagte er dann, sich plötzlich besinnend, »na, setz' dich nur auf den letzten Platz.« Er sprach ein reines, dialektfreies Deutsch.
Liselotte zog eine Schnute. Damit hatte sie nicht gerechnet. Letzte wurde sie, wo sie eine so gute Prüfung abgelegt – das war empörend!
Aber alles Gesichterschneiden half nichts, denn Doktor Schmidt nahm keinerlei Notiz mehr von ihr.
Die Rechenstunde begann. Man war bei der Zinsrechnung, die war Liselotte stets höchst unsympathisch. Sie gab sich Mühe, aufmerksam zu folgen, aber trotzdem wußten die anderen Mädel, die nicht größer waren als sie, entschieden mehr. Besonders die eine, solche lange, dünne Bohnenstange, »Jretchen Werscholeït«. konnte fast jede Frage beantworten. Ihr langer, spitzer Zeigefinger durchbohrte stets die Luft.
»Das ist eine Neunmalkluge,« dachte Liselotte vorschnell, »die kann ich nicht leiden.«
»Wieviel Zinsen bringt ein Kapital von 650 Mark, das zu vier Prozent ausgeliehen ist – das kann uns einmal die Neue sagen, wie war doch noch der Name?« Doktor Schmidt kiekelte durch seine Brillengläser zu Liselottes Ecke.
Die war mit ihrer Charakteristik von Gretchen Werscholeit noch immer nicht zu Rande gekommen und hatte Herrn Doktor Schmidts Frage daher überhaupt nicht gehört. Denn eins kann man nur. Erst als sie einen gutgemeinten Puff im Rücken fühlte, sprang sie auf.
»Wie du heißt?« flüsterte ihr die etwas pockennarbige Nachbarin zu.
»Liselotte,« die Neue antwortete frisch und frei mit lauter Stimme.
Wieder ein unterdrücktes Kichern in der Klasse.
Was hatten denn die affigen Krabben schon wieder zu grinsen?
Sie sollte es gleich erfahren.
»Liselotte – Albernheiten – den Vatersnamen will ich wissen – sind doch hier nicht im Kindergarten!« bemerkte Doktor Schmidt zum Gaudium der Klasse.
»Liselotte Günther« – Liselotte stieß es mit blitzenden Augen heraus.
»Also Günther – rechne das folgende Exempel, Günther« – aber »Günther« schwieg in allen Sprachen.
Liselotte war so perplex darüber, daß sie, die in der kleinen Stadt stets mit dem Vornamen aufgerufen worden, plötzlich »Günther« hieß, daß sie Herrn Doktor Schmidts Zahlen vorläufig ein sehr geteiltes Interesse entgegenbrachte. Nicht einmal die Brocken, die man ihr ab und zu gutherzig zuwarf, vermochte sie aufzuschnappen.
»Eine vier – setzen, Günther –« so begann Liselottes erfolgreiche Laufbahn auf der Königsberger Mädchenschule.
Die Rechenstunde war zu Ende.
Arm in Arm schlenderten die Mädels, lachend und schwatzend, in die langen Korridore hinaus, ohne sich um die Neue zu kümmern. Die sah hilflos hinter ihnen drein. Sollte sie eine der so freundlich ausschauenden Mädchen fragen, ob sie sich anschließen dürfe?
»Nee – ich mack aber nich« – sagte Liselotte halblaut vor sich hin, im härtesten schlesischen Dialekt. Aufdrängen – anmeiern – ranschmeißen – das hatte sie, die Liselotte, nicht nötig!
»Wie meinst du?« ein niedliches, kleines Mädel mit blondem, kurzgeschorenem Jungskopf und braunen Augen wie Pfefferkörner macht vor Lilo halt.
Liselotte fühlte im Augenblick Sympathie für die hübsche Kleine.
»Ich unterhielt mich nur a bissel mit mir allein,« antwortete sie.
»Na, wenn dir diese Unterhaltung nicht besser gefällt als die unserige, kannst du ja mit uns gehen – ich weiß, wie das tut, ›neu‹ zu sein, ich war auch fremd hier,« die Pfefferkörneraugen blickten Liselotte mitleidig an.
»Wie heißt du denn?« fragte Liselotte, ihren Arm zutraulich in den ihrer neuen Freundin legend.
»Fritzi – Fritzi von Walden –« Liselotte fand den Namen Fritzi riesig passend für das kleine, bewegliche Ding mit den kurzen Haaren.
»Ich will halt nur noch meine Schnitte holen,« sie fühlte sich wie von einem Bann erlöst.
»Was willst du holen?« das lange Gretchen, das sich in Fritzis andern Arm gehängt, blickte die Neue amüsiert an.
»Nu, halt meine Schnitte, mein Brot,« Liselotte errötete.
»Jieb her, ich werd' dir halten,« machte sich Gretchen Werscholeit über Lilos Dialekt lustig.
Liselottes Blauaugen füllten sich mit Tränen. Wie peinlich das war, ausgelacht zu werden! Und wie oft hatte sie selbst über anderer Schwächen gespottet und gekichert. Das wollte sie aber von nun an ganz gewiß nicht mehr tun – sie hatte es ja jetzt selbst erfahren, wie weh so was tat.
Als es zur Stunde läutete, war Liselotte sowohl mit Fritzi als auch mit Gretchen, der Neunmalklugen, die sie doch zuerst gar nicht recht leiden konnte, herzlich befreundet. Sie hatte erfahren, daß Fritzis Vater Marineoffizier war, auch erst seit einem Jahr her versetzt worden und daß »Jretchen« hier am »Prejel« geboren sei, in der »Stadt der scheenen Mädchen«, wie sie selbst sagte. Dabei fand Liselotte Gretchen Werscholeit grundhäßlich. Aber nett war sie doch.
Gleich in der nächsten Stunde bewies sie ihre Freundschaft. Es war Deutsch Lektüre, und Liselotte hatte Schillers Glocke, die gerade durchgenommen wurde, noch nicht da. Wie ein verlorenes Schaf sah sie auf ihrem letzten Platz und hatte keine Ahnung, was die Glocke geschlagen.
»Wart', ich jeb' dir meïn Buchche,« das gute Gretchen schob ihr das eigene Buch hin und sah mit der Nachbarin ein. Liselotte nickte ihr dankbar zu. Wie kam es nur, daß sie Gretchen mit einemmal gar nicht mehr so häßlich fand?
Aber ihre Vornahme, sich nicht mehr über andere zu mokieren, wurde ihr schwer gemacht. Schillers Glocke, im echten Königsberger Dialekt von den Mädels vorgetragen, wirkte so unglaublich komisch, daß »Günther« – so hieß sie jetzt in allen Stunden – plötzlich in ein ganz unmotiviertes Lachen ausbrach. Sie zog zwar ihr Taschentuch heraus und tat so, als ob sie einen Hustenkrampf bekommen, aber der deutsche Lehrer blickte die Neue doch von Zeit zu Zeit mißtrauisch an. Die schien sich ja hier schon recht zu Hause zu fühlen!
»Kumm ooch mitte« – so hatten sie stets alle im Kränzchen gesagt, wenn sie sich nach Schulschluß gegenseitig heimbegleiteten. Liselotte fühlte sich schon so vertraut mit den neuen Freundinnen, daß ihr die gewohnte schlesische Redensart unwillkürlich von den Lippen glitt.
Aber das schallende Gelächter der beiden Kameradinnen belehrte sie, daß sie nicht Arm in Arm mit Suse und Hanni über den Marktplatz sprang, sondern mit zwei fremden Mädels durch fremde Straßen schritt. Tränen schossen ihr in die Augen, halb vor Sehnsucht, halb vor Scham. Und um die kindischen Tränen zu verbergen, kehrte sie das Zankteufelchen hervor.
»Ich geh' nicht mehr mit euch, wenn ihr so lieblos seid – ihr sullt euch halt schämen!« damit rannte sie spornstreichs davon.
Hinter ihr erklang es: »Eï neï, seï doch nich dammlich« – »Liselotte, wir meinten es doch nicht böse« – und dann wieder Gretchens singende Stimme: »Na, denn laß dem Kröt!«
Liselotte tat, als wenn sie taub wäre.
Beim Mittagstisch kramten sie alle ihre Erlebnisse aus, aber so viel wie Liselotte hatte keiner zu erzählen. Norbert hatte zwar auch schon mehrere »Bekannte« –denn mit dem Wort »Freund« warf man in seinen Jahren nicht mehr gedankenlos umher. Und Heinzchen erfreute die Mutter, die vorläufig vor Kisten, Kästen und Körben nicht aus noch ein wußte, damit, daß sein neuer Busenfreund »Schorschel Jrijoleï« ihn bereits nachmittags zum Kaffee »janz jemietlich« besuchen würde. Liselotte aber verkündete strahlend, daß sie von nun an »Günther« hieße, zwei Freundinnen hätte, mit denen sie schon verknurrt sei, und die Glocke auf ostpreußisch so schön deklamieren könne wie Jretchen Werscholeït. Das tat sie denn auch zur Erheiterung der Tafelrunde. Nur Muttel drohte lächelnd: »Na, und was hat man zu deinem schlesischen Dialekt gesagt?« Da wurde das Fräulein Tochter puterrot – und recht kleinlaut.
Ja, Liselotte – man sieht den Splitter in dem Auge des lieben Nächsten, aber nicht den Balken im eigenen Auge!
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