Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Zum Vergleich zu dieser Darstellung sei die aus den » Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 26/ 2014« zitiert:
Der 18. März 1848, ein Samstag, war ein warmer Vorfrühlingstag. Am Morgen konnten die Bewohnerinnen und Bewohner Berlins in der Presse und auf Bekanntmachungen des Magistrats, der Stadtregierung, sensationelle Nachrichten lesen. König Friedrich Wilhelm IV. hatte ein »Gesetz über die Presse« erlassen. Danach war die Zensur aufgehoben; die Pressefreiheit wurde vorbehaltlos gewährt. Mehr noch: Zugleich hatte der König in einem »Patent« (so hieß seit dem Mittelalter ein offener Brief eines Landesherrn) den »Vereinigten Landtag« - kein Parlament, sondern die Ständeversammlung der preußischen Provinzen, in der Adelige, Großbauern und städtische Großgrundbesitzer zusammenkamen - vorfristig zu Beratungen einberufen. In dem »Patent« fanden sich einige Programmpunkte des Königs hinsichtlich einer politischen Neugestaltung des Deutschen Bundes. Der Monarch verlangte unter anderem, »dass Deutschland aus einem Staatenbund in einen Bundesstaat verwandelt werde«. Und während Friedrich Wilhelm IV. noch im April 1847 eben dieser Versammlung gegenüber geäußert hatte, er werde es nicht zulassen, dass sich zwischen ihm, dem König von Gottes Gnaden, und dem Volk ein »beschriebenes Blatt«, also ein Verfassungstext, »eindränge«, bekundete der König nun, dass eine zukünftige »Bundespräsentation eine constitutionelle Verfassung aller deutscher Länder nothwendig erheische (verlange)«. Begeistert nahmen die Menschen diese Botschaften auf. Nicht allein, dass der König sich der Einführung demokratischer Rechte nicht länger zu versperren schien - offenbar wollte er sich als Repräsentant des größten deutschen Staates, nämlich Preußens, sogar an die Spitze der in den deutschen Staaten und Reichsstädten mittlerweile immer entschiedener auftretenden Bewegung für die Einheit Deutschlands stellen.
Gegen Mittag zogen Tausende Berliner und Berlinerinnen aus allen Bevölkerungsschichten zum Schlossplatz, um dem König zu danken. Unter donnerndem Beifallsgeschrei betrat er mit dem Ministerpräsidenten gegen vierzehn Uhr einen der Balkone des Schlosses. Die Rede des Ministerpräsidenten ging ebenso im tosenden Jubel unter wie die durch ihn gesprochenen Dankesworte des Königs. In großer Zahl wurde das Extrablatt der »Allgemeinen Preußischen Zeitung« mit den Texten des Pressegesetzes und des Einberufungspatents verteilt. Trotz entsprechender Gesten des Königs verließen die freudig erregten Menschen den Schlossplatz nicht.
Die Stimmung schlug um, als Demonstrierende, die an den Portalen zu den Schlosshöfen standen, einsatzbereite Militärabteilungen sahen. Erste Rufe waren zu vernehmen: »Militär zurück!« Die Menschen erinnerten sich an die Zusammenstöße von Bürgern mit dem Militär an vergangenen Tagen, als es sogar einen Toten gab. Auf dem Platz häuften sich die lautstarken Forderungen: »Die Soldaten fort!« - »Das Militär zurück!« Eine bedrohliche Unruhe kam auf. Da erschien am Rande des Platzes eine Schwadron Dragoner, etwa 50 Reiter. Der Kommandierende zog den Säbel, so auch die Soldaten. Aus einem der Portale des Schlosses rückte eine Kompanie Grenadiere an. Das Militär hatte offenbar den Befehl erhalten, die Menschen zurückzudrängen und den Platz zu räumen. Da erschallten zwei Schüsse. In einer panikartigen Reaktion flohen die Menschen in die Straßen, die zum Schlossplatz führten. »Verrat! Verrat! Der König schießt auf das Volk!« Sturmglocken läuteten. Innerhalb weniger Stunden wurden im Stadtgebiet spontan und völlig planlos etwa 200 Barrikaden errichtet - Barrikaden aus Fuhrwerken und Droschken, aus Türen, Toren und Fässern, aus Balken und Bohlen, befestigt mit Pflastersteinen und Steinplatten. Sie sollten ein Vordringen des Militärs verhindern. Auf einigen der Barrikaden wehte eine schwarz-rot-goldene Fahne, das Symbol der Bewegung für Einheit und Freiheit.
So planlos wie der Barrikadenbau war der Widerstand gegen das anrückende Militär. Die Verteidiger waren überwiegend Handwerker, Arbeitsleute und Studenten. Praktisch waffenlos. Vereinzelt waren auch Frauen und Kinder zu sehen. Planvoll handelte jedoch die Militärführung. Sie wollte die Kontrolle über die Innenstadt erlangen, zog einen schützenden Ring um das Schloss und stellte Verbindungen zu den Munitions- und Proviantdepots her. Barrikade um Barrikade wurde niedergemacht. Die helle Vollmondnacht wurde von Feuerschein, Schüssen, Brüllen, Schreien und Trommelwirbel der Straßenkämpfe zerrissen. In den frühen Morgenstunden des Sonntags stellte das Militär den Kampf ein. Nur wenige Barrikaden hatten standgehalten. So jene am Alexanderplatz. – Anm.d.Hrsg.
Das Regiment Garde-Cürassiere hatte seine Casernen am Halle'schen Thore verlassen und stand auf dem Gensdarmen-Markte aufgerückt, die Garde-Dragoner hielten das Oranienburger-Thor besetzt, indem sie zugleich die Patrouille für die Umgegend dieses Thores und der Friedrichsstraße abgaben. Das Garde-Regiment Kaiser Alexander war in einzelnen Abtheilungen vertheilt, die ihre Plätze öfters wechselten, doch hielten sie im Ganzen die Königsstadt inne, während das Garde-Regiment Kaiser Franz sich nach dem Potsdamer-Thore und der Wilhelmsstraße hin vertheilte. Das Regiment Garde du Corps hielt den Schloßhof besetzt, und die innern Gänge und Säle des königlichen Palastes. Das Regiment Garde-Schützen hatte die öffentlichen Gebäude, die Bank, die Seehandlung u. a. zur Bewachung erhal [248]ten, und die fliegenden Corps der Garde-Ulanen-Regimenter zeigten sich bald hier, bald dort, um zu recognosciren und Rapporte abzustatten. Offiziere der höheren Grade durchritten mit ihren Begleitern die Stadt nach allen Richtungen. Es herrrschte auf wenige Stunden am Vormittage eine dumpfe, unheimliche Schwüle inmitten dieser aufgeregten Bevölkerung.
In diesen Stunden war es, wo der König sich entschloß, mit seinen freien Institutionen hervorzutreten.
Es sollte die Constitution dem Volke gegeben werden.
Die Freiheit der Presse sollte gewährt werden, das Recht Versammlungen zu halten, das Recht der freien Rede, die Volkswahlen.
Diese Entschlüsse waren schon lange in der Seele des Königs gereift, der sich zur Aufgabe gestellt hatte, die Zusagen seines Vaters der Nation zu erfüllen.
Der Ministerrath war auf dem Schlosse versammelt, die Prinzen des königlichen Hauses, die obersten Würdenträger der Waffencorps. Im Laufe des Tages füllte sich das Schloß immer mehr. Je bedrohlicher die Zustände wurden, um desto mehr fühlte sich der echte Patriot gedrängt, in der Nähe seines Königs zu sein. Viele aber suchten auch Schutz unter der Aegide des königlichen Hauses.
[249] Aus den Provinzen langten Deputationen an.
Die Verwirrung innerhalb des Schlosses wuchs, je lärmender sich die Auftritte außerhalb gestalteten.
So kamen die ersten Stunden des Nachmittags heran.
Eine unzählbare Menge hatte sich auf dem Platze vor dem Schlosse versammelt und zwar stauten sich die Massen besonders nach der Seite der Kurfürstenbrücke zu. Von der Brücke her flossen immer neue Ströme zu. Ein summendes, dunkles, verwirrtes Gedränge – ein Hin- und Herbewegen einzelner Theile dieser ungeheuren Mosaik von Menschenköpfen, aus denen hier und da ein Mann zu Pferde hervorragte, von dem man nicht wußte, ob er zu dieser Masse gehöre, oder ob er in seinem Vordringen hier mit Gewalt zurückgehalten werde. Einzelne Männer wurden auf den Schultern ihrer Nachbarn emporgehoben, und man sah die auf diese Weise erhöhten Gestalten sich zu der Menge wenden, und Worte, von leidenschaftlichen Geberden begleitet, sprechen, die man nicht verstand, weil der dumpfe, grollende Lärm immer stärker anwuchs. Der kolossale Candelaber, der ein Bouquet von Laternen trägt und sich auf der Mitte des Platzes erhebt, war bekleidet mit einem traubenartigen Behange von aneinander [250] haftenden Menschenkörpern, die sich anklammerten, um den Platz zu übersehen und das Schloß im Auge zu behalten. Alle Fenster der Häuser am Platze, selbst die Dächer, waren mit Köpfen besetzt.
Der König erschien auf dem Balkon.
Eben ein dumpfes, dem fernen Donner gleiches Getöse – jetzt eine athemlose Stille.
Diese Tausende von Augen richteten sich alle auf einen Punkt, diese Tausende von Ohren strengten sich an, den leisesten Laut zu vernehmen, der von jenem Punkte herkam.
Die Stimme des Königs war nicht rein; sie war bewegt, seine sonst so fließende Rede erklang jetzt in Absätzen, und sichtbar kämpfte er mit einer großen Aufregung. Seine Rechte ruhte auf der Steinfassung des Balkons, die Linke war auf die Brust gelegt. Der König blickte sich um nach allen Seiten, man konnte es ihm ansehen, daß seine nicht starke Sehkraft sich mühte, in diesem uferlosen Meer, das vor ihm ergossen lag, einzelne Figuren und Gruppen herauszufinden. Da ihm dies nicht gelingen mochte, ließ er seinen Blick ruhig über das Ganze hinschweifen. Doch kehrte dieser Blick immer von neuem auf einen Gegenstand in der Richtung zur Brücke hin zurück. Die Umgebung des Königs, Adjutanten, Minister [251] – waren ein paar Schritte zurückgetreten, und füllten mit ihren Gestalten die offen gelassene Thür zum Vorbau.
Kaum hatte der König seine Worte vollendet, als ein endloser Jubelruf aus der Menge ihm entgegentönte. Tücher, Hüte wurden geschwenkt. Es bildeten sich zahllose auf den Schultern und Köpfen der Zunächststehenden thronenden Menschenpyramiden, und die Emporgehobenen riefen laut den Namen des Königs und brachten ihm leidenschaftliche Dankesrufe.
Plötzlich fiel ein Schuß –
Jetzt wieder einer. Man geht heute davon aus, dass die beiden Schüsse, die niemanden trafen oder verletzten, sich aus Versehen lösten. Die Menschen glaubten jedoch damals, wie es auch die vorangehende Anmerkung beschreibt, dass absichtsvoll auf sie geschossen worden sei. – Anm.d.Hrsg.
Der König wich zurück. Wer in diesem verhängnißvollen Augenblicke die Richtung seines Auges hätte beobachten können, hätte bemerkt, daß es wiederum jene Stelle in dem Gedränge aufsuchte. Es war nur ein Moment; gleich darauf hatte die Umgebung den König eingeschlossen, und er verschwand in der bewegten Gruppe, die sich auf dem Balkon bildete, und gleich darauf in das Innere des Palastes sich zurückzog.
Die Thür blieb offen; Niemand dachte daran sie zu schließen.
Ein ohrzerreißendes Geheul, ein verworrenes, drohendes Getobe ließ sich auf dem Platze hören. Die ungeheure Menschenmenge suchte auseinander [252] zu stieben – es gelang ihr nur mühsam. Jetzt sah man von der Brücke aus Ströme Volkes hinzudrängen, die früher nicht auf dem Platze gesehen worden. Es waren Physiognomieen der wildesten, rohesten Art, es waren Leute in Kitteln, zerlumpt und zum Theil mit Aexten und Brecheisen bewaffnet. Diese stürzten sich in die Menge und stießen jenes gräßliche Geheul aus, das an die thierischen Laute erinnerte, die innerhalb endloser Wüsteneien dem erschreckten Wanderer die Nähe hungriger und wüthender Bestien verkünden. Mit keiner menschlichen Stimme hatten diese Laute Aehnlichkeit, und doch kamen sie aus menschlichen Kehlen; allein aus Kehlen von Menschen, die man künstlich durch alle erregenden Mittel zum Rasen gebracht hatte. Wie dieser wüthende Haufe auf dem Schauplatze erschien, zeigten sich mit ihm zugleich an den verschiedensten Orten des weiten Platzes einzelne Männer, die laut ihre Stimme erhoben und riefen: »Auf! vertheidigt Euch! Man mordet uns! Verrath! –«
Diese Rufe brachten eine maßlose Verwirrung hervor. Man kämpfte mit einander, um den Eingang einer Straße zu gewinnen, man überstürzte sich, es sanken zu Hunderten Leute nieder, der Menschensee floß in einzelnen reißenden Strömen [253] in die Seitenstraßen ab, immer Geheul, immer diesen entsetzlichen Ruf in die Lüfte schleudernd.
Jetzt erschienen die Dragoner, die Befehl erhielten, den Platz frei zu machen, ohne dabei von ihrer Waffe Gebrauch zu machen. Man begriff im Schlosse anfangs nicht, was diese plötzliche Umwandlung der Scene bewirkt haben konnte. Die besser Unterrichteten wußten es: der König wußte es: er wußte es, von welcher Seite jene Schüsse gefallen waren, und welchem Ziele sie gegolten. Sein scharfes Ohr hatte, indem er sich an der Balustrade auf einen Moment hinabgebeugt, aus dem kleinen Menschenknäuel, den er schon früher beobachtet, und der jetzt ziemlich abgesondert von der Masse, sich von der Brücke aus immer näher zum Schlosse heranbewegt hatte, Worte vernommen, die ihm die mörderische Absicht kund thaten. Er bebte nicht, als er der Gefahr sich entrückt sah; das Erbe der Fürsten seines Hauses ist Muth in Gefahr, Großmuth im Siege. Seine Umgebung aber war bleich wie der Tod.
»Es waren Fremde, es waren keine von den Meinen!« sagte der König zu den ihm zunächst Stehenden. »Ich weiß es. Ich sah es.« –
Niemand antwortete. Im Nebenzimmer herrschte eine lebhafte Bewegung, ein Geflüster. Die Königin [254] war in Ohnmacht gesunken. Man eilte ihr zu Hülfe. In allen Corridoren und Gängen des Palastes drängten sich Offiziere und Beamte. Alles geschäftig, alles lautlos aneinander vorübereilend, Gesichter mit dem Ausdruck wahnsinnigen Schreckens, kalten, starren Grimmes. Eine kleine Gruppe von fünf oder sechs Offizieren war an die Säulen des Palastes herangetreten, um die eingeschlagenen Kugeln zu betrachten.
Der Platz war leer. Von allen Fenstern waren die Köpfe verschwunden. Diese Stille, im Gegensatz zu der ungeheuren Bewegung noch vor einigen Sekunden, machte eine fast lähmende Wirkung. Es war wie das Werk eines Zauberers, der böse Geister aus den Tiefen der Erde heraufbeschworen, und ihnen jetzt befohlen hat, sich in alle Richtungen hin über die geängstete Erde zu zerstreuen.
Wir müssen hier einen kurzen Wortwechsel einschalten, der gerade hier und nirgends anders seinen Platz finden muß, um die räthselhaften Ereignisse, die wir oben mit angeschaut, erklären zu helfen. Dieser Wortwechsel fand zwischen Neuwardt und Weld Statt. Neuwardt hatte sich mit einer großen Anzahl seiner Bekannten, die mit ihm eine Gesinnung theilten, auf dem Platze vor dem Schlosse befunden, als der König jene Zusicherungen ertheilte, er hatte [255] zugleich mit der Menge seine Stimme zu einem lauten Dankesruf erhoben, und glücklich über das, was er vernommen, war er zu den Seinigen geeilt, um ihnen die freudige Botschaft mitzutheilen. Er fand Weld in seinem Hause, der beschäftigt war, flüchtig ein paar Worte auf einzelne Zettel zu schreiben, die er den wartenden Boten einhändigte.
»Theurer Freund!« rief der Patriot, »haben Sie gehört? Wir haben jetzt, was wir wünschen! Friedrich Wilhelm IV. hat das Wort seines Vaters wahr gemacht. Wir haben die Freiheiten, die wir erstrebt, wir haben eine Constitution! O, ich hätte weinen mögen vor Entzücken, als ich den König – meinen König – jene Segensworte aussprechen hörte.«
Weld blickte auf, unterbrach den Sprechenden, und fragte mit einem sarkastischen Tone: »Hören Sie den Tumult auf der Straße?«
»Siegesjubel!« rief Neuwardt, und der sonst so bedächtige, stille Mann war ganz trunken vor Freude. »O, ich werde illuminiren lassen. Mein Haus, die Straße – die ganze Stadt soll in Freude brennen. Zu allen Fenstern hinaus töne der Ruf: Es lebe unser König!«
Weld wiederholte mit demselben eisigen Spottlaut die Frage, ob Neuwardt Nichts höre.
[256] Es fielen die ersten Schüsse.
»Was ist das?« rief der Patriot, und seine Röthe ging plötzlich in Blässe über.
»Jetzt beginnt unser Werk!« sagte der Literat, indem er nach seinem Hute griff.
»Um Gotteswillen, was wollen Sie damit sagen, Weld?«
»Kennen Sie das Wort: Zu spät? Jetzt muß er Alles geben und seinen Thron dazu.«
»Rasender! Er hat gewährt, was der Patriot wünschte und begehrte.«
Weld entgegnete mit einem dreisten Lachen: »Was kümmert uns die Constitution. Wir wollen den Umsturz und für uns den Sieg. Wir wollen jetzt leben und herrschen.«
Neuwardt bebte vor innerer Entrüstung. »So gehen unsere Wege auseinander!« rief er. »Mit einem Verbrecher will ich nichts zu thun haben.«
Weld verließ ihn, ohne auf seine Worte zu achten. Neuwardt faltete die Hände, blickte mit einem Auge, in welchem seine bewegte Seele lag, gen Himmel und rief: »Gieb unser Heil nicht in die Hände der Buben! Verhindre gnädig ein Unglück!«
Auch er eilte nun fort, um die Männer der Deputation, die von den Rheinprovinzen so eben ange [257]langt war, zu sprechen. Er hatte bewährte Freunde darunter, Männer von tüchtiger Gesinnung und Vaterlandsfreunde wie er. Ein Schrecken, eine Trauer erfüllten das Herz dieses Mannes, wie er sie noch nie gefühlt. So nah grenzte hier die herrlichste Siegesfreude mit dem drohenden Streich zusammen, der Alles zu zertrümmern gedachte und an das Haus der Ehren die freche Diebeshand der Plünderer und Zerstörer zu legen. Man kann sich kaum eine Lage denken, die martervoller gewesen wäre für den echten Vaterlandsfreund, als diese. Der edle Neuwardt befand sich in dieser.
Wir kehren in das königliche Schloß zurück. Der König, der Prinz von Preußen, die Prinzessin und der Minister von Arnim befinden sich allein in einem Gemach. Niemandem ist der Zutritt gestattet.
Man hört die Salven des Musketenfeuers, den Donner der Geschütze der Artillerie in den Straßen. Der Kampf hat begonnen, und an dreißig verschiedenen Hauptplätzen vertheilt, wüthet er.
Die tiefe Dämmerung des Abends geht bereits in die Nacht über. Ein heller Mondschein lichtet das nächtliche Dunkel.
Ein Höfling, der sich in dem leer gewordenen Saale ängstlich herumbewegte, nähert sich der Thür [258] zu dem verschlossenen Cabinet, legt sein Ohr an die Spalte und vernimmt Stimmen:
»Sire, nur nicht gewankt! nicht nachgegeben! Dieser Aufstand muß im Keime erstickt werden. Sie dürfen nicht dulden, daß man so zu Ihnen spreche. –«
»Nein – diese Sprache ist unerhört! Man hat sie in Preußen noch nie vernommen.«
Eine lange Pause entstand, während dessen man das Feuern der Geschütze hörte.
Eine Stimme sagte: »Ich würde die Truppen bis auf den letzten Blutstropfen sich schlagen lassen. Die Stadt muß unser sein.«
»Es ist ein Augenblick der Verblendung, er wird vorübergehn! Sie werden zur Vernunft kommen.«
Die Antwort auf diese Rede blieb wiederum lange aus; dann sagte eine Stimme mit dem Ausdruck des Unwillens: »Wie ist da ein Zweifel möglich. Alles ist nach festem Plane abgekartet! Soll'n wir Schonung üben gegen Meuterer und Gesindel?«
Eine Stimme sprach, aber so leise, und von innerer Bewegung so zitternd, daß der Lauscher keines der Worte vernehmen konnte. Aber ein wilder, leidenschaftlicher Ausruf des Königs antwortete dieser Stimme.
Mehrere Ordonnanzen erschienen, Generale der einzelnen Truppenabtheilungen ließen sich melden. [259] Deputationen waren auf Treppe und Vorhof angelangt. Alle begehrten in Eile den König zu sprechen. Die Thür des Cabinets wurde nicht geöffnet; sie blieb geschlossen.
Der Saal wurde leer, der Lauscher nahm wieder seinen Platz an der Thür ein.
Dieselbe leise und erschütterte Stimme hatte nochmals gesprochen und dem König einen neuen Ausruf des Zorns und der Erbitterung entlockt.
Aus der Tiefe des Zimmers tönte eine Stimme, sie that den Ausruf: »Es ist Alles verloren!«
»Noch ist Nichts verloren!« lautete die Antwort entgegen, und diese Antwort wurde mit einer eisernen Energie und mit einer Wildheit der Stimme gegeben, die den Höfling zittern machte.
Jetzt ward der leise Schritt Alexander von Humboldt's bemerkbar, der über den Saal hin sich der Thür näherte. Der greise Höfling ging gebückt und sein Auge irrte ungewiß über die Gegenstände hin. Er hielt ein Papier in den Händen, das er verbarg, als die Thür sich öffnete und der König heraustrat. Er bemerkte den alten Kammerherrn nicht, und der berühmte Gelehrte hatte nicht den Muth, seinen königlichen Freund in diesem Moment, wo er die dunkelsten Schatten sich auf dessen Stirn lagern sah, [260] anzureden. Er trat in eine Nische des Fensters, und der König, ohne ihn zu bemerken, ging an dieser Nische mehrmals vorbei.
Die Schritte des Königs wendeten sich der großen Ausgangsthür zu; er hörte im Vorgemach Stimmen, allein er lenkte von der Thür wieder weg ohne sie zu öffnen.
Auf der Schwelle des Cabinets erschien die Prinzessin. Ihre hohe und schlanke Gestalt zeigte sich in der dunkeln Einfassung der Thür und zog die Blicke des Königs auf sich. Er stand still und schien der Prinzessin ein paar Worte zurufen zu wollen, allein die Gestalt, die sich in diesem Augenblicke hinter der Prinzessin zeigte, machte, daß der König sich rasch abwandte und wieder seinen eiligen und unruhigen Gang auf dem Saale antrat.
Jetzt waren die Vorsäle so überfüllt, daß die Menge derjenigen, die den König sehen, wo möglich sprechen wollten, sich nicht mehr zurückdrängen ließ. Der König befahl zu öffnen, und ein Strom von Menschen, des verschiedensten Alters und Standes drang ein. Es waren Knaben aus dem Volk darunter, die sich dem König zu Füßen warfen, es waren Frauen, die seine Kniee umklammerten, es waren Männer, die ihr Auge, überströmend von Thränen auf das ge [261]liebte Haupt ihres Herrn richteten. Der König sah mit einem kalten und zerstreuten Blick über sie hin; er unterbrach eine Deputation, deren Sprecher eben seine Rede begonnen hatte, und die wohlbekannte Gestalt des Gouverneurs von Berlin bemerkend, winkte er ihn leidenschaftlich heran. Er zog ihn in die Fensternische, wo der Gelehrte stand, und während ein wildes Gemurmel im Saale Ueberhand nahm, sah der König eine geschlossene Colonne von höheren Offizieren den Platz umstellen, wo er sich befand. Die Prinzessin war aus dem Cabinet getreten und sprach mit der Deputation, mit einigen Frauen, die sich an sie wandten – aber immer behielt sie dabei den König im Auge.
Mitten aus dem summenden Gedränge des Saals tauchte eine neue Deputation auf; es waren die Geistlichen Berlins, die sich direct an den König zu wenden begehrten. Er bemerkte einen würdigen Prediger und durchbrach die Reihe der Offiziere und näherte sich der Deputation; in diesem Augenblicke stürzten sich noch zwei Deputationen auf den König. Die Offiziere suchten sich wieder Bahn zu brechen um die Person des Königs zu schützen.
»Sire!« rief der ehrwürdige Greis – »schonen Sie das Blut Ihrer Unterthanen! Es ist keine [262] Pöbelemeute. Ich komme selbst vom Schauplatz des Kampfes, mit meinen Augen sah ich gute Patrioten, edle Männer in den Reihen der Kämpfenden. Sie sind im Irrthum, sie sind verblendet – aber schonen Sie ihrer, Sire! Suchen Sie auf gütlichem Wege diesen unglückseligen Zwiespalt auszugleichen.«
Der König erwiederte: »Ich bin mir nicht bewußt, irgend Einem meiner Unterthanen Grund zu einer empörenden Widersetzlichkeit dieser Art gegeben zu haben. Mein Gewissen spricht mich frei. Ich will Gehorsam – ich bin König!« –
Der Geistliche machte eine händeringende Bewegung.
Aus der Deputation, die jetzt eingetreten, sprang ein jugendlicher Sprecher hervor und rief mit einer Stimme voll Trotz und Leidenschaft dem Könige zu: »Sire! die Bürger werden sich bis auf den letzten Blutstropfen vertheidigen. Sie werden es nicht sein, die da weichen. Beim Himmel, nein!! sie nicht! Wir werden siegen! Bedenken Sie, Sire – was dann Ihr Loos, das Loos der Stadt sein wird.«
Ein wilder Zornesruf, der aus der nächsten Umgebung des Königs tönte, ließ den kecken Sprecher kein Wort seiner Rede hinzufügen. Von neuem warfen sich Gruppen, hier dem Könige, dort dem Prinzen [263] und der Prinzessin zu Füßen. Es waren zum Theil Frauen.
Jetzt kam der berühmte Gelehrte etwas aus der Fenstervertiefung hervor. Er hatte das Blatt wieder hervorgeholt. Der König richtete einen zerstreuten Blick nach der Gegend hin, sah das Blatt, nahm es, hielt es einen Moment in den Händen, ohne den Inhalt zu beachten und gab es einem Adjutanten neben sich, der es zu einem ganzen Stoß Papiere legte, den er unter dem Arme hielt.
Der Gelehrte warf einen kummervollen Blick auf sein verlorenes Papier, dann auf seinen königlichen Beschützer und verließ eben so leise den Saal, wie er ihn betreten hatte. Wie er der Thür des Cabinets vorbeieilte, flüsterte er einem großen, breitschultrigen Manne, der ihn dort zu erwarten schien, die Worte zu: »Es ist vergeblich! Er hört nur auf die, die sein Ohr sich erobert haben.«
Der König ging wieder in's Cabinet. Der Gouverneur wollte ihm folgen. Ein Adjutant trat zu ihm heran und flüsterte: »Seine Majestät hat soeben Ihren Posten einem Andern übertragen.«
»Wo ist die Ordre?« fragte der Erstaunte, einen Schritt zurücktretend.
»Hier!« entgegnete ein Minister und zeigte ein [264] Blatt, das eben aus dem Cabinet kam und auf dem der königliche Namenszug noch in frischer Dinte glänzte.
Der General wandte sich und verließ den Saal.
»Bleiben Sie – bleiben Sie!« rief Jemand, der ihm nacheilte. »Wir haben für den Moment unser Terrain verloren; wir müssen hoffen, daß wir in der nächsten Viertelstunde wieder am Ruder sind. Sehen Sie Ihren Nachfolger! er geht eben in's Cabinet.«
Man sah die ernste, trotzige Gestalt eines Mannes vorübergehen, dem die finstere Macht des Gebietens über Bajonnete auf der Stirn geschrieben stand. Die Prinzessin wandte sich zur Seite, als der General vorüberschritt und dem Prinzen seine Verbeugung machte, der seine Hand ergriff und sie schüttelte. Nach allen Seiten hin flog jetzt die Ordre, den Kampf auf das hartnäckigste fortzusetzen. Man hörte den Donner des schweren Geschützes jetzt dicht in der Nähe des Schlosses ertönen. Mit einem wilden Ausruf des Schreckens und des Zorns entflohen die Frauen aus dem Saale; die Männer folgten und wieder war auf wenige Sekunden der Saal leer.
Es schlug ein Uhr Morgens.
Da klang ein leiser Schritt! Es war der Lau [265]scher, der sich jetzt wieder heranschlich, aber er zog sich rasch zurück; denn von ihren Damen gefolgt, von Dienern, die Kerzen vorantrugen, geleitet, ging die Königin rasch durch den Saal, um sich in ihre Gemächer zu begeben. Der Intendant folgte und ertheilte Befehle, die Reisewagen in den innern Schloßhof fahren zu lassen.
Eine Stimme aus dem Cabinet rief ihr nach; allein die Königin hielt in ihrem raschen Gange nicht inne.
Die Ordonnanzen kamen, und wurden von dem Generalen empfangen, dem zwei Minister folgten.
Während dieses Gesprächs im Saal hörte man einen kurzen, aber heftigen Streit im Cabinet. –
»Ich will – ich will dieses entsetzliche Schießen nicht mehr hören!« rief der König fast außer sich in Zorn und Erschöpfung. »Man soll aufhören!« –
Bleich vor Aufregung, und seiner selbst kaum mächtig, aber dabei in kalter, starrer militärischer Haltung verharrend, sagte der General: »Sire, bedenken Sie die Folgen, wenn wir die Truppen zurückziehen! der Befehl ist rasch gegeben – ich bürge dafür, daß Ihre tapfern Soldaten, Sire, so erbittert sie sind, so gereizt durch die brutale Wuth dieser Em [266]pörer – daß sie im Nu ihre Waffen strecken werden – daß sie das Feld, das sie bis jetzt noch als Sieger behaupten, räumen werden, allein Wem vertrauen, wenn sie fort sind?«
Der König erwiederte nichts als: »Ich will Ruhe haben!«
Es drängte sich der Mann, den wir früher auf die Worte des Gelehrten haben lauschen hören, heran, und sagte leise zum Minister: »Soll ich?«
Die Antwort war ebenso leise: »Sie können dabei nichts wagen. Haben Sie nicht eben gehört?«
»Ganz wohl; allein man wird einen schriftlichen Befehl verlangen.«
»Oh – als wenn jetzt Zeit zum Schreiben wäre. An den Barrikaden hört sich's schlecht, und da sieht sich's auch nicht gut. Eilen Sie: lassen Sie nur funfzig Leute nach allen Richtungen hinsprengen.«
»Sire! ich warte auf Ordre;« sagte der General.
Der König ohne diese Ordre zu geben, entfernte sich ins Cabinet.
Der General zuckte die Achseln und wechselte einen Blick mit dem Prinzen, der ihm einen Wink [267] gab. Der General sah mit finsterm beobachtenden Blick auf den Minister und auf eine Gruppe am Fenster, die ihn umgab.
Alles blieb fast regungslos im Saale stehen, so wie es stand. Es lag eine Luft, schwer wie der Athem der Wüste, auf diesen Räumen. Man konnte nur mit Mühe diese Luft einathmen – sie schien auf ihren Fittichen Tod, Unglück, Entsetzen zu tragen. Die goldnen Linien, als Zierrathen der Decke, blitzten durch das Dunkel oben, wie die Wetterscheine eines herannahenden Gewitters. Alles in diesem Saale konnte Schrecken einflößen – ein zufällig auffliegender Fensterflügel, ein sich pauschender Vorhang – waren ein Gegenstand, der die Kniee wanken machte, und die Blicke starr nach jener Gegend zu richten zwang.
Die Damen der Königin, die Hofdamen der Prinzessin waren in dem Saale erschienen. Die königliche Familie, außer dem Prinzen und der Prinzessin von Preußen, die das Cabinet nicht verließen, war in den Nebengemächern versammelt, und Einzelne erschienen, um bald hier einem General, dort einem Minister, eine flüchtige Beantwortung einer flüchtigen Frage abzunöthigen.
Plötzlich entstand eine ungeheure Bewegung. Sie [268] war durch Männer erregt, die von auswärts eindrangen, und die die Nachricht brachten, daß das Militär den Kampf eingestellt habe.
»Verrath!« riefen einige Stimmen.
»Nicht doch –!« antworteten andere. »Sie haben Befehl erhalten abzumarschiren, die Stadt zu verlassen. Die Tumultuanten wollen es so; nicht eher wollen sie die Barrikaden räumen.«
»Die Tumultuanten?« verbesserte eine Stimme – »sagen Sie die Bürger!«
»Empörer! Verbrecher!« sagte eine tiefe donnernde Stimme, dicht in der Nähe des Cabinets. »Wir sind Alle verloren, jetzt, da wir uns schimpflich in ihre Macht gegeben.«
Der Gouverneur von Berlin verließ den Saal, ihm folgten seine Adjutanten und Offiziere. Man sah sie – bleich wie der Tod, hinausschreiten. Ein junger Offizier der Garde du Corps drängte sich durch die Reihen: »Es ist nicht möglich!« rief er – »es kann nicht sein! Der König kann diesen Befehl nicht gegeben haben. Und wenn er ihn gegeben hat – so – bleiben wir dennoch und gehen nicht.«
»Offizier!« rief der Gouverneur und sah den [269] jungen Mann starr an: »Wissen Sie was Disciplin ist?«
»Excellenz! Um Gotteswillen – nur hier nicht, hier nicht!«
»Gerade hier!« donnerte der General. »Sie räumen augenblicklich mit ihren Soldaten das Schloß. Innerhalb weniger Stunden darf kein Militär mehr in der Stadt sein.«
»Und das will der König?«
»Wer soll es sonst wollen?« antwortete der General kalt, und schritt zur Thüre hinaus.
Ein wildes Triumphgeschrei ließ sich in den inneren Höfen des Schlosses hören. Der Morgen dämmerte schon. Der Offizier blickte hinaus, kam zurück, und sagte den Damen, die sich um ihn sammelten. »O – entsetzlich! Wir müssen fort – und der Pöbel höhnt uns! Sie kommen die Treppen heraufgestürmt – alle Höfe sind voll! Und wir müssen den König unter dieser Rotte allein lassen.«
»Hoffen wir das Beste,« sagte eine ältliche Hofdame, indem sie besorgte Blicke auf den jungen Mann vor ihr heftete. – »Es ist doch immer die Bürgerschaft von Berlin. –«
»Das ist keine Bürgerschaft von Berlin!« ent [270]gegnete der Offizier. »Sehen Sie sich nur einen Augenblick diese Gesichter an. Es ist der Pöbel, der brutale Pöbel, von Aufrührern aufgehetzt, und in solchen Händen – lassen wir den König.«
»Er hat's ja gewollt,« sagte ein junger Obrist mit einem schneidenden Lächeln. »Kommen Sie – wir wollen diese hübsche Stadt in Sturmschritt verlassen.«
Die Prinzessin rauschte aus dem Cabinet hervor. Ihre Damen warfen sich ihr in den Weg. »Wo ist mein Kammerherr?« fragte die Prinzessin.
Er war nicht zu finden.
Minister, Generäle, Deputationen, Geistliche – alles lief und rannte die Treppen auf und ab. Der Pöbel warf unten mit Steinen nach den Offizieren, und schrie ihnen nach. Eine wüthende rohe Masse hatte sich an den Eingang gedrängt, offenbar in der Absicht, die Prinzen heraustreten zu sehen, besonders den Prinzen von Preußen, auf den die Wuth angereizt worden war.
Die Offiziere der Wache, von diesem Zustand der Dinge unterrichtet, ließen um die Ehre bitten, die Prinzessin begleiten zu dürfen. Sie nahm diese Geleitschaft an. In einen Offiziermantel gehüllet, eine Offiziermütze auf dem Kopfe, verließ die Prinzessin [271] das Schloß, um sich in ihren Palast zu begeben. Der Prinz hatte schon vor ihr das Schloß verlassen. Man hatte ihm gesagt, daß seine Sicherheit gefährdet sei, wenn er sich nicht entschlösse, sogleich die Stadt zu verlassen. Er zögerte, und folgte diesem Rath erst dann, als er sich selbst überzeugt, daß sein Bleiben weder der Sache noch seiner Person irgend dienlich war.
Die brutalen Scenen nahmen ihren Anfang. Schildwachen wurden niedergestoßen, mit entsetzlicher Grausamkeit gemordet, Offiziere beschimpft. Die gutgesinnten Bürger fanden sich mühsam unter den Waffen zusammen, sie verfehlten die Sammelplätze, sie waren noch an kein Kommando gewöhnt. – Fast zwei ganze Tage über, von dem Sonnabend Morgen bis zum Dienstag Morgen, herrschte völlige Anarchie in der Stadt, die roheste, ekelhafteste Pöbelherrschaft, eine Herrschaft der Hefe der Bevölkerung. Es war ein Zustand, der Entsetzen und Ekel zugleich einflößte. Während dieser furchtbaren Pöbelherrschaft war der König öfters entschlossen gewesen, die Stadt zu verlassen, allein sein königlicher Sinn hieß ihn, das Haus seiner Ahnen nicht zu räumen, die Stadt nicht aufzugeben, so lange noch irgend Hoffnung sich zeigte, daß Ordnung und Ge [272]setzlichkeit in dieser verwilderten Bevölkerung wieder die Oberhand gewinnen würden. Er erließ ein Manifest, in welchem er diese Hoffnung aussprach. Aber dieses Manifest machte keine gute Wirkung. Der Trotz der Menge sah hierein nur eine neue, dem Könige zugefügte Demüthigung, und triumphirte. Es führte die Aufschrift: »An meine lieben Berliner!« und diese lieben Berliner waren – man mochte es nun wenden, wie man wollte – in diesem Augenblick doch eben nur Empörer gegen Gesetz und Ordnung, gegen die Befehle ihres unumschränkten Königs. Man konnte ihnen vergeben, aber es lautete nicht gut, sie in diesem Augenblick »liebe Berliner« zu nennen. Der scharfe Volkswitz verstand auch das Ungehörige dieses Ausdrucks ganz wohl und ließ ihn einer böswilligen Controle unterliegen. Eine empörte Hauptstadt ist nur durch Waffen zur Ruhe zu bringen, hier waren diese Waffen gleichsam auf Befehl der Empörer entfernt worden und man dankte ihnen nun, daß sie so gütig waren, Ruhe zu halten. Der König sah dies Verhältniß freilich nicht von dieser Seite, von dieser Seite sah es aber die ganze Hauptstadt; der König gedachte Großmuth zu üben und übte sie auch in seinem Sinne; aber man nannte diese Großmuth allgemein Schwäche.