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Der Salon des Geheimen Finanzraths war geöffnet, aber Niemand erschien. Neuerdings waren die Straßen und Plätze Berlins wieder so lebhaft von einer tumultuarischen Menge durchzogen worden, daß es für Damen und ängstliche Herren eine schwierige Aufgabe wurde, sich in später Abendstunde hin und her zu bewegen. Ein paar nähere Bekannte, Geschäftsleute und Herren aus dem Club waren gekommen, mit ihnen führte der Herr des Hauses ein leise flüsterndes Gespräch, das abgebrochen wurde, wenn die Damen hinzutraten. Endlich begaben sich diese Herren auch fort, und die Familie blieb in ihrem schön erleuchteten Zimmer allein. Der Geheimerath ging in sein Cabinet, Charlotte saß am [121] Piano ohne zu spielen, die Geheimeräthin hatte hinter ihrem Lichtschirm auf dem Sopha Platz genommen und hörte dem Gespräch zu, das Louise mit Oskar führte. Der junge Mann sollte, wie er versicherte, in den Club gehen, den seine Freunde und Genossen gebildet hatten, und der eine derjenigen neugegründeten Vergesellschaftungen war, die am zügellosesten republikanische Grundsätze predigte, allein er konnte sich nicht entschließen die kleine Gesellschaft zu verlassen, eigentlich Louisen zu verlassen, der er von dem ersten Augenblicke, wo er sie sah, eine entschiedene Aufmerksamkeit widmete. Die Mutter, die es gern sah, wenn er zu Hause blieb, that das Ihrige dazu, die Unterhaltung Beider zu verlängern.
Oskar war ein eleganter, feiner, wohlgebildeter junger Mann. Er hatte die neue Uniform der Compagnie, bei der er stand, angenommen und diese war sehr kleidsam. Ein schwarzer, enganschließender kurzer Oberrock, ähnlich den Waffenröcken der Offiziere, ward durch ein schwarzes Ledergehänge noch enger um die schlanke Taille gezogen. Den Kragen zierte eine einfache silberne Stickerei, das nach östreichischem Schnitt gebildete Caskett zierte eine schwarze Feder und saß keck auf den schwarzen Locken, die schöne, dunkle Augen beschatteten. Dabei war der [122] junge Mann eitel; er wußte, daß er hübsch war und daß die Frauen und Mädchen ihm nachsahen, allein seine Eitelkeit trug jenen gutmüthigen Charakter an sich, der schnell mit ihr aussöhnt, sie war ebenso entfernt von Anmaßung wie von Stolz. Seine Genossen liebten ihn, seine Eltern waren stolz auf ihn.
»Haben Sie heute unsere Parade hier vorbeiziehen sehen, Fräulein?« fragte er Louisen, das Gespräch auf einen Gegenstand lenkend, über welchem er der jungen Dame Ansicht hören wollte. Louise bejahte.
»Wie oft hab' ich Dir gesagt, mein Sohn, Du sollst die militärischen Bezeichnungen vermeiden,« hob die Geheimeräthin an. »Was würde Dein republikanischer Club dazu sagen, wenn er dies hörte?«
»Die Republikaner sind gerade die besten Soldaten, Mama. Das haben wir kürzlich in Frankreich gesehen. Und wie haben sich die alten griechischen Republikaner geschlagen?«
»Ihr würdet Euch auch gut schlagen, wenn es darauf ankäme.«
»Ich zweifle, Mama. Kein Offizier der activen Armee würde uns in den Krieg führen wollen. Wir taugen nur so wie wir jetzt sind, eine Stadtbewachung zu bilden, und das auch nicht einmal. Aber nach [123] und nach, so hoffe ich, wird aus diesem wirren Haufen streitender Elemente eine National garde hervorgehen und die wird ganz gut anzusehen sein. Die muß aber dann auch streng sich halten, die exacteste Disciplin üben und den Grundsatz der militärischen Ehre festhalten wie er nur festzuhalten ist.«
»Dann haben wir ja aber, was wir schon hatten,« bemerkte die Geheimeräthin.
»Nicht ganz. Die Armee ist für das ganze Land; die Bürgergarde wäre jedoch nur für die städtischen Interessen und bliebe auf das engste mit den Bürgern verbündet. Nach Außen hin dürfte sie nie gebraucht werden; auch nicht zu reinen Polizei-Instructionen. Es müßte der bewaffnete Bürgerarm sein neben dem Arm, der die Wagschaale des Rechts hält. Da diese Garde aus lauter gebildeten, intelligenten Kräften bestände, so könnte sie auch nie zu einem willenlosen Körper, der tyrannischen Gelüsten knechtisch gehorcht, herabsinken.«
Da die Damen hierauf nichts erwiderten, glaubte Oskar dieses Thema nicht bis zur Ermüdung durchführen zu dürfen. »Charlotte!« wandte er sich zu seiner Schwester, »Du sitzest da so müssig, spiele und singe doch Etwas. Muß denn nur immer dann gesungen werden, wenn wir Gäste haben? Aber ich [124] weiß, Du bist so stumm, weil ein gewisser Jemand sich heute nicht eingefunden hat.«
Die Schwester erröthete und warf dem Bruder einen unwilligen Blick zu.
Das Gespräch stockte wieder, und es entstand eine sehr lange Pause.
»Sie haben keine Geschwister, mein liebes Fräulein?« hob die Geheimeräthin an.
Louise antwortete mit einiger Ueberwindung: »Ich hatte einen Bruder; wir verloren ihn früh.«
»Er starb?«
»Wir müssen leider annehmen, daß er todt ist.« Diese stockend vorgebrachte Antwort ließ den feinfühlenden Jüngling, der Louise gegenüber Platz genommen, und verstohlen jede Miene ihres Gesichts beobachtete, merken, daß seine Mutter einen Gegenstand berührt habe, der eine schmerzhafte Erinnerung in der Brust des jungen Mädchens wach rief. Er sagte darum rasch: »Begreifen Sie den Antrag der Frankfurter Versammlung, sie will, daß man den Adel abschaffe, und unsere Versammlung macht in der That Miene, ihr beizustimmen.«
»Ja,« entgegnete die Geheimeräthin, »den Adel, die Fideicommisse und Majorate.«
[125] »Ich sähe kein so großes Unglück, wenn es geschähe,« bemerkte Louise.
»Wie, gerade Sie, die von einer so alten adeligen Familie abstammen?« fragte Oskar erstaunt.
Louise entgegnete: »Sei es, daß man uns das äußere Zeichen nimmt, die Erinnerung an das, was die Familie einst Gutes oder dem Staate Verdienstliches leistete, wird man nicht nehmen können.«
»Das ist freilich aristokratisch genug gedacht und gesprochen,« sagte Oskar.
»Ich kann mit dem besten Willen die Sache nicht anders ansehen. Steht es mir zu, über das zu entscheiden, was Jahrhunderte vor mir ein Mann that oder unterließ? Kann ich ungeschehen machen, was einst geschah? Kann dies irgend ein Mensch, irgend eine Versammlung?«
»Allerdings, nein! Allein man sagt Ihnen, Dein Urureltervater war ein edler, großer und verdienter Mensch, seine Zeitgenossen haben es anerkannt, allein Deine Zeitgenossen sagen von Dir, daß Du kein großer, kein edler, kein verdienter Mensch bist, daß Du also kein Abzeichen tragen darfst, das Dich über uns, die wir mit Dir leben, und mit Dir ganz gleich im Werth sind, erhebt.«
»O, damit bin ich einverstanden. Ich bin für [126] den Adel, der alle Tage, alle Stunde neu erworben wird.«
»Für den bin ich!« rief Oskar. »Für den ist die neue Zeit.«
»Wohl,« sagte Louise; »so fordere ich von dieser neuen Zeit, daß sie von mir sage: sie ist nicht adelig, allein sie stammt von Vorfahren, die Adelige waren. Sie sehen, das kommt so ziemlich auf dasselbe hinaus, wo wir schon waren.«
»Sie haben Recht – der Streit ist ein müßiger. Man soll sich begnügen, dem Adel seine Vorrechte genommen zu haben.«
»Das hat man redlich gethan,« setzte Louise hinzu. »Man hat noch mehr gethan, man hat alle Mittel angewendet, ihn in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, ihn dem Spott und der Verachtung Preis zu geben, und dazu hatte man, meiner Ansicht nach, kein Recht.«
»Er besitzt noch immer einige Vorrechte, und besonders besitzt er dieses, daß wir, die wir ihn schmähen und bekämpfen, im innersten Grunde unseres Herzens doch wünschen, in seine Zahl aufgenommen zu sein.«
»Oskar!« rief die Geheimeräthin, »Du weißt, wie ich über diesen Gegenstand denke. Ein neu ge [127]schaffener Adel, ein durch Geld erkaufter – nimmermehr! Wir hätten es ja haben können.«
»I, Mama, ich weiß das! Sie denken so und der Papa denkt so – das freut mich. Allein dabei bleibt's doch wahr. Könnte man mir heute sagen, dein Urgroßvater focht bei der Schlacht von Malplaquet mit, oder zog mit Wilhelm dem Eroberer nach England – ich würde froh sein wie ein Kind, und mir mein ›von‹ von aller Gewalt der Erde nicht nehmen lassen.«
»Ich hätte Dich nicht für so eitel gehalten, mein Lieber,« sagte Charlotte vorwurfsvoll.
»Einmal muß man ja doch mit den großen Thaten anfangen, und Einer muß der Erste sein,« bemerkte die Geheimeräthin. »Sei Du der Erste und nach Dir wird sich ein ganzes großes Geschlecht nennen.«
»Ja, ja!« sagte der Sohn lachend. »Einen Baum pflanzen und unter einer hundertjährigen Eiche liegen und träumen ist nicht dasselbe.«
»Wie soll das aber anders gemacht werden; in der That, ich sehe es nicht ein.«
»Glaubt mir,« rief Oskar, »es entsteht jetzt ein neuer Adel, aber er ist noch nicht vorzeigbar. Die [128] jungen Männer haben ihn im Herzen tief, da wo sie ihre Liebe und ihre Zukunft haben.«
»Das klingt mystisch,« sagte Charlotte.
»Ist aber sehr einfach und deutlich,« entgegnete der Bruder. »Für's Erste versichere ich Euch, wenn man den Adel abschafft, so trage ich darauf an, daß man ihn feierlichst wieder einsetze. Mein Himmel, wie sind unsere Sitten roh geworden! Wie gehen wir mit einander um! Wo ist da noch Feinheit, Eleganz der Formen, Zierlichkeit in Rede und Geberde? Wenn wir in Leidenschaft gerathen, so sind wir Betrunkene, wenn wir in Ruhe sind, so sind wir rücksichtslose Egoisten. Schon das ewige Tabackrauchen! Eine ganze Gesellschaft verwandelt sich im Nu in so viele Automate, die regungslos dasitzen, den brennenden Stummel im Munde. Und wer recht verstockt stundenlang schweigen kann, und dann wieder stundenlang wüst lärmen, der ist der perfecteste Gesellschafter. Anständige Frauen vermeiden wir, weil sie uns Zwang auflegen, und, du lieber Himmel, wie wenig verlangen unsere anständigen Frauen heut zu Tage; sie sind zufrieden mit einem nur einigermaßen civilisirten Gespräch. Nichts von Galanterie oder Frauendienst, wie er ehemals Sitte war. Aber das Wenige vermögen wir nicht einmal zu leisten. Und [129] immer die Entschuldigung: wir haben etwas Anderes zu thun, etwas Höheres, Wichtigeres im Kopfe! als wenn nicht gerade die tüchtigsten Männer zu allen Zeiten, die im Staats- und Kriegsdienste gleich gut ihren Platz ausfüllten, sich durch edle Aufmerksamkeit für das zarte und schöne Geschlecht ausgezeichnet hätten! Aber unser plumper Egoismus ist nur um eine Entschuldigung verlegen, und er nimmt die erste, die beste, die er findet. Auf unsere Frauen hat diese Pöbelsitte natürlich auch die schlimmste Wirkung; sie fangen an, ihrerseits den Umgang mit Männern zu fliehen oder entbehrlich zu finden; und man weiß, wie Frauen unter sich, ebenfalls, nur auf eine andere Weise, verwildern oder verkümmern. Sie werden übermäßig klatschhaft und an die elendesten, kleinlichsten Interessen haftend; oder sie gehen zum andern Extrem über und greifen uns Männer mit starker Koketterie an, und suchen uns auf, statt daß wir sie aufsuchen sollten. Diese Gattung emancipirter Frauen ist nun vollends ein Gräuel für jeden Mann von noch irgend feinem Gefühl. Kurz, meiner langen Rede kurzer Sinn ist, daß wir beim Adel, und der heutige Adel selbst bei dem Adel der guten alten Zeit, in die Schule gehen müssen, um unsern gesellschaftlichen Zustand wieder irgend leidlich zu machen. [130] Ohne feine Sitte ist kein Verkehr möglich. Es ist eine Absurdität, zu glauben, Jeder dürfe sich so zeigen, wie er ist; man soll heucheln, man soll sich verstellen, wenn man dies in seiner innern Rohheit und Ungezogenheit nöthig hat, oder man soll nicht in den Salon eingelassen werden, wo lauter Leute sich befinden, die auf die wenigen Stunden, wo sie zusammen sind, das Gesetz anerkennen, daß Einer dem Andern so viel wie möglich zu Gefallen leben müsse. O ich könnte hierüber Vorlesungen halten, aber ich sehe, ich langweile Sie, mein Fräulein, und meine Mutter und meine Schwester haben sich bereits aus dem Staube gemacht.«
»Sie langweilen mich durchaus nicht,« entgegnete Louise, die auch jetzt erst bemerkte, daß die Geheimeräthin und Charlotte sich entfernt hatten; »ich muß nur bitten, mir eine kleine Miene von Zerstreutheit und Nachdenken zu verzeihen.«
»Nachdenken?« fragte der junge Mann. »Denken Sie darüber nach, was ich eben gesagt?«
»Es ist eine traurige Erinnerung, die mich in diesem Moment vor Allem beschäftigt,« sagte Louise. »Ich überlege, wie glücklich ich sein könnte, wenn ich einen Bruder hätte, und über diese und ähnliche Dinge mit ihm sprechen könnte.«
[131] »Nun, Sie haben mich.«
»Ich bin auch hierfür dankbar.«
»Aber freilich,« sagte der junge Mann mit einer Miene von Offenheit und sanfter Niedergeschlagenheit; »ein Bruder hat größeres Recht auf Vertrauen und Hingebung als ein Fremder, wenn dieser es auch noch so gut meint.«
Louise sah in die schönen dunkeln Augen des jungen Mannes und neigte dann die ihrigen mit einer kleinen Verwirrung zu Boden. »Ich fürchte,« hob sie nach einer Pause an, »Ihre Mutter unangenehm berührt zu haben dadurch, daß ich auf ihre Frage, wie und wann ich meinen Bruder verloren, ausweichend antwortete. Allein Sie müssen wissen, daß dieser beklagenswerthe Vorfall selbst zwischen mir und meinem Vater nie zur Sprache kommen darf. O der alte Mann wäre jetzt noch ein Jüngling an Muth und Lebensfreudigkeit, wenn ihm der Sohn zur Seite stände. Daß sein Geschlecht mit ihm aussterben soll, ist ein grausamer Gedanke für ihn.«
»Ich kann es mir denken,« bemerkte Oskar. »So fühlen alle Aristokraten.«
»Verbinden Sie, ich bitte, mit diesem Namen, wenn Sie ihn auf meinen Vater anwenden, keinen bösen Nebenbegriff. Er verdient ihn wahrlich nicht.«
[132] »Ich bin auch weit davon entfernt,« entgegnete mit großer Herzlichkeit der Jüngling. »Doch erlauben Sie mir zu bemerken, daß ich Ihren Vater nicht begreife. Er hat doch wahrhaftig keinen Grund mit seinem Geschick zu zürnen, das, wenn es ihm auch den Sohn nahm, ihm eine solche Tochter dafür gab.«
Louise machte eine lächelnde, kopfschüttelnde Verneinung.
Oskar sagte unwillig: »Daß man doch nie so sprechen darf, wie es einem um's Herz ist. Freilich hätte ich das, was ich eben sagte, anders und feiner einkleiden sollen, aber es ist eben, wie ich vorhin bemerkte, unser Aller Erziehung, ich meine damit uns Männer, vernachlässigt. Deshalb aber giebt es doch Einige unter uns, die man, weil sie offen und wahr fühlen, nicht zu streng richten muß, wenn sie nicht ganz zierlich ihre Gesinnungen aussprechen. Was mich betrifft, ich habe es immer mit einer gewissen Ehrlichkeit gehalten; wollte Gott, ich könnte sie nur mit etwas mehr Feinheit paaren.«
»Sie haben so elegante Sitten,« sagte Louise mit Freimüthigkeit, »wie ich sie selten angetroffen. Sie sehen, Sie stecken mich mit Ihrer Aufrichtigkeit an.«
»So will ich denn auf die Gefahr hin, Ihre gute Meinung von mir einzubüßen, noch weiter in [133] meiner Aufrichtigkeit fortfahren. Ich will Ihnen offen bekennen, daß, obgleich Sie nur wenige Tage erst unter uns weilen, Sie doch schon eine unwiderstehliche Anziehungskraft – ich will nur gerade sagen – auf mich ausüben. Ich könnte Ihnen maßlos vertrauen. Sehen Sie, mein Vater, meine gute Mutter, meine Schwester – sie sind alle drei mir sehr lieb, ich achte und ehre sie, allein für mich ist kein Umgang unter diesen Dreien. Ich habe meine Ideen für mich; und diese Ideen beziehen sich alle mehr oder weniger auf irgend eine wunderbare und phantastische zukünftige Größe. Ich möchte zeigen, daß ein Bürger auch ein Edelmann sein kann, so wie heut zu Tage viele Edelleute zeigen wollen, daß sie auch Bürger sein können. Aber mein Vater hat keinen Sinn dafür. Er stellt sich über alle Dinge und Verhältnisse der Welt, und da er das erreicht hat, was er wollte, nämlich Geld, so ist ihm alles Uebrige gleichgültig, wo nicht lächerlich. Meine Mutter ist eine bequeme Frau, die früher sehr schön gewesen ist, und die unsere Zeit beschuldigt, daß sie für dergleichen, wie sie im Sinne führte, nicht Geschick mehr hat; darüber läßt sie denn alles andere seinen Weg gehen. Meine Schwester ist ein Kind noch und glaubt allerlei zu denken und zu empfinden, und denkt [134] und empfindet eigentlich nichts. Da haben Sie das ganze Haus! Ist wohl etwas darunter, was gerade für mich passend wäre, für mich, der ich gern in allen Dingen einen glänzenden Weg ginge? Nein, nein, es ist nichts darunter; und da hat mir der Himmel Sie gesendet.«
Er schwieg, und Louise empfand nicht das Bedürfniß ihn zum weitern Sprechen aufzufordern. »Ich merke, daß Sie mich mit halbem Ohr anhören,« sagte er, aber ohne Empfindlichkeit; »wahrscheinlich ist Ihre Aufmerksamkeit noch immer dem Andenken Ihres verlorenen Bruders zugewendet. Wenn ich ihn nur auffinden könnte, es würde dann heißen: dem ehrlichen Finder würde ein dankbarer Blick zu Theil.«
»Also Sie meinen auch, daß er nur verloren ist?« fragte Louise, freudig erregt bei dem Gedanken, daß es Jemand gäbe, der ihre Hoffnungen theile.
»Eigentlich meine ich nichts,« antwortete der junge Mann lächelnd; »denn ich weiß ja eigentlich gar nicht, wovon die Rede ist.«
»So hören Sie. Mein Vater war damals der Commandantur der Festung Wesel zugeordnet; wir wohnten in dieser Stadt. Mein Bruder war drei Jahr alt, als bei einem Volksfeste, bei einem Gedränge, er von der Seite meiner Eltern gerissen wurde. Es [135] kann sein, daß der lebhafte Knabe auch selbst unvorsichtig genug war, sich von seinen Beschützern zu trennen. Mein Vater, der ihn zuletzt an der Hand gehabt hatte, war, als er das Kind nicht mehr an seiner Seite sah, nicht eben beunruhigt, denn er glaubte, er sei zu der nur wenige Schritte entfernten Mutter gegangen, die mit einer Freundin sprach. Erst als die Mutter nach dem Knaben fragte, kam dem unglücklichen Manne die entsetzliche Ueberzeugung daß der Kleine sich verlaufen habe. Es wurde das Möglichste gethan, ihn wieder aufzufinden, Nachfragen nach allen Seiten hin, Anzeigen in öffentlichen Blättern – alles vergeblich. Der damals vor kurzem erst beendete Krieg machte, daß die Straßen unsicher waren, indem ein herrenloses Gesindel sich auf ihnen umhertrieb; die traurige Befürchtung lag nah, daß das Kind einem dieser Züge in die Hände gefallen und weithin in die Fremde verschleppt worden war. Welch ein Jammer für uns! Mein Vater, als die Nachforschungen vergeblich blieben, fiel in eine Art Trübsinn, in ein Hinbrüten, das uns für seine Verstandeskräfte zittern machte. Ein fürchterliches Jahr verging langsam; am Schlusse desselben kam uns von einem entfernten Freunde die Nachricht zu, der Knabe lebe nicht mehr. Der Freund selbst hatte ihn [136] in einem Hospital entdeckt, ihn dort gepflegt, ihn daselbst sterben sehen. So war denn eine grausenvolle Gewißheit da, sie war jedoch eher zu ertragen für uns so tief gebeugte Leidtragende, als der Zweifel und das stets wechselnde Spiel mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, dem wir früher fast unterlegen waren. Mein Vater genas von dieser Zeit an. Es liegt in seiner Weise, nie von dem zu sprechen, was ihn so recht nah angeht und ihn tief betrübt. So haben wir denn selbst im Familienkreise nie des Bruders erwähnt. Das Schicksal wollte, daß ich auch bald darauf meine Mutter verlor.«
Der junge Bürgergardist sah mit einem innigen und zugleich ehrfurchtsvollen Blick das bewegte und erschütterte Mädchen an. »Nun,« sagte er nach einer Pause – »nach diesem Berichte scheint der Tod des Knaben gewiß.«
»Nein – nein!« rief Louise; »nichts ist gewiß als was wir mit eigenen Augen geschaut. Der Freund kannte den Knaben nicht persönlich; er sah ihn nur flüchtig und die Pflege, die er ihm widmete, war gewiß eine vorübergehende – wie leicht ist da ein Irrthum möglich. Zudem – man kann dergleichen nicht erklären – hab' ich in meinem Herzen das Gefühl, daß er noch lebt.«
[137] »So wünsch' ich, daß Ihr Herz Recht behält,« sagte der junge Mann. »Sie sehen, ich kann darüber nichts weiter sagen, denn wenn ich meine Hoffnung ausspräche, daß Sie jeden Ihrer Wünsche einmal gewährt erhalten möchten, so klänge das wie ein Gemeinplatz. Kann ich von dieser Mittheilung auch meiner Mutter etwas zu Gute kommen lassen?«
»Sie können ihr alles sagen, was Sie eben gehört haben.«
»Gut, gut. Ich soll also nicht glauben, daß man mir ein Geheimniß anvertraut habe. Und grade würde es mich unendlich freuen – so bin ich nun! – wenn ich von Ihnen und durch Sie etwas wüßte, was die Andern nicht erfahren dürften.«
»Was könnte das sein,« entgegnete Louise unbefangen. »Mein Leben ist so einfach, meine bisherigen Schicksale so wenig geheimnißvoll, daß ich in der That selbst meinem besten Freunde keine derartigen Mittheilungen zu machen wüßte.«
»Da kommt meine Schwester wieder!« sagte Oskar aufblickend. »Sie hat geweint. Sagen Sie ihr doch wie das einfältig ist, sich allerlei einzubilden, was sich für ihre Jahre noch gar nicht paßt. So macht sie sich selber weiß, daß sie den Lieutenant, Herrn [138] von Hohenheim liebt, und er weiß kaum, daß sie überhaupt existirt.«
Louise fühlte eine flüchtige Röthe bei Nennung dieses Namens ihre Wange färben. Der junge, feurige Mann mit der schönen Gluth im Blick und dem edlen Patriotismus in Wort und Miene stand lebhaft vor ihr. Sie sagte sich, daß es ein Gefühl der Dankbarkeit sei, das sie an ihn fess'le. Jetzt hörte sie, daß Charlotte, das bleiche Kind, ähnlich mit ihr fühlte. Dies machte, daß ihr das Mädchen lebhafteres Interesse einflößte, und sie nahm sich vor, ihr gewissenhaft Theilnahme, Vorsorge und mittheilendes Vertrauen zu widmen.