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Ihr, die Ihr im Jahre so viele Ehren- und Glückstage habt, denen die Zeit von dem Schnee des einen bis zu dem des andern Decembers in lauter sonnen- und kerzenhelle Tage und Nächte ausläuft, seht hier auf einen alten Mann, der nur Einen Ehrentag im Jahre hat, allein diesen auch mit der ganzen Innigkeit eines gläubigen Herzens feiert.
Es ist der Jahrestag der Schlacht von Großbeeren, der Tag des ersten Waffenruhms des Jünglings, und der Greis feiert ihn. An diesem Tage verfehlen ein paar alte Cameraden aus Berlin nicht, ihren Besuch abzustatten; diesen Tag versäumt Louise nicht, um sich mit Kränzen und kleinen Gaben bei dem Vater einzufinden. An diesem Tage blieb auch der Bauer Adam nicht aus.
Um ungestört erst seine Andacht zu verrichten, [140] ehe diese lieben Gäste sich einstellten, trat der Obrist diesmal früher wie gewöhnlich seinen Gang zu der Grabkapelle an. Er war mit seinem besten Rocke bekleidet, das graue Haar war sorgfältig geordnet, am Hinterhaupte durch ein Kämmchen festgehalten, denn die langen Haare pflegten im Winde zu flattern, und Louise hatte schon einige Mal bemerkt, daß dies nicht gut aussähe. Es sah aber gut aus; es gab diesem ehrwürdigen, ausdrucksvollen Greisenkopfe das poetische Ansehen eines jener ossian'schen Helden, deren weiße Locken im Winde wehen, die im Sturm dahinschreiten, und deren Füßen »die Haiden des Hochlandes« zum Teppich dienen. Im Knopfloch des Rockes trug der Obrist – und dies war unerläßlich heute – das eiserne Kreuz. Die Hand stützte sich auf den wohlbekannten Stab, und die Sirene schien an diesem Tage besonders willig ihren Fischschwanz und ihren breiten Rücken herzuleihen, um das Ihrige beizutragen, daß der wichtige Gang gut von Statten gehe.
Der Wächter am Grabdenkmal stand schon bereit, als er den Obrist kommen sah. Die Kameraden begrüßten sich – auch Jene waren mit dem bedeutungsvollen Kreuze geschmückt. Allein der Obrist ließ sich in kein Gespräch ein; die Seele voll des [141] Ruhms der unvergeßlichen Siegestage, stürmte er ganz warm von der inneren Gluth der Vaterlandsliebe in die stille Halle, und das gebrochene farbige Licht fiel auch auf sein Haupt, wie es damals aus das Haupt des Königs gefallen war.
Wer von den alten Kriegern Preußens kennt nicht diese Kapelle, in der lange Zeit die Marmorgestalt der schönen Königin allein schlummerte? Wer sah sie nicht, diese Blume aus Preußens Siegesblumenkranz? Diese Gestalt, voll Schönheit und voll Trauer, dieses reine Gebilde, das unendliche Schauer der Wehmuth aus jeder fühlenden Brust emporruft. Lange – lange Jahre sah man hierher einen Mann kommen, oft in der Morgenfrühe, oft am späten Abend – er kam immer allein, und kein Blick durfte ihm folgen, wenn dieser – von Kummer und von den Jahren gebeugte – Mann in dem Dunkel dieser stillen Mauern verschwand. Jetzt ist diesem Manne eine Stätte neben der schönen Königin bereitet. Es säuseln die alten Linden vor dem Grabhause, es waltet Stille und Frieden in der Umgegend dieses Asyls. Die beiden Königsgräber stehen – der ganzen Nation ein rührendes Vermächtniß.
Als der Obrist eingetreten und sein Haupt entblößt hatte, machte er dem Grabmal der Königin [142] eine ehrfurchtsvolle und chevalereske Verbeugung, eine Verbeugung, ähnlich der, wie ein alter Krieger von feiner Sitte eine schöne Frau begrüßt. Es war etwas in seinem starren, ehrwürdigen Gesichte, das wie Lächeln aussah, und die Hand, die sich grüßend hob, gab damit ein fast zierliches und zärtliches Zeichen. Aber als er nun zum Denkmal des Königs sich wandte, war er plötzlich wieder der alte Soldat, der im Geiste seinem König gegenüber steht, das Antlitz voll strenger Ehrfurcht, die Haltung soldatisch ernst, aber im Auge eine Wehmuth und ein Schmerz, wie sie sich selten in einem Menschenantlitz zu malen pflegen.
Er beugte jetzt seine Kniee – er betete.
Die Linden säuselten vor dem Eingange; die blauen Lichter spielten am Steinboden hin – es war stille.
Der alte Mann betete.
Er betete zu Gott, daß Preußens Ruhm blühen möge, daß das Land seiner Väter in Segen und Fülle sich tauchen, daß der gute Geist nie von dem Volke weichen möchte, das Gott groß gemacht und vor andern Völkern erhoben.
Dann nahm sein Blick einen Ausdruck unendlicher Liebe an. Ein flammend Herz war in ihm, [143] und dieses Herz legte seinen warmen Sonnenschein gleichsam auf das kalte Steinantlitz, und spürte sorgsam jedem Zuge nach, als schliefe der Mann dort, und als könne ein Blick ihn erwecken. Jetzt dachte er nicht an den Ruhm des Vaterlandes, er dachte an die Seele dessen, der einst unter dieser äußeren Gestalt unter den Menschen umhergewandelt. Gedanken, wie sie das Haupt eines Greises birgt, den selbst bald das Dunkel des Grabes umschließen soll, webten ihr geheimnißvolles Netz und ließen es auf den Todten niedersinken. Der Greis, selbst um seinen eigenen Frieden bekümmert, erflehte den ewigen Frieden für seinen König. Seine Liebe für diesen König kannte keine Grenzen. »O!« rief er, »möchten die bösen Tage, die Du erlebt, und die Du mit Deinem Volke brüderlich getheilt, zu so viel Siegeskronen der ewigen Freude Dir werden! Ich habe Dich gesehen, wie ein schweres Geschick Dich beugte, o mein König, und ich sah Dich, als Du mit den Deinigen triumphirtest! Immer – immer warst Du mein König – mein Herr! Immer standest Du so vor mir, daß ich Dich lieben, daß ich Dich ehren konnte!« –
Diese Worte glitten unwillkührlich über die zitternden Lippen. Das Haupt sank im Uebermaß des [144] Schmerzes tief und immer tiefer, bis es endlich den Marmor des Denkmals berührte, und so zusammengebrochen in unendlichem Leid, regungslos lag der alte Krieger an den Stufen.
Die Linden säuselten vor dem Eingange, die blauen Lichter spielten am Fußboden hin – es war stille.
Jetzt erhob er sich. Der Wächter des Denkmals sah am Eingange der Thür eine stolze, kriegerische Gestalt erscheinen. Es war der Obrist, der Preuße von 1815 – der Preuße, der das gedemüthigte Frankreich zu seinen Füßen sah, der Preuße, der, einer großen und starken Nation angehörend, wußte, daß diese Nation berufen war, dem Erdball Gesetze vorzuschreiben, wenn sie beharrte bei dem Heldengeiste, den ihre großen Könige ihr eingehaucht! So stand der Obrist da – ein Bild des Ruhms und der Größe seines Volkes. Der Wächter wich zur Seite; es war wie eine Erscheinung.
Der Obrist schlug den Weg ein, der gegen das Ende des Gartens zu dem Felde und dem Flusse zuführte. Er hatte bei den stolzen und wehmüthigen Erinnerungen, denen seine Seele sich ergeben, es nicht bemerkt, daß zwei Männer ihm bis in die Nähe der Grabkapelle nachgeschlichen waren. Jetzt, an [145] einem einsamen Orte, sprangen diese Auflaurer hervor, und Einer derselben schwang seinen Stock über dem greisen Haupte. Der Obrist wich zurück; er war ohne Waffen. Mit einer gebieterischen Stimme rief er Jenen zu und fragte sie, was sie von ihm wollten; er habe nichts bei sich, und ein Raubversuch sei vergebens. Sie beachteten die Worte nicht, und der Keckste dieser Burschen sprang an den Obrist heran, faßte ihn an der Brust und riß dabei das eiserne Kreuz ab. Das Kreuz in seinen Händen sehen, ihn mit Löwenstärke an der Kehle packen und ihn an einen Baumstamm schleudern – war das Werk eines Augenblicks! Der Angreifer schien auf einen Moment besinnungslos, das Kreuz war zu Boden gefallen, der Obrist hatte es aufgehoben und rasch in die Brusttasche geschoben. Sein Ruf hatte einige der in der Nähe am Kanalbau beschäftigten Arbeiter herbeigezogen; sie kamen dem Bedrängten zu Hülfe. Als die herbeieilenden Männer sichtbar wurden, wollten Jene entfliehen, doch nur dem Einen gelang es, der Andere wurde von den Arbeitern ergriffen. Er wandte sich trotzig zum Obrist und sagte: »Wir sind gedungen, Sie zu mißhandeln!« –
»Von wem?« fragte der Obrist. »Ich weiß von keinem persönlichen Feinde. Wenn Du mir offen [146] gestehst, Bursche, wer Dich gedungen, so sollst Du frei sein!«
»Nun denn – um diesen Preis!«
Der Obrist rief rasch: »Doch nein! schweig! Ich will es nicht wissen! – Der Name eines Unwürdigen, der Knechte dingt, um sich an einem alten, waffenlosen Mann zu vergreifen – ich will ihn nicht wissen. An diesem Tage – heute – soll der Klang eines solchen Namens mein Ohr nicht berühren!«
Aber schon hatte der Wind, der über die Fläche hinfuhr, den Namen »Weld« an's Ohr des Obristen geführt. Der alte Mann zuckte zusammen, dann sagte er vor sich hinlächelnd: »Eine Antwort auf mein ›Hinweg!‹ an jenem Mittage. Die Männer der neuen Freiheit haben ihre eigene Art zu antworten.«
Der Miethling entsprang, und der Obrist setzte unbehindert seinen Weg fort. Zu Hause fand er seine Thür mit Blumen bekränzt, und Louise und Adam seiner wartend. Er drückte dem Letztern die Hand und sank in die Arme der Tochter. Es war eine lange schweigende – süße Umarmung.
Der Obrist erwähnte des eben stattgehabten Vorfalls nicht.
Adam hatte das Geld für die verkauften Holz [147]figürchen gebracht. Der Ertrag war bedeutender ausgefallen als man erwartet hatte. Auf das Bild des verstorbenen Königs waren gerade jetzt viele Bestellungen eingegangen. Der Obrist schloß die kleine Summe ein, nachdem er einen Ueberschuß davon abgenommen. »Das ist mein,« sagte er zum Bauern – »das was drüber ist – gehört denen, die ärmer sind wie ich! den Cameraden, die ihr Brod vor den Thüren suchen müssen. Ich kenne solche.«
»Ich auch,« sagte Adam, indem er sich mit dem groben Tuchärmel eine Thräne aus den Augen trocknete.
»So wollen wir theilen,« entgegnete der Obrist. »Du giebst, wer Dir bekannt ist, ich Denen, die ich kenne. Und sage ihnen, daß sie es am Tage von Großbeeren bekommen. Keiner von ihnen wird diesen Tag vergessen haben und hat Einer es, so hat er zugleich den Namen seines Vaters, den seiner Mutter vergessen. Ihm ist nicht zu helfen.«
Adam hatte neuen Vorrath an Speisevorräthen mitgebracht, Louise ein paar Flaschen Wein. Der Tisch wurde vom Fenster abgerückt, nachdem der Obrist ein Dintenfaß auf einen Blechteller und eine alte Feder mit schadhaftem Spalt bei Seite gebracht, immer rufend: »Kinder! Kinder! Ihr bedenkt nicht daß man mit Dinte vorsichtig umgehen muß.«
[148] Louise und Adam zogen an den beiden Enden des Tischtuches; Jeder wollte ein größeres Ende auf seine Seite haben. Fünf Teller und die dazu gehörende Anzahl Messer und Gabeln wurde aufgelegt, ein Blumenstrauß in die Mitte des Tisches. Da nur drei Stühle sich fanden, so erhielten diese der Vater und die zwei Cameraden aus Berlin; Adam und Louise schoben sich die Bank heran, auf der die Jahrgänge des Militärwochenblatts nebst einigen alten Karten und Schlachtplänen zu liegen pflegten. Der gedeckte Tisch nahm sich ganz hübsch aus, obgleich der Blumenstrauß mit seinen prächtigen Georginen einen Schatten über das Ganze warf.
Wie Vater und Tochter den Tisch betrachteten, hafteten Beider Augen zugleich auf den leeren Stellen auf dem Eckschränkchen. Keines sprach ein Wort aber Jedes dachte bei sich: Wenn nun der Becher noch da wäre.
Aber der Becher war nicht da. Der Obrist brachte ein geschliffenes Trinkglas aus dem Schranke heran und setzte es neben die Weinflaschen. Louise konnte es nicht über sich bringen ihren Vater anzusehen, während er das Glas hinsetzte. An diesem Tage war immer aus dem Becher getrunken worden.
[149] Das schwarze Bild an der Wand – mit dem Florschleier! – An wie viel Dingen war dieses Schuld! Adam hatte so seine eigenen Gedanken, während er verstohlen Vater und Tochter beobachtete und dann auf das schwarze Bild, das wie eine alttestamentarische Witwe in ihrem Trauerschleier aussah, hinblickte.
Wieder ein Blick zwischen Tochter und Vater. Das silberne Salzbüchschen fehlte: ein altes Erbstück! Wieder ein Blick auf das schwarze Bild an der Wand! –
Die Hobelbank und die Werkzeuge waren bei Seite geschafft worden.
Jetzt traten die Gäste aus der Stadt ein. Die Kameraden grüßten herzlich und wurden herzlich begrüßt. Adam wurde steif – er wurde Soldat und stand an der Thür, bis ein gnädiger Wink ihn wieder beweglich machte und ein Händedruck ihn als vollgültig in den kleinen Kreis aufnahm. Louise entfernte sich mit der Magd Catharine, deren Marktbuch sie vorher prüfend durchgesehen hatte, in die kleine Küche, um die Suppe hereinzubringen. Als die Suppe auf dem Tische stand, trat sie dem Vater zur Seite. Der zog sie an sich heran, umschloß sie innig, und ihr Haupt an seine Brust drückend, sprach er ein kurzes Tischgebet. Adam hielt die Hände gefaltet; die Gäste standen ernsthaft da. Als man [150] sich gesetzt hatte, schmeckte Allen die karge Kost. Der Wein war gut und die Cameraden lobten ihn; Louise war stolz, denn sie hatte ihn besorgt. Ein stilles Glas auf das Andenken des verstorbenen Königs – war der einzige Trinkspruch bei dieser Tafel der Veteranen. Neben diesem Namen konnte und durfte kein anderer genannt werden. Die vielen, vielen Todten sonst noch – die braven, die überall vertheilt in fremder Erde ruhten – das Herz der Lebenden wußte um sie – aber die Zunge nannte nicht ihre Namen. Es ist etwas Heiliges um die Todten, die in schönen Ruhmestagen starben, und noch mehr Heiliges ist um die, die da hingingen in Tagen, wo es nächtlich grausete, wo Männerherzen brachen in unendlichem Leid um die Schmach des Vaterlandes. O rührt nicht unbesonnen an ein Todtenkleid! es könnte abfallen und Euch Wunder zeigen, deren Anblick Ihr nicht zu ertragen vermöget.
Das Gespräch der Veteranen über die Tage der Schlacht, und über die Ereignisse, die diesen Tagen vorangingen und ihnen folgten, lassen wir hier weg. Es glich mehr oder weniger allen jenen vertraulichen Erinnerungen, die das Alter so gern einander austauscht.
Die Gäste entfernten sich, um noch ein Casino zu besuchen. Der Obrist blieb mit Adam und seiner [151] Tochter allein. Es fing schon an im kleinen engen Zimmer zu dunkeln.
Adam mußte von seinem Hausstande erzählen, und er that es, indem er besonders viel von seinem Kinde sprach, einem armen, von der Natur sehr vernachlässigten Knaben, der als Krüppel zur Welt gekommen war. Der Vater erzählte mit freudig bewegter Stimme, wie in dem Kinde, das er bisher auch für geistig völlig verwahrlost hielt, einiges Verständniß des äußern Lebens und seiner Gestaltungen hervorzudämmern beginne. »Freilich so groß und stolz wie der Wilm wird er nie,« setzte der ehemalige Grenadier mit großer Genugthuung hinzu. »Mein Junge mißt fünf Fuß vier Zoll – das will schon etwas sagen unter den kleinen Vierundzwanzigern.«
»Laß ihn nur ein braves Herz haben,« bemerkte der Obrist; »auf die Fuß und Zoll kommt es nicht an.«
«Freilich wohl,« entgegnete der Bauer, »allein bei einem Soldaten sind auch die nicht zu verachten.« Nach diesen Gesprächen nahm Adam Braun Abschied. Vater und Tochter blieben allein. Der Vater saß am Fenster; das letzte Licht des Tages, sich hinter dem Grün des Pelargoniumbäumchens vordrängend, ruhte auf dem erhobenen Arm des Greises, und ließ durch die Dämmerung die silberweißen dichten Augenbrauen [152] schimmern. Der Greis saß gebeugt da und die Tochter wußte nicht, wohin sein Blick gerichtet war; auf sie nicht, denn das hätte sie gefühlt, wenn auch nicht gesehen: der Blick der Liebe übt eine magnetische Kraft, die unmittelbar durch das Herz, nicht durch die Sinne aufgefaßt wird. Der Vater mußte die Augen geschlossen haben, wie er öfter that, wenn er vergangener Zeiten gedachte. Und Louise – so innig vertraut war sie mit dem heiligsten Geistesleben des Greises – wußte, welche Gestalt ihm jetzt in seinem Träumen vorschwebte. Und sie hatte sich nicht geirrt. Nach einer Weile richtete sich die gebeugte Gestalt in die Höhe und der sanfte Ruf: »Komm, mein Kind!« erklang durch das Dunkel und die Stille.
Louise setzte sich neben ihren Vater und legte ihr Haupt an seine Schulter. Er umschloß dieses Haupt liebkosend mit der Hand.
»Hast Du an diesem Tage auch Deiner Mutter gedacht, Mädchen?«
»Ja, mein Vater.«
»Sie ruht fern von uns unter grünem Hügel. Hast Du auch – seiner – des Verlorenen gedacht?« Die Stimme des Greises bebte. Louise wollte antworten, er verhinderte es durch eine zärtlichere Liebkosung. »Still; ich weiß Du hast an ihn gedacht! [153] Wie solltest Du nicht. Wenn er lebte, wäre er jetzt dreiundzwanzig Jahr.«
»Und sechs Monate, Vater. Im Februar war sein Geburtstag.«
»O, Du brauchst mir das nicht zu sagen.«
Eine Pause. Es wurde immer dunkler im Stübchen. Die beiden Herzen, Vater und Kind, so nah an einander, widmeten dem Dritten, von dem sie nicht wußten, ob es noch seine Pulse zähle, ein gemeinsames, schmerzenvolles Andenken.
Wieder fuhr die Hand des Greises an der Wange des Mädchens herab.
»Es ist auch besser so!« sagte er stammelnd. »Jetzt geh' ich dahin und nehme mit mir in's Grab Alles, was meiner Zeit angehört. Wär' er da, ich könnte nicht so friedlich scheiden. Der Vater will in seinem Sohne weiterleben; er soll ausführen, was der Alte nicht mehr gekonnt und Alles, was die Vaterbrust an stolzen Hoffnungen nährt, es wird auf das junge Herz übertragen. Das ist eine thörichte Selbstsucht – mein Kind! Hältst Du es nicht dafür! Es soll Jeder für sich stehen und Keiner auf den Andern seine Hoffnungen übertragen. Das sag' ich mir oft, wenn mir das Herz brechen will in dem Gedanken, daß ich keinen Sohn habe.«
[154] Louise wagte nicht in diesem Moment mit ihrer Liebe hervorzutreten. Der Vater hatte eben diese Liebe selbstisch genannt. Und konnte sie überhaupt seine Hoffnungen erben, sie, ein armes, schwaches Mädchen? Konnte sie sich in die starke, große Welt der Männerthaten und Männerhoffnungen eindrängen?
Der Greis fuhr fort: »Heute, wie mir der Unfall begegnete – wenn er mir zur Seite gestanden! Wie hätte sein starker Arm den Vater geschützt!«
»Wie, Vater, es ist Dir ein Unfall begegnet?«
»Nichts, mein Kind – nichts, nichts! Ich träume. Und wie war sein Lächeln so süß, wie so ganz hatte er die treuen Augen der Mutter! –«
Der Obrist unterbrach sich hier und nahm das Kettchen in die Hand, das an seinem Cigarrenhalter von Horn befestigt war. »Dieses Kettchen – es ist das einzige Geräth von edlem Metall, das ich zurückbehalten – selbst das Portrait der Mutter hab' ich nicht verschont – diese Kette war an einem kleinen Pfeifchen befestigt, das ich noch am Tage vor seinem Verschwinden in seiner Hand gewahrte. Dieses Kleinod wird mich nicht verlassen. Und wenn ich sterbe, Louise, so hebe Du es auf.«
Die Tochter versprach es.
Die Gedanken des Greises kehrten zu dem Punkte [155] zurück, von dem sie ausgegangen waren, und er sagte mit einer Stimme, die in ihrer Weichheit so viel Erschütterndes hatte: »Weißt Du, was mich jetzt wieder an den Verstorbenen erinnert? Jener Bauer. Hörtest Du, wie er von seinem Kinde sprach – mit welcher Vaterfreude, und doch ist jener Knabe ein elender Krüppel; man kann kaum Freude an seiner Existenz haben, aber der Vater – er ist ordentlich stolz auf ihn! Ach, wie erklärlich finde ich das!«
»Der Bruder lebt!« rief Louise leise. Der Greis fuhr auf, als wenn eine Geisterstimme durch's Gemach getönt, dann aber sank er wieder zurück und über seine bleichen Lippen zitterten mit einem tiefen Seufzer die Worte: »todt! – todt!«