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Wir besitzen bekanntlich seit einem Vierteljahrhundert ein Originalwerk des Praxiteles, den Hermes mit dem Dionysoskinde, eine Gruppe aus parischem Marmor. Ihre Auffindung, wie das ganze olympische Ausgrabungswerk, wird ewig ein Ruhmestitel des neugeeinten Deutschen Reiches bleiben.
Die Gruppe war in der Cella des uralten Heratempels in Olympia aufgestellt gewesen, der an der Nordwestecke des heiligen Bezirkes stand und unter vielem andern auch die berühmte hocharchaische Lade des Kypselos einmal beherbergt hat. Dass in diesem Heiligtum ein Hermes mit dem Bakchoskinde von Praxiteles aufgestellt gewesen war, hatte man aus Pausanias schon gewusst; aber wer hätte gedacht, dass sich das Werk an seinem alten Aufstellungsort noch vorfinden würde, und in relativ so guter Erhaltung! Der Fund gehört zu den schönsten Glücksfällen in der Geschichte unserer Wissenschaft.
Es fehlten der Statue die Beine von den Knieen abwärts, der erhobene rechte Unterarm und die Attribute, um das Wichtigste anzuführen. Ein Wunder an Konservierung war der Kopf zu nennen. Schwierigkeiten bot der Ergänzung nur die Führung des fehlenden Armstücks; alles andere war klar.
Wir haben den jungen, freundlichen, dienstwilligen Götterboten vor uns, der das mutterlos gewordene Kind des Zeus und der Semele im Auftrag des Vaters zu den Nymphen von Nysa bringen soll, die die kleine Waise in Pflege nehmen werden. Auf seiner Wanderung hat Hermes Halt gemacht, um ein wenig zu rasten. Die Sonne drückt, er hat die Chlamys abgelegt und über den Baumstamm geworfen, auf den er den mit dem Kinde beschwerten Arm stützt. Ihn dürstet, er sieht sich vergebens nach einer Quelle um; aber da hangen ja, dicht am Weg, die allerschönsten dunkelroten Trauben! Schnell nimmt er das Scepter in die Linke, die schon das Kind trägt, und pflückt mit der Rechten die Frucht. Aber gleich wendet er den Kopf, der der Bewegung des Armes gefolgt ist, wieder herum, zum Kind; denn dieses ist plötzlich lebendig geworden und zappelt und streckt die kleine Hand verlangend aus. Der Gott Dionysos ist sich seiner Mission bewusst geworden.
So dürfen wir uns den erzählenden Inhalt der Gruppe zurechtlegen, wenn das Attribut, das zuerst Gustav Hirschfeld in die Rechte des Hermes gab, richtig ist. Die Fortsetzung der Geschichte erzählt wunderschön ein polychromer Mischkrug der vatikanischen Vasensammlung; schon Praxiteles zuliebe sollte kein Besucher Roms versäumen, ihm ein Viertelstündchen zu widmen. Es ist geschildert, wie Hermes seinen Pflegling dem greisen Silen übergiebt, die Nymphen schauen zu; und wie das geschildert ist, mit einem Nichts von Mitteln, das gehört zum Höchsten und Innigsten aller griechischen Kunst. Eine kleine Bewegung der Hand, eine leise Neigung des Hauptes wirken so, dass uns fast die Thränen in die Augen kommen.
Differenziert und stark empfinden, aber die Empfindung wenig verraten, hat zu allen Zeiten für aristokratisch gegolten. Ist das richtig, so hat es nie eine aristokratischere Kunst gegeben, als die Athens in ihrer goldenen Zeit.
Der heutige Geschmack, wenn er ehrlich ist, findet denn auch im Antlitz des Praxitelischen Hermes zu wenig »Ausdruck«, man wünschte ihn enger in die Situation verflochten. Aber was wir mit »Ausdruck« bezeichnen, hätten die Griechen der guten Zeit Grimasse genannt. Es lohnt sich, bei diesem Punkt ein wenig zu verweilen.
Man hat sich oft darüber gewundert, dass in der griechischen Kunst (die Malerei wird keine Ausnahme gemacht haben) die Entwickelung des Körpers mit der des Kopfes nicht Schritt hält. Auf den vollendeten Akten des Myron sitzen noch unbeseelte Köpfe. Beseelter wirken schon die Köpfe des Praxiteles, wie z. B. der des Hermes; aber wie stark vereinfacht, idealisiert, ja schematisiert ist auch er – nicht etwa im Verhältnis zur Natur, sondern zum lebenatmenden, die Grenzen der Illusion erreichenden Akt!
Und wie wunderlich, dass gerade die grossen modernen Künstler, Puvis de Chavannes und Hans von Marées, die unserer Kunst die Monumentalität wieder erringen wollten, genau so verfuhren! Auch bei ihnen sitzen vollkommen impassive, grossgesehene und höchst vereinfachte Köpfe auf den belebtesten Akten. Und wer wollte leugnen, dass ihre Fresken monumental im höchsten Sinne des Wortes sind, und eine tiefe Ruhe ausströmen und einen stillen Einklang bewahren wie nur ein Fries von Phidias?
Wie peinlich unruhig wirken dagegen die grossen Aktkompositionen Klingers, Sascha Schneiders und Otto Greiners mit ihren naturalistisch durchgebildeten Köpfen! Wie hängt das alles zusammen?
Ich meine so: die griechischen Künstler wollten mit dem Ganzen ihrer Gestalten wirken, nicht der Kopf allein sollte sprechen, sondern der gesamte Körper. Sollte dies aber erreicht werden, so musste die vorlaute Stimme des Kopfes in etwas zum Schweigen gebracht werden, das heisst: die vielen kleinen unter einander stimmenden Verhältnisse des Kopfes, die eine Welt für sich bilden, mussten so weit vereinfacht und ins Grosse gezogen werden, um nicht mehr kleinlich, unruhig, widerspruchsvoll zum Ganzen zu wirken. Ob diese Reduktion bewusst oder unbewusst geschah, ist für uns gleichgültig; wichtig ist für uns zu erkennen, woher denn der gesammelte Klang kommt, von dem die Komposition der plastischen Meisterwerke der Griechen zu ertönen scheint.
Ähnliches liegt ja auch bei den grossen, monumentale Wirkungen erstrebenden Freskenmalern der Renaissance vor. Auch sie suchen die Disharmonie zwischen den Verhältnissen des Kopfes und denen des Rumpfes in ähnlicher Weise auszugleichen. Dagegen halte man dann jenen grossen Italiener, der sich auch in seiner Wandmalerei von vornherein aller monumentalen Wirkungen begeben hat: wie überlebendig, kleinlich und voller Miene sind Correggios Köpfe! Die Griechen aber sind soweit gegangen, dass sie auch Porträtköpfe stark verallgemeinerten, in der guten Zeit natürlich. Wie es aussieht, wenn dann später hellenistische Bildhauer etwa den realistischen Porträtkopf eines Diadochen auf einen Akt setzten oder noch Spätere die nackte Venusgestalt mit dem Bildniskopf einer römischen Kaiserin ausstatteten, dafür haben wir ja auch die unschönen Beispiele in unsern Sammlungen. Sie mögen als Gegenprobe zu meinen Behauptungen dienen. –
Vergleicht man unseren Hermeskopf mit Jünglingsköpfen der älteren attischen Kunst, z. B. dem des myronischen Diskoswerfers oder dem des »Salbers« in der Glyptothek, so drängt sich einem auf, wie sehr viel weicher die gesamte Formbehandlung geworden ist. Was früher knapp und scharf sich absetzte, verfliesst jetzt in gemilderten Übergängen. Die Behandlung ist malerischer geworden: das Fleisch hat in erhöhtem Grade den Charakter des Fleisches angenommen, das Haar den des Haares. Speziell die Haarbehandlung des praxitelischen Hermeskopfes ist viel bewundert, und mit Recht; ihre scheinbare Flüchtigkeit steigert den Eindruck des Lockern und Zufälligen. Das Haar ist rauh gelassen; aber nicht, wie man glaubt, zum malerischen Unterschied von der feinen Politur der Gesichtspartieen, sondern damit die rote Farbe besser an dem Steine hafte, womit er hier bemalt war. Spuren dieser Bemalung haben sich bei der Auffindung der Statue noch sehen lassen, es ist nicht nötig, wie das Beispiel des sidonischen Alexandersarkophags zeigt, dieses Rot als eine Unterlage für Vergoldung zu nehmen.
Freundlich lächelt und blickt der Gott, das Grübchen im Kinn verstärkt den liebenswürdigen Eindruck. Nicht von jeher hatte die attische Kunst zur Darstellung des Windgottes den jugendlichen, palästritisch durchgebildeten Körper und den klugen Kopf (an dem vor allem die Bildung der vortretenden Unterstirn attisch ist) des vornehmen attischen Jünglings zum Vorbild genommen; als kräftigen bärtigen Mann hatte sie ihn ehedem mit Vorliebe gestaltet. Erst im Kreise des Phidias (siehe das Orpheus-Relief) hat sich die endgültige Wandlung vollzogen; er ist von nun ab in Dichtung und Kunst der freundliche, den Menschen wohlwollende, willige Götterjüngling, auf dessen nichtsnutzige Jugendstreiche man mit Entzücken blickte, dem man aber nichts ernstlich Böses zutraute; darum ist er denn auch »den oberen Göttern lieb und den unterirdischen«, wie es in jener schönen Ode bei Horaz (I, 10) heisst, aus der das herrliche Gold eines griechischen Originals unverkennbar hervorschimmert.
Was oben von der weichen Führung der Kopfpartieen gesagt ist, gilt in gleichem Masse vom Körper des Gottes. Auch hier ist die glücklichste Mitte zwischen dem zu Harten früherer und dem allzu Weichlichen folgender Zeiten eingehalten. Ein reiches Spiel warmen bewegten Lebens lässt diese wundervolle Oberfläche ahnen, und Einzelheiten, die sich dem Blick durch ihre Feinheit entziehen, werden noch der fühlenden Hand sichtbar. Um so vollkommene Gewächse, wie diesen Körper gedeihen zu lassen, genügten die glücklichsten Bedingungen der Natur von Hellas nicht; hinzutreten musste jene gedankenreiche systematische Zucht des Leibes, die uns weiter als alles andere vom griechischen Lebensideal entfernt.
Mit jener Milde, die vom Antlitz des Jünglings leuchtet, steht die Milde des Rhythmus, der die ganze Komposition beherrscht, in vollem Einklang. Er bewegt sich in zwei grossen sanften Wellenlinien; ermöglicht hat sich ihn der Künstler durch die Anwendung des Stützmotivs. Dieses liebte er sehr; es diente ihm, Weichheit und vielfältiges Leben in die Figurenkomposition zu bringen. Es löst die Spannung, es beugt die frühere Starrheit; und dass es zugleich als Symbol der Zeitstimmung, aus der die Kunst des Praxiteles geboren wurde, uns dienen könne, werden wir wohl auch behaupten dürfen.
Das Kind Dionysos ist in seiner Bedeutung fürs Auge durch Verkleinerung (mit Recht hat Treu von seiner »attributiven Kleinheit« gesprochen) und schematische Formenbehandlung so stark herabgedrückt, dass man eigentlich garnicht von einer Gruppenkomposition sprechen kann; falsch ist es aber, wenn man behauptet, der Gott sehe das Kind gar nicht an. Er thut es sofort, wenn man ihm Iris und Pupille an die richtige Stelle (in die rechten Winkel, vom Beschauer) des Augapfels zeichnet; ähnlich verhält es sich bei der Eirene mit dem Plutoskind und dem später zu besprechenden Eidechsen tötenden Apoll. Wie beliebt jener Ansatz der Pupille in den Augen winkeln war, besonders in späterer Zeit, lehrt der flüchtigste Blick in die pompejanische Wandmalerei. Hier wie dort dient er der Verlebendigung des Gesichtsausdrucks.
Eine wichtige Aufgabe fiel der Bemalung auch beim Gewandstück des Hermes zu: es wurde durch den ihm verliehenen dunkeln (roten) Farbenton gegenüber dem helleren Ton des nackten Jünglingskörpers fürs Auge in den Hintergrund gedrängt, desgleichen die Akt und Baumstamm verbindende Marmorstütze. An und für sich würde diese Chlamys freilich durch die Schönheit und freie Natürlichkeit ihrer Motive und durch die Virtuosität in der Wiedergabe des Stofflichen reichlich die Bewunderung der Tempelbesucher verdient haben; wir zollen sie ihr in höchstem Masse, und in der »Verselbständigung« des Gewandes im Stil der griechischen Plastik des 4. Jahrhunderts hat ihr Benndorf eine wichtige Rolle zugeteilt. »Eine warme Lasierung des Nackten mit durchsichtigen Farbentönen« werden wir gewiss mit Treu auch für die Figur selbst annehmen dürfen.
Von den bisher durchgeführten Ergänzungen des erhobenen rechten Arms mit der Traube vermag keine voll zu befriedigen, jede von ihnen scheint die Geschlossenheit der Komposition des Torsos zu zerreissen. Ähnlich verhält es sich ja bekanntlich mit den Ergänzungen der Venus von Milo und der Mänade des Berliner Museums, und ähnliche Erfahrungen würde der einheimsen, der der esquilinischen Venus des Konservatorenpalastes in Rom (einer der herbsten und keuschesten Knospen am Baum der griechischen Kunst) die fehlenden Arme ersetzen wollte. Eine Schönheit, die hier der Zufall bewirkt hat, wollte Max Klinger (in der wundervollen Komposition der armlosen »Amphitrite«) mit bewusster Absicht hervorbringen.
Was aber das Motiv des Spieles mit Kind und Traube selbst betrifft, so sollte man nicht zu bestreiten versuchen, dass damit ein Schritt ins Genre gemacht, einer genrehaften Auffassung der göttlichen Gestalten das Thor geöffnet ist. Wir werden ihr bei Praxiteles noch öfter begegnen; aber schon in der »Eirene« lag sie vollentwickelt vor. Es spielt sich derselbe Prozess ab wie in der Entwickelung der Madonnendarstellung; die Götter steigen von ihren Thronen aus unnahbarer Höhe schrittweise herunter, um unter Menschen menschlich zu sein. In der attischen Tragödie von Aischylos bis zu Euripides hatte sich diese Wandlung schon vor Praxiteles vollzogen.
Dass die Scheu und Gebundenheit jener älteren Typen mit der strengeren Religiosität ihrer Zeit aufs innigste zusammenhing, wer wollte es leugnen? Ja, in den Mitteilungen über Praxiteles selbst ist uns die merkwürdige Nachricht aufbewahrt, dass seine erste Darstellung der nackten Aphrodite von einer Kultgemeinde aus religiösen Gründen abgelehnt wurde.
Viel würden wir darum geben, wenn wir wüssten, wie jener Hermes mit dem Dionysoskind aussah, den Kephisodot, wie wir aus Plinius wissen, gebildet hat. Dagegen sind uns von einigen Weiterentwickelungen der Praxitelischen Gruppe die römischen Kopieen erhalten; der berühmte Silen mit dem Bakchoskinde (im Braccio nuovo des Vatikan) und die Gruppe des Herakles mit Telephos (aus pergamenischer Zeit) gehören dazu. Auch in dem sogenannten Antinous vom Belvedere hat man eine Weiterbildung des Praxitelischen Gottes mit vollem Recht erkannt.
Aber eine direkte Kopie der olympischen Gruppe giebt es in dem ungeheuren Vorrat römischer Kopieen nach griechischen Werken nicht.
Das ist eine Thatsache, die wir nicht ohne weiteres und gedankenlos hinnehmen dürfen. Vielleicht schadete dem Werke sein Aufstellungsort und es verschwand in dem Volk von Statuen, das Olympia bewohnte? Oder es musste vor anderen reicheren Geschwistern verblassen? Dies ist immerhin möglich, aber für uns schwer zu entscheiden. Freilich, wer wollte wagen, sich davon eine Vorstellung zu machen, wie jene Werke des Praxiteles, die im Altertum Weltruhm genossen, wie seine Aphrodite von Knidos und sein Eros in Thespiä im Original aussahen! Nichts kann zutreffender sein, als der Satz, womit Kekulé sein Buch über den Kopf des praxitelischen Hermes geschlossen hat: »Der Hermes zeigt nicht nur, wie viel gewonnen, sondern auch, wie unendlich viel für uns verloren ist, auch da, wo wir zu besitzen glauben.«
Endlich ist auch die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass das mythologische Schema »Hermes und Dionysoskind« ausserhalb der engeren Hellas unpopulär war. Aber wäre die praxitelische Gruppe im Altertum berühmt geworden, so hätte sie ja sicherlich die Kraft gehabt, eine solche Popularität dieses Mythus durchzusetzen.
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