Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVII

Die alten Basarows waren über die plötzliche Ankunft ihres Sohnes um so erfreuter, als sie ihn nicht erwartet hatten. Arina Wlassjewna geriet in eine solche Aufregung und hüpfte so durch das Haus, daß Wassilij Iwanowitsch sie schließlich mit einem »Rebhühnchen« verglich: das kurze Schwänzchen ihres Jäckchens verlieh ihr in der Tat etwas Vogelartiges. Er selbst brummelte nur so vor sich hin und biß auf der Bernsteinspitze seiner Pfeife herum, die er in dem einen Mundwinkel hängen hatte; oder er griff sich mit den Fingern an den Hals und drehte den Kopf, als wollte er ausprobieren, ob dieser fest angeschraubt sei, und plötzlich riß er den Mund weit auf und begann geräuschlos zu lachen.

»Ich bleibe ganze sechs Wochen bei dir, mein Alter«, sagte Basarow zu ihm, »ich will arbeiten, und störe mich gefälligst nicht.«

»Du wirst vergessen, wie ich aussehe, so wenig werde ich dich stören!« antwortete Wassilij Iwanowitsch.

Er hielt sein Versprechen. Nachdem er seinen Sohn wie beim ersten Male in seinem Kabinett untergebracht hatte, schien er sich fast vor ihm zu verstecken, auch hielt er seine Frau von allen überflüssigen Zärtlichkeitsausbrüchen zurück. »Liebes Mütterchen«, sagte er zu ihr, »wir sind Jenjuschenka bei seinem ersten Besuch etwas auf die Nerven gefallen; diesmal müssen wir es vernünftiger anstellen.« Arina Wlassjewna war mit ihrem Mann einverstanden; aber sie gewann dabei nicht viel, denn sie bekam ihren Sohn nur beim Essen zu Gesicht und hatte nun vollends Angst, ihn anzusprechen. Mitunter ruft sie: »Jenjuschenka!«, aber ehe dieser sich umsieht, lispelt sie schon, an den Schnüren ihres Ridiküls zupfend: »Nichts, nichts, es ist nichts!« Und dann geht sie zu Wassilij Iwanowitsch und spricht zu ihm, die Wange auf die Hand gestützt: »Wenn ich bloß erfahren könnte, mein Täubchen, was Jenjuschenka heute zu Mittag haben möchte: Kohlsuppe oder Roterübensuppe?« – »Warum hast du ihn nicht selbst gefragt?« – »Ich fürchtete, ihm auf die Nerven zu fallen.« Übrigens hörte Basarow selber bald auf, sich einzuschließen; das Arbeitsfieber, das ihn ergriffen hatte, verflog und machte einer quälenden Langweile und dumpfen Unruhe Platz. Eine seltsame Müdigkeit wurde in allen seinen Bewegungen bemerkbar; selbst sein Gang, bisher so fest und stürmisch kühn, war ein anderer geworden. Er machte keine einsamen Spaziergänge mehr und fing an, Gesellschaft zu suchen: er nahm den Tee im Gastzimmer ein, schlenderte mit Wassilij Iwanowitsch im Gemüsegarten herum und rauchte mit ihm, ohne ein Wort zu sagen; eines Tages erkundigte er sich sogar nach Vater Alexis. Anfangs war Wassilij Iwanowitsch über diese Veränderung erfreut; aber seine Freude sollte nicht von langer Dauer sein. »Jenjuscha macht mir Sorge«, klagte er im stillen seiner Frau; »nicht, als ob er unzufrieden oder ungehalten wäre, das wäre nicht so schlimm – aber er ist betrübt, er ist traurig: das ist geradezu das Entsetzliche. Immer schweigt er – wenn er wenigstens auf uns schimpfen wollte; er magert ab, und seine Gesichtsfarbe gefällt mir nicht.« – »Lieber Herrgott im Himmel!« flüsterte die alte Frau, »ich würde ihm so gern ein Amulett um den Hals hängen, aber er wird es nicht gestatten.« Wassilij Iwanowitsch machte einigemal den Versuch, Basarow in vorsichtigster Weise über seine Arbeit, über seine Gesundheit, über Arkadij auszufragen … Aber Basarow gab ihm nur widerwillige und gleichgültige Antworten, und als er einmal merkte, daß sein Vater vorsichtig das Gespräch auf ein bestimmtes Thema lenken wollte, sagte er ärgerlich: »Du gehst wie auf Zehenspitzen um mich herum. Diese Manier ist noch schlimmer als die frühere.« – »Aber, aber, ich will ja nichts«, beeilte sich der arme Wassilij Iwanowitsch zu erwidern. Ebenso fruchtlos blieben seine politischen Anspielungen. Als er eines Tages anläßlich der bevorstehenden Aufhebung der Leibeigenschaft das Gespräch auf den Fortschritt brachte, hoffte er, die Zustimmung seines Sohnes zu hören, aber dieser antwortete gleichgültig: »Gestern komme ich an einem Zaun vorbei und höre, wie die hiesigen Bauernburschen, anstatt irgendein altes Lied zu singen, grölen: ›Die Zeit naht bald heran, im Herzen regt die Liebe sich …‹ Da hast du deinen Fortschritt.«

Zuweilen schlug Basarow den Weg ins Dorf ein und knüpfte, seiner Gewohnheit nach, spöttelnd mit dem erstbesten Bauern eine Unterhaltung an. »Nun, Freundchen«, sagte er da zu ihm, »setz mir doch mal deine Ansichten über das Leben und die Welt auseinander; in euch steckt ja, behauptet man, die ganze Kraft und Zukunft Rußlands; mit euch beginnt eine neue Epoche in der Geschichte – ihr sollt uns sowohl die wahre Sprache geben als auch die Gesetze.« Der Bauer antwortete entweder gar nichts oder brachte höchstens Worte heraus wie: »Wir könnten's wohl … denn auch wir … beispielsweise, wie wir's beschlossen …«

»Erkläre mir mal, was eigentlich euer ›Mir‹ »Mir« bedeutet im Russischen die Dorfgemeinde, die Gemeindeversammlung, aber auch die Welt, das Weltall. Nach alter Sage ruht die Welt auf drei Walfischen. (Anm. d. Übers.) ist?« unterbrach ihn Basarow, »ist es derselbe Mir, der auf drei Fischen ruht?«

»Es ist die Erde, Väterchen, die auf drei Fischen ruht«, beruhigte ihn mit patriarchalischer Gutmütigkeit der Bauer in singendem Tone; »unseren Mir aber, das ist ja bekannt, regiert der Wille unserer Herren; darum seid ihr auch unsere Väter. Und je strenger der Herr ist, um so lieber ist es dem Bauer.«

Als Basarow eines Tages wieder einmal eine solche Rede angehört hatte, zuckte er verächtlich die Achseln und wandte sich ab, der Bauer aber schlenderte seines Weges.

»Worüber hat er da geredet?« fragte ihn ein anderer Bauer, ein Mann mittleren Alters mit finsterem Gesicht, der von der Schwelle seiner Hütte aus Zeuge des Gespräches mit Basarow gewesen war: »Wohl über die rückständigen Abgaben?«

»Ach was, rückständige Abgaben, mein Brüderchen!« antwortete der erste Bauer, und seine Stimme hatte keine Spur mehr von patriarchalisch-singendem Tonfall, sondern ließ im Gegenteil eine gewisse rauhe Unfreundlichkeit durchklingen. »Er hat nur geschwätzt, ihm juckte wohl die Zunge. Du weißt, wie so ein Herr ist: versteht der was?«

»Woher sollte er auch was verstehen!« antwortete der andere, und dann schüttelten sie die Köpfe, zogen an ihren Gürteln und begannen, von ihren Geschäften und Nöten zu reden. Leider! Basarow, der verächtlich mit den Achseln zuckte und es so gut verstand, mit den Bauern zu reden (wie er sich in einem Streit mit Pawel Petrowitsch gerühmt hatte), dieser selbstbewußte Basarow hatte keine Ahnung davon, daß diese ihn nur für einen jämmerlichen Hanswurst hielten …

Endlich fand er übrigens eine passende Beschäftigung. Eines Abends verband Wassilij Iwanowitsch in seiner Gegenwart den verwundeten Fuß eines Bauern, aber die Hände des alten Mannes zitterten, und er konnte mit dem Verband nicht fertig werden; sein Sohn kam ihm zu Hilfe, und seitdem beteiligte er sich an des Vaters ärztlicher Praxis, unterließ es aber darum nicht, über die Mittel zu spötteln, die er selbst anriet, und über seinen Vater, der sie sofort anwandte. Aber Basarows höhnische Bemerkungen reizten Wassilij Iwanowitsch nicht im geringsten; sie boten ihm sogar einen gewissen Trost. Mit zwei Fingern die Schöße seines schmierigen Schlafrockes festhaltend und sein Pfeifchen schmauchend, hörte er mit Genuß Basarow zu, und je boshafter dessen Ausfälle waren, desto gutmütiger lachte sein beglückter Vater, seine schwarzen Zähne bis auf den letzten zeigend. Er ging sogar so weit, daß er die mitunter stumpfsinnigen oder sinnlosen Schnurren wiederholte. So zum Beispiel sagte er mehrere Tage lang bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit: »Nun, das kommt an neunter Stelle«, weil sein Sohn, als er erfuhr, daß er den Frühgottesdienst besuchte, diesen Ausdruck gebraucht hatte. »Gott sei Dank! Er ist über seine Schwermut hinweg!« raunte er seiner Frau zu: »Wie er mich heute morgen abgekanzelt hat, wunderbar!« Der Gedanke aber, einen solchen Gehilfen zu haben, versetzte ihn in Entzücken und erfüllte ihn mit Stolz. »Ja, ja«, konnte er zu einer Bäuerin in einem Männerrock und mit einem hörnerartigen Kopfputz sagen, wenn er ihr ein Fläschchen Bleiwasser und eine Büchse Bilsenkrautsalbe überreichte, »du sollst, meine Gute, alle Tage Gott danken dafür, daß mein Sohn bei mir zu Besuch ist: du wirst jetzt nach neuester wissenschaftlicher Methode behandelt – verstehst du? Selbst Napoleon, der Kaiser der Franzosen, hat keinen bessern Arzt.« Und die Bäuerin, die gekommen war, um sich darüber zu beklagen, daß ihr »das Reißen hochgestiegen« sei (den Sinn dieses Ausdruckes vermochte sie übrigens selbst nicht zu erklären), die Bäuerin machte Bücklinge und griff in ihren Busen, wo sie vier in einen Handtuchzipfel eingewickelte Eier trug.

Einmal zog Basarow sogar einem Hausierer, der Schnittwaren feilhielt, einen Zahn, und obwohl dieser Zahn nichts Merkwürdiges an sich hatte, bewahrte ihn Wassilij Iwanowitsch doch als Rarität auf und wiederholte stets, wenn er ihn Vater Alexis zeigte:

»Sehen Sie nur, was das für Wurzeln sind! So 'ne Kraft besitzt mein Jewgenij! Der Händler ist geradezu in die Luft geflogen … Ich glaube, selbst eine Eiche wäre hochgeflogen …«

»Lobenswert!« sagte schließlich Vater Alexis, der nicht wußte, was er antworten und wie er den in Verzückung geratenen alten Mann loswerden sollte.

Eines Tages brachte ein Bäuerlein aus einem benachbarten Dorf seinen typhuskranken Bruder zu Wassilij Iwanowitsch. Der Unglückliche, der mit dem Gesicht zur Erde auf einem Bündel Stroh lag, war im Sterben; dunkle Flecken bedeckten seinen Körper, er hatte längst das Bewußtsein verloren. Wassilij Iwanowitsch drückte sein Bedauern aus, daß niemand früher daran gedacht hätte, sich an einen Arzt zu wenden, und erklärte den Fall für rettungslos. Der Bauer schaffte in der Tat seinen Bruder nicht mehr lebend nach Hause: dieser war schon unterwegs im Wagen gestorben.

Drei Tage später trat Basarow in das Zimmer seines Vaters und fragte ihn, ob er nicht etwas Höllenstein hätte.

»Ja, aber was willst du damit?«

»Ich brauche ihn, um eine kleine Wunde zu ätzen.«

»Bei wem denn?«

»Bei mir selbst.«

»Wie, bei dir! Wozu? Was ist es für eine Wunde? Wo ist sie?«

»Hier, am Finger. Ich war heute morgen in dem Dorf, aus dem man, du weißt ja, den Typhuskranken hergebracht hatte. Man wollte die Leiche sezieren lassen, und ich hatte mich schon lange nicht mehr darin geübt«

»Und?«

»Ich bat also den Bezirksarzt um Erlaubnis und habe mich dann dabei geschnitten.«

Wassilij Iwanowitsch wurde plötzlich kreidebleich. Ohne ein Wort zu sagen, stürzte er in sein Kabinett und kam im Nu mit einem Stückchen Höllenstein in der Hand zurück. Basarow wollte es an sich nehmen und das Zimmer verlassen.

»Um des Himmels willen!« rief Wassilij Iwanowitsch, »erlaub mir, es selbst zu tun.«

Basarow lächelte spöttisch.

»Aus lauter Liebe zur ärztlichen Praxis!«

»Scherze nicht, ich bitte dich! Zeig mal deinen Finger her. Die Wunde ist nicht groß. Tut's weh?«

»Drück fester, hab keine Angst.«

Wassilij Iwanowitsch hielt inne.

»Was meinst du, Jewgenij, wäre es nicht besser, die Wunde mit glühendem Eisen auszubrennen?«

»Das hätte früher geschehen sollen, jetzt aber wird eigentlich auch Höllenstein nichts mehr nutzen. Wenn ich infiziert bin, dann ist es schon zu spät.«

»Wie … zu spät …«, preßte Wassilij Iwanowitsch mit Mühe aus sich heraus.

»Gewiß! Es sind schon mehr als vier Stunden verstrichen.«

Wassilij Iwanowitsch drückte den Höllenstein noch einmal auf die Wunde.

»Hatte denn der Bezirksarzt keinen Höllenstein bei sich?«

»Nein.«

»Du lieber Gott! Er will Arzt sein und hat ein so notwendiges Ding nicht!«

»Da hättest du erst seine Lanzetten sehen sollen!« sagte Basarow und verließ das Zimmer.

Die ganze Zeit bis zum Abend und während des ganzen darauffolgenden Tages ersann Wassilij Iwanowitsch alle möglichen Vorwände, um das Zimmer seines Sohnes betreten zu dürfen; und obgleich er seine Wunde nicht einmal erwähnte, ja sogar bemüht war, von nebensächlichen Dingen zu sprechen, so schaute er ihm so beharrlich in die Augen und beobachtete ihn so besorgt, daß Basarow die Geduld verlor und abzureisen drohte. Wassilij Iwanowitsch gab ihm sein Wort, sich nicht mehr zu ängstigen, um so mehr, als auch Arina Wlassjewna, der er selbstverständlich alles verschwiegen hatte, anfing, ihn auszufragen, warum er nicht schlafe und was ihm zugestoßen sei. Ganze zwei Tage hielt er sich tapfer, obwohl das Aussehen seines Sohnes, den er heimlich beobachtete, ihm durchaus nicht gefallen wollte … aber am dritten Tage beim Mittagessen konnte er nicht mehr an sich halten. Basarow saß mit niedergeschlagenen Augen da und rührte keinen Bissen an.

»Warum ißt du nicht, Jewgenij?« fragte er, indem er seinem Gesicht den sorglosesten Ausdruck von der Welt verlieh. »Das Essen schmeckt doch.«

»Ich esse nicht, weil ich keine Lust habe.«

»Du hast keinen Appetit? Und der Kopf?« setzte er kleinlaut hinzu, »tut er weh?«

»Ja, warum sollte er nicht weh tun?«

Arina Wlassjewna richtete sich kerzengerade auf und spitzte die Ohren.

»Werde nicht böse, Jewgenij, ich bitte dich«, fuhr Wassilij Iwanowitsch fort, »aber erlaube mir, dir den Puls zu fühlen.«

Basarow stand auf.

»Auch ohne den Puls zu fühlen, kann ich dir sagen, daß ich Fieber habe.«

»Hattest du auch Schüttelfrost?«

»Ja. Ich will mich hinlegen. Schickt mir etwas Lindenblütentee herüber. Ich muß mich erkältet haben.«

»Darum also habe ich dich diese Nacht husten hören«, sagte Arina Wlassjewna.

»Ich habe mich erkältet«, wiederholte Basarow und entfernte sich.

Arina Wlassjewna begann Lindenblütentee zuzubereiten, während Wassilij Iwanowitsch in das Nebenzimmer ging und sich stumm das Haar raufte.

Basarow stand an diesem Tage nicht mehr auf und verbrachte die ganze Nacht in einem schweren, halbbewußten Schlummerzustand. Gegen ein Uhr morgens schlug er mit Mühe die Augen auf, wurde beim Schein der vor dem Heiligenbild brennenden Lampe des blassen Gesichts seines Vaters gewahr und hieß ihn hinausgehen; dieser gehorchte, kam aber sofort auf den Zehenspitzen zurück und fuhr, hinter der halbgeöffneten Tür eines Schrankes versteckt, fort, seinen Sohn unverwandt anzuschauen. Auch Arina Wlassjewna war nicht zu Bett gegangen; sie kam alle Augenblicke an die halbgeöffnete Tür des Zimmers geschlichen, um zu hören, »wie Jenjuschka atmet«, und nach Wassilij Iwanowitsch zu sehen. Sie konnte nur seinen regungslosen, gekrümmten Rücken sehen, aber auch das gewährte ihr eine gewisse Erleichterung. Gegen Morgen versuchte Basarow aufzustehen; aber er wurde von einem Schwindelanfall ergriffen und bekam Nasenbluten; er mußte sich wieder hinlegen. Wassilij Iwanowitsch bediente ihn schweigend; Arina Wlassjewna trat ins Zimmer und fragte, wie er sich fühle. »Besser«, antwortete er und drehte sich zur Wand um. Wassilij Iwanowitsch winkte seine Frau mit beiden Händen fort; sie biß sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen, und ging hinaus. Alles im Hause schien sich mit einem Male verfinstert zu haben; alle Gesichter hatten sich verlängert; es trat eine seltsame Stille ein; einen Schreihals von Hahn, der im Hof krähte, schaffte man sogar ins Dorf – er konnte lange nicht begreifen, warum man ihn so behandelte. Basarow blieb im Bett, das Gesicht zur Wand gekehrt. Wassilij Iwanowitsch machte Anstalten, verschiedene Fragen an ihn zu richten, aber sie ermüdeten Basarow, und so blieb der alte Mann regungslos in seinem Armstuhle sitzen, nur von Zeit zu Zeit mit den Fingern knackend. Auf einige Augenblicke trat er in den Garten hinaus und stand dort unbeweglich wie ein Ölgötze, als ob er von unsäglichem Erstaunen erfaßt worden wäre (der Ausdruck des Staunens wich überhaupt nicht von seinem Gesicht), dann kehrte er zu seinem Sohn zurück, bemüht, allen Fragen seiner Frau aus dem Wege zu gehen. Endlich packte sie seine Hand und fragte krampfhaft, fast drohend: »Was hat er?« Da merkte er, daß er sich hatte gehen lassen, und wollte sich zwingen, sie anzulächeln, aber zu seinem eigenen Entsetzen entfuhr ihm statt des Lächelns ein Gelächter. Schon am frühen Morgen hatte er den Arzt holen lassen. Er hielt es für ratsam, seinen Sohn davon in Kenntnis zu setzen, damit er nicht etwa in Zorn gerate.

Plötzlich wandte sich Basarow auf dem Diwan um, sah seinen Vater scharf und starr an und verlangte zu trinken.

Wassilij Iwanowitsch reichte ihm Wasser und fühlte ihm dabei die Stirn. Sie glühte geradezu.

»Alter«, begann Basarow mit stockender und langsamer Stimme, »es geht mir dreckig. Ich bin infiziert und in wenigen Tagen wirst du mich zu Grabe tragen.«

Wassilij Iwanowitsch schwankte, als hätte er einen heftigen Schlag auf die Beine bekommen.

»Jewgenij!« lallte er. »Was sagst du da! … Gott schütze dich! Du hast dich erkältet …«

»Geh doch!« unterbrach ihn Basarow langsam. »Ein Arzt darf nicht so sprechen. Ich habe alle Symptome einer Infektion; das weißt du selbst.«

»Wo sind denn Symptome … einer Infektion, Jewgenij? … Ich bitte dich!«

»Und das da?« brachte Basarow hervor, streifte die Hemdärmel zurück und zeigte seinem Vater die unheilverkündenden roten Flecken, die sich eingestellt hatten.

Wassilij Iwanowitsch fuhr zusammen, es überlief ihn kalt vor Schreck.

»Angenommen«, sagte er endlich, »angenommen … wenn … selbst wenn es eine Art von … Infektion …«

»Pyämie«, verbesserte ihn sein Sohn.

»Nun ja … eine Art … Epidemie …«

»Pyämie«, wiederholte Basarow barsch und scharf, »hast du denn deine Kolleghefte vergessen?«

»Nun ja, ja, wie du meinst … Aber trotzdem werden wir dich wiederherstellen!«

»Alles Quatsch! Aber es geht jetzt nicht darum. Ich hatte nicht erwartet, daß ich so bald sterben würde, – das ist ein Zufall, offen gestanden, ein recht unangenehmer Zufall. Du und die Mutter, ihr müßt es euch jetzt zunutze machen, daß ihr in Glaubenssachen so stark seid; da habt ihr Gelegenheit, eueren Glauben auf die Probe zu stellen.« Er nahm noch einen Schluck Wasser. »Ich möchte dich um etwas bitten … solange ich meinen Kopf noch in der Gewalt habe. Du weißt, morgen oder übermorgen wird mein Gehirn seinen Dienst quittieren. Schon jetzt bin ich nicht ganz sicher, ob ich mich klar ausdrücke. Als ich dalag, schien es mir immer, als liefen rote Hunde um mich herum, und du lauertest mit auf dem Anstand, so, wie man einem Birkhahn auflauert. Als wäre ich betrunken. Verstehst du mich?«

»Ich bitte dich, Jewgenij, du sprichst ganz, wie es sich gehört.«

»Um so besser; du sagtest mir, du hättest den Arzt bestellt … Damit hast du dir selbst ein Vergnügen gemacht … so mache auch mir ein Vergnügen: schicke einen Boten …«

»Zu Arkadij Nikolaitsch?« fiel der Alte ein.

»Wer ist das, Arkadij Nikolaitsch?« fragte Basarow, wie in Gedanken versunken. »Ach ja, das Vögelchen! Nein, den laß nur in Ruhe: er ist jetzt unter die Dohlen gegangen. Wundere dich nicht, es ist noch nicht das Delirium. Schicke einen Boten zu Frau Odinzowa, zu Anna Sergejewna, hier gibt es so eine Gutsbesitzerin … Weißt du?« (Wassilij Iwanowitsch nickte.) »Jewgenij Basarow lasse grüßen und ihr sagen, daß er im Sterben liegt. Willst du das ausrichten?«

»Gewiß … Aber es ist doch unmöglich, daß du stirbst, du, Jewgenij … Urteile selbst! Wo bliebe dann die Gerechtigkeit?«

»Das weiß ich nicht; aber schicke einen Boten.«

»Ich schicke ihn sofort; ich werde selbst den Brief schreiben.«

»Nein, wozu denn! Bestell ihr nur einen Gruß von mir, sonst ist nichts nötig. Und jetzt kehre ich wieder zu meinen Hunden zurück. Seltsam! Ich möchte meine Gedanken auf den Tod lenken, aber es geht nicht. Ich sehe einen Fleck … und weiter nichts.«

Er drehte sich mühsam wieder zur Wand um, während Wassilij Iwanowitsch das Kabinett verließ; kaum hatte er das Schlafzimmer seiner Frau erreicht, als er vor den Heiligenbildern auf die Knie zusammenbrach.

»Bete, Arina, bete«, stöhnte er, »unser Sohn stirbt!«

 

Der Arzt, derselbe Bezirksarzt, der über keinen Höllenstein verfügte, traf ein, untersuchte den Kranken, riet zu einem abwartenden Heilverfahren und fügte einige Worte über die Möglichkeit einer Genesung hinzu.

»Ist Ihnen je ein Fall vorgekommen, daß Leute in meinem Zustande sich nicht in das elysäische Gefilde begeben?« fragte Basarow, und dann packte er plötzlich ein Bein des schweren Tisches, der neben dem Diwan stand, rüttelte an dem Tisch und rückte ihn von der Stelle.

»Die Kraft, die Kraft ist noch da«, sagte er, »und doch muß ich sterben! … Ein Greis hat wenigstens Zeit gehabt, sich des Lebens zu entwöhnen … aber ich … Ja, versuch du einmal den Tod zu verneinen … Er verneint dich, und damit basta! … Wer weint denn da?« setzte er nach einer kurzen Weile hinzu … »Die Mutter? Die Ärmste! … Wen wird sie nun mit ihrer wunderbaren Roterübensuppe füttern? … Und auch du, Wassilij Iwanowitsch, greinst, wie mir scheint. Na, wenn das Christentum dich im Stich laßt, so werde Philosoph, Stoiker! … Du hast dich doch gerühmt, ein Philosoph zu sein?«

»Ich, ein Philosoph?« heulte Wassilij Iwanowitsch, und die Tränen rannen ihm über die Wangen.

 

Basarows Zustand verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde: die Krankheit nahm einen raschen Verlauf, wie gewöhnlich bei Vergiftungen, die man sich bei einer Sektion zugezogen hat. Die Besinnung hatte er noch nicht verloren, und er verstand alles, was man zu ihm sagte; er kämpfte noch. »Ich will nicht delirieren!« flüsterte er, die Fäuste ballend. »Welch ein Blödsinn!« Und gleich darauf redete er vor sich hin: »Zehn von acht abgezogen – wieviel bleibt übrig?« Wassilij Iwanowitsch ging wie ein Irrsinniger umher, schlug bald dieses, bald jenes Mittel vor und tat weiter nichts, als daß er seinem Sohne die Füße zudeckte. »In nasse Tücher einpacken … Brechmittel … Senfpflaster auf den Magen … Aderlaß«, sprach er mit Anstrengung. Der Arzt, den er überredet hatte, dazubleiben, sagte zu allem ja und amen, gab dem Kranken Limonade zu trinken und bat für sich selbst bald um eine Pfeife, bald um »etwas Stärkendes und Wärmendes«, d. h. um einen Schnaps. Arina Wlassjewna saß auf einem niedrigen Schemel neben der Tür und verließ ihren Platz nur von Zeit zu Zeit, um zu beten; einige Tage vorher war ihr der Toilettenspiegel aus den Händen geglitten und zerbrochen, und das hielt sie stets für eine böse Vorbedeutung; sogar Anfissuschka wußte nicht, was sie ihr sagen sollte. Timofejitsch begab sich zu Frau Odinzowa.

Die Nacht war für Basarow schlecht … Quälende Hitze verzehrte ihn. Gegen Tagesanbruch trat eine kleine Erleichterung ein. Erbat, daß Arina Wlassjewna ihm das Haar kämme, küßte ihr die Hand und nahm zwei Schluck Tee zu sich. Wassilij Iwanowitsch faßte wieder etwas Mut.

»Gott sei Dank!« wiederholte er, »die Krisis ist eingetreten … die Krisis ist vorüber.«

»Denke einer«, rief Basarow, »was ein Wort doch vermag! Da fällt ihm das Wort ›Krisis‹ ein, und er ist getröstet. Merkwürdig, wie der Mensch noch an Worte glaubt. Man schimpfe ihn zum Beispiel einen Dummkopf – und er wird ganz untröstlich sein, selbst wenn man ihm keinen Finger krümmt; man nenne ihn einen klugen Kopf – und er fühlt sich überglücklich, selbst wenn man ihm kein Geld gibt.«

Diese kleine Rede Basarows, die an seine früheren Ausfälle erinnerte, versetzte Wassilij Iwanowitsch in Rührung.

»Bravo! Ausgezeichnet gesagt, ausgezeichnet!« rief er, und tat so, als ob er klatschte.

Basarow lächelte traurig.

»Was meinst du also?« fragte er, »ist die Krisis vorüber oder ist sie erst eingetreten?«

»Du fühlst dich besser, das seh' ich und das freut mich«, antwortete Wassilij Iwanowitsch.

»Ausgezeichnet; es ist immer gut, wenn man sich freut … Aber zu der da, erinnerst du dich noch? Hast du jemand hingeschickt?«

»Ja, gewiß.«

 

Die Besserung war nicht von langer Dauer. Die Krankheitsanfälle erneuerten sich. Wassilij Iwanowitsch saß neben Basarow. Eine ganz besondere Qual schien den Greis zu martern. Er machte ein paarmal Anstalten zu sprechen, brachte es aber nicht fertig.

»Jewgenij!« stieß er endlich hervor, »mein Sohn, mein lieber Sohn!«

Diese ungewöhnliche Anrede blieb nicht ohne Wirkung auf Basarow … Er wandte ein wenig den Kopf, und sichtlich bemüht, die Last, die seinen Geist niederdrückte, von sich abzuschütteln, fragte er: »Was hast du, mein Vater?«

»Jewgenij«, fuhr Wassilij Iwanowitsch fort und ließ sich neben Basarow auf die Knie nieder, obwohl dieser die Augen geschlossen hielt und ihn nicht sehen konnte. »Jewgenij, dir geht es jetzt besser; du wirst mit Gottes Hilfe genesen; aber benutze diesen Augenblick, gewähre deiner alten Mutter und mir den Trost und erfülle deine Christenpflicht! Wie schrecklich, daß ich dir so was sagen muß! … aber noch schrecklicher wäre es, … in die Ewigkeit einzugehen, Jewgenij … Bedenke, was das …«

Die Stimme versagte dem alten Mann, und obwohl sein Sohn immer noch mit geschlossenen Augen dalag, huschte etwas Eigentümliches über sein Gesicht.

»Wenn es ein Trost für euch ist, so weigere ich mich nicht«, sagte er endlich, »aber ich glaube, es hat noch keine Eile. Du sagst ja selbst, es gehe mir besser.«

»Besser, Jewgenij, besser, aber wer weiß: alles liegt in Gottes Hand, und hat man seine Pflicht erfüllt …«

»Nein, ich will noch warten«, unterbrach ihn Basarow. »Ich stimme dir bei, daß die Krisis eingetreten ist. Und sollten wir uns geirrt haben, was liegt daran! Man gibt ja auch Leuten in besinnungslosem Zustand die Kommunion.«

»Jewgenij, ich bitte …«

»Ich will abwarten. Jetzt aber möchte ich schlafen. Stör mich nicht.«

Und er brachte den Kopf in die frühere Lage.

Der alte Mann richtete sich auf, setzte sich in den Lehnstuhl, faßte sich ans Kinn und begann, an seinen Fingern zu nagen …

Das Rattern eines gefederten Wagens, jenes Rattern, das in der ländlichen Stille so auffällt, schlug plötzlich an sein Ohr. Immer näher kamen die leichten Räder gerollt: schon konnte man das Schnauben der Pferde unterscheiden … Wassilij Iwanowitsch sprang auf und eilte ans Fenster. Eine zweisitzige Kalesche mit einem Viergespann fuhr gerade in den Hof seines Hauses. Ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, was es heißen solle, in einer Anwandlung sinnloser Freude, stürzte er auf die Freitreppe hinaus … Ein livrierter Lakai öffnete den Wagenschlag; eine schwarzverschleierte Dame in schwarzer Mantille stieg aus …

»Ich bin Frau Odinzowa«, sagte sie. »Ist Jewgenij Wassilitsch am Leben? Sie sind sein Vater? Ich habe einen Arzt mitgebracht.«

»Wohltäterin!« rief Wassilij Iwanowitsch, ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft an seine Lippen, während der Arzt, den Anna Sergejewna mitgebracht hatte, ein kleiner, bebrillter Mann mit deutschen Gesichtszügen, bedächtig aus der Kalesche stieg. »Er lebt noch, mein Jewgenij lebt, und jetzt wird er gerettet werden! Frau, Frau! … Ein Engel ist vom Himmel zu uns gekommen …«

»Großer Gott, was ist geschehen?« stammelte die alte Frau, die aus dem Wohnzimmer herbeigeeilt war, und ohne etwas zu begreifen, fiel sie gleich im Vorraum zu den Füßen Anna Sergejewnas nieder und begann wie eine Wahnsinnige ihr Kleid zu küssen.

»Was machen Sie! Was machen Sie da!« wiederholte Anna Sergejewna, aber Arina Wlassjewna hörte nicht auf sie, und Wassilij Iwanowitsch wiederholte in einem fort: »Ein Engel, ein Engel!«

»Wo ist der Kranke?« fragte endlich, nicht ohne Unwillen, der Arzt in deutscher Sprache.

Wassilij Iwanowitsch kam zur Besinnung. »Hier, hier, haben Sie die Güte, mir zu folgen, wertester Herr Kollege«, setzte er aus alter Erinnerung hinzu.

»Tja!« sagte der Deutsche mit einem süßlich-sauren Grinsen.

Wassilij Iwanowitsch führte ihn ins Kabinett.

»Hier ist ein Arzt von Anna Sergejewna Odinzowa«, sagte er, über das Ohr seines Sohnes gebeugt, »und sie selbst ist auch hier.«

Basarow schlug plötzlich die Augen auf. »Was hast du gesagt?«

»Ich sage, Anna Sergejewna Odinzowa ist hier und hat dir den Herrn Doktor mitgebracht.«

Basarow ließ die Augen umherschweifen.

»Sie ist hier? … Ich will sie sehen.«

»Du sollst sie sehen, Jewgenij, aber zuvor müssen wir uns mit dem Herrn Doktor beraten. Ich will ihm die ganze Krankheitsgeschichte erzählen, da Sidor Sidoritsch« (so hieß der Bezirksarzt) »fort ist, und wir halten eine kleine Konsultation ab.«

Basarow sah den Deutschen an. »Gut, beratet euch schnell, aber nur nicht auf Latein, denn ich weiß, was jam moritur bedeutet.«

»Der Herr scheint des Deutschen mächtig zu sein«, begann der Jünger Äskulaps, an Wassilij Iwanowitsch gewandt, in deutscher Sprache.

»Ich … habe … Sprechen Sie lieber Russisch«, versetzte der Alte.

»Aha! So, so … Da kann man wohl …«, sprach der Arzt in gebrochenem Russisch.

Und die Konsultation begann.

Eine halbe Stunde später trat Anna Sergejewna in Begleitung von Wassilij Iwanowitsch in das Kabinett. Der Arzt hatte bereits Gelegenheit gefunden, ihr zuzuflüstern, daß an ein Wiederaufkommen des Kranken nicht zu denken sei.

Sie blickte Basarow an … und blieb an der Tür stehen, dermaßen erschreckt war sie durch das entzündete und zugleich leichenblasse Gesicht mit den starr auf sie gerichteten trüben Augen. Sie wurde von einer kalten, peinigenden Angst ergriffen; flugs zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß sie ganz anderes empfinden würde, wenn sie ihn tatsächlich liebte.

»Danke«, sprach er mit Anstrengung, »ich habe es nicht erwartet. Das ist eine gute Tat. Nun sehen wir uns wieder, wie Sie versprochen haben.«

»Anna Sergejewna war so gütig …«, begann Wassilij Iwanowitsch.

»Vater, laß uns allein. Anna Sergejewna, Sie gestatten? Ich glaube, jetzt …«

Er deutete durch eine Kopfbewegung auf seinen niedergestreckten ohnmächtigen Leib.

Wassilij Iwanowitsch verließ das Zimmer.

»Danke«, wiederholte Basarow. »Das ist königlich. Man sagt, auch Könige besuchen Sterbende.«

»Jewgenij Wassilitsch, ich hoffe …«

»Ach, Anna Sergejewna, wir wollen doch die Wahrheit reden. Mit mir ist es aus. Ich bin unter die Räder geraten. Ich brauche also nicht an die Zukunft zu denken. Das Sterben ist eine alte Geschichte, für jeden aber neu. Bis jetzt habe ich noch keine Furcht …, und dann tritt Bewußtlosigkeit ein … und futsch!« (Er machte eine schwache Handbewegung.) »Nun, was soll ich Ihnen noch sagen? … Daß ich Sie geliebt habe? Das hatte schon früher keinen Sinn, und jetzt erst recht nicht. Die Liebe ist eine Form, aber meine eigene Form ist bereits in Auflösung begriffen. Ich will lieber sagen, wie herrlich Sie sind! Und nun stehen Sie da, so schön …«

Anna Sergejewna erschauerte unwillkürlich.

»Tut nichts, haben Sie keine Angst … nehmen Sie dort Platz … Kommen Sie mir nicht nahe: meine Krankheit ist ja ansteckend!«

Anna Sergejewna durchschritt rasch das Zimmer und setzte sich in den Lehnstuhl neben dem Diwan, auf dem Basarow lag.

»Sie, Großmütige!« flüsterte Basarow. »Ach, so nahe und so jung, frisch, rein … in diesem scheußlichen Zimmer! … Na, leben Sie wohl! Leben Sie lange, das ist am besten, und nutzen Sie das Leben, solange es noch Zeit ist … Schauen Sie, welch häßliches Schauspiel: ein halbzertretener Wurm, der sich noch krümmt … Ich glaubte ja auch: ich hätte viel zu tun, wer denkt da ans Sterben. Ich habe ja eine Aufgabe zu erfüllen, ich bin ja ein Riese! Und jetzt besteht die ganze Aufgabe des Riesen darin, mit Anstand zu sterben, obwohl das niemand was angeht … Gleichviel: wedeln will ich nicht.«

Basarow verstummte und begann nach seinem Glase zu tasten. Anna Sergejewna gab ihm zu trinken, ohne die Handschuhe auszuziehen und ängstlich atmend.

»Mich werden Sie vergessen«, begann er von neuem. »Der Lebende hat mit dem Toten nichts zu schaffen. Mein Vater wird Ihnen vorerzählen, was für einen Mann Rußland an mir verliere … Das ist Blödsinn, aber rauben Sie dem Alten die Illusionen nicht … Gleichviel, womit das Kind sich amüsiert … Sie wissen ja. Seien Sie auch lieb zu meiner Mutter. Leute wie sie werden Sie in Ihrer großen Welt kaum antreffen, selbst wenn Sie am hellichten Tag mit der Laterne suchten … Rußland brauche mich … Nein, das scheint nicht der Fall zu sein … wen braucht man? Den Schuster braucht man, den Schneider, den Metzger … er verkauft Fleisch … der Metzger … halt, ich rede irre … Da ist ein Wald.«

Basarow legte seine Hand auf die Stirn.

Anna Sergejewna neigte sich zu ihm herab.

»Jewgenij Wassilitsch, ich bin hier …«

Er zog sofort seine Hand zurück und richtete sich etwas auf.

»Leben Sie wohl«, sagte er mit einem plötzlichen Kraftaufwand, und seine Augen erglänzten im letzten Glanz. »Leben Sie wohl! … Hören Sie … ich habe Sie doch damals nicht geküßt … Blasen Sie die sterbende Lampe aus, und möge sie verlöschen …«

Anna Sergejewna drückte ihre Lippen auf seine Stirn.

»Und damit Schluß!« sprach er und sank auf das Kissen zurück. »Jetzt … die Finsternis …«

Anna Sergejewna ging still hinaus.

»Nun?« fragte Wassilij Iwanowitsch im Flüstertone.

»Er ist eingeschlafen«, antwortete sie kaum vernehmlich.

Basarow sollte nicht wiedererwachen. Gegen Abend verlor er völlig das Bewußtsein, und am andern Tag starb er. Vater Alexis vollzog an ihm die religiösen Zeremonien. Als dem Sterbenden die letzte Ölung gegeben wurde, als das geweihte Öl seine Brust berührte, öffnete sich eines seiner Augen, und es schien, als ob sich beim Anblick des Priesters im Ornat, des rauchenden Weihrauchfasses und der Kerzen vor den Heiligenbildern in dem erstarrenden Gesicht etwas wie der Schauder des Entsetzens widerspiegelte. Als er endlich den letzten Atemzug ausgehaucht hatte und sich im Hause allgemeines Wehklagen erhob, da wurde Wassilij Iwanowitsch von plötzlicher Raserei besessen. »Ich habe gesagt, ich würde mich auflehnen«, schrie er heiser mit glühendem, verzerrtem Gesicht, mit der geballten Faust in der Luft fuchtelnd, als wollte er jemand bedrohen, »und ich lehne mich auf!« Aber Arina Wlassjewna hängte sich tränenüberströmt an seinen Hals, und beide sanken auf die Knie. »So lagen sie«, erzählte später Anfissuschka in der Gesindestube, »nebeneinander und hatten ihre Köpfchen gesenkt, gerade wie die Lämmchen zur Mittagszeit …«

 

Doch die Mittagsglut vergeht, und es kommt der Abend, und die Nacht, und dann auch die Heimkehr in die stille Zufluchtstätte, wo die Gemarterten und Mühbeladenen süßen Schlaf finden.


 << zurück weiter >>