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XIII

Das kleine Herrenhaus im Moskauer Stil, das Awdotja Nikitischna (oder Eudoxia) Kukschina bewohnte, war in einer unlängst abgebrannten Straße der Stadt *** gelegen; bekanntlich brennen unsere Gouvernementsstädte alle fünf Jahre. Neben der Eingangstür, über einer schief angenagelten Visitenkarte, war der Griff des Klingelzuges zu sehen; im Vorzimmer trat den Besuchern eine Frau entgegen, die halb Dienstmädchen, halb Gesellschaftsdame zu sein schien und eine Haube trug – ein untrügliches Zeichen für die fortschrittlichen Bestrebungen der Herrin des Hauses. Sitnikow erkundigte sich, ob Eudoxia Nikitschina zu Hause sei.

»Sind Sie es, Viktor?« ertönte aus dem anstoßenden Zimmer eine Fistelstimme. »Treten Sie nur ein!«

Die Frau mit der Haube verschwand sofort.

»Ich bin nicht allein«, sagte Sitnikow, und mit einer flotten Bewegung seinen Schnurrock abstreifend, unter dem eine Art Sackpaletot zum Vorschein kam, warf er Arkadij und Basarow einen kecken Blick zu.

»Es ist egal«, antwortete die Stimme. »Entrez! Französisch: »Treten Sie ein! Herein!« (Anm. d. Übers.)«

Die jungen Leute traten ein. Das Zimmer, in das sie gerieten, glich eher einem Arbeitskabinett als einem Empfangssalon. Papiere, Briefe, dicke Hefte russischer Zeitschriften, zum größten Teil unaufgeschnitten, lagen unordentlich auf den staubbedeckten Tischen herum; überall sah man die weißen Flecken hingeworfener Zigarettenstummel. Auf einem Ledersofa ruhte in halbliegender Stellung eine noch junge Dame mit blondem, etwas unordentlichem Haar in einem seidenen, nicht ganz sauberen Kleid, mit schweren Armbändern an den kurzen Armen und einem Spitzentuch auf dem Kopf. Sie stand vom Sofa auf, zog sich nachlässig eine mit vergilbtem Hermelin gefütterte Samtmantille über die Schultern, sagte träge: »Guten Tag, Viktor!« und drückte Sitnikow die Hand.

»Basarow, Kirsanow«, sagte dieser kurz, Basarow nachahmend.

»Seien Sie willkommen!« antwortete Frau Kukschina, und auf Basarow ihre runden Augen richtend, zwischen denen ein verwaistes Stupsnäschen rot schimmerte, setzte sie hinzu: »Ich kenne Sie« und drückte ihm ebenfalls die Hand.

Basarow verzog das Gesicht. Die kleine, unscheinbare Gestalt des emanzipierten Weibes hatte nichts Häßliches an sich; aber der Ausdruck ihres Gesichts berührte den Zuschauer unangenehm. Man fühlte sich versucht, sie zu fragen: ›Was fehlt dir? Hast du Hunger? Oder langweilst du dich? Oder hast du Angst? Warum blähst du dich so auf?‹ Ebenso wie Sitnikow fühlte sie sich sehr benommen. Ihre Bewegungen und ihre Sprache hatten etwas Ungezwungenes und zugleich Linkisches an sich; sie selbst hielt sich offenbar für ein gutmütiges, einfaches Geschöpf, doch was sie auch tun mochte, es hatte ständig den Anschein, als ob sie gerade etwas anderes tun wollte; sie tat alles, wie die Kinder sagen, »mit Willen«, das heißt gekünstelt, unnatürlich.

»Ja, ja, ich kenne Sie, Basarow«, wiederholte sie. (Nach einer vielen Provinz- und auch Moskauer Damen eigenen Manier redete sie die Männer gleich am ersten Tage ihrer Bekanntschaft mit ihren Familiennamen an.) »Wollen Sie eine Zigarre?«

»Eine Zigarre wäre nicht übel«, fiel Sitnikow ein, der sich bereits mit hochgezogenem Bein in einem Sessel räkelte. »Aber setzen Sie uns ein Frühstück vor. Wir haben entsetzlichen Hunger; lassen Sie für uns auch ein Fläschchen Champagner auffahren.«

»Ach, Sie Sybarit!« rief Eudoxia und brach in Lachen aus. (Wenn sie lachte, wurde ihr oberes Zahnfleisch sichtbar.) »Nicht wahr, Basarow, er ist ein Sybarit?«

»Ich liebe des Lebens Komfort«, erklärte Sitnikow mit wichtiger Miene. »Aber das hindert mich nicht, ein Liberaler zu sein.«

»Doch, doch, das hindert«, rief Eudoxia, befahl jedoch ihrer Bedienerin, für Frühstück und Champagner zu sorgen. »Was denken Sie darüber?« setzte sie hinzu, sich an Basarow wendend. »Ich bin überzeugt, Sie teilen meine Ansicht.«

»Keineswegs«, erwiderte Basarow. »Ein Stück Fleisch ist besser als ein Stück Brot, selbst vom chemischen Standpunkt aus gesehen.«

»Sie beschäftigen sich mit Chemie? Das ist meine Passion! Ich habe sogar einen Kitt erfunden.«

»Einen Kitt? Sie?«

»Ja, ich. Und wissen Sie, zu welchem Zweck? Um Puppen zu machen, damit die Puppenköpfe nicht kaputtgehen. Oh, ich bin doch praktisch. Aber ich bin damit noch nicht ganz fertig. Ich muß erst noch im Liebig nachlesen. Übrigens, haben Sie in den ›Moskauer Nachrichten‹ Kisljakows Artikel über die Frauenarbeit gelesen? Bitte, lesen Sie ihn. Sie interessieren sich doch für die Frauenfrage? Und auch für die Schulen? Womit beschäftigt sich Ihr Freund? Wie heißt er?«

Frau Kukschina warf geziert nachlässig mit den Fragen um sich, ohne auf Antwort zu warten; verzogene Kinder pflegen so mit ihren Wärterinnen zu sprechen.

»Ich heiße Arkadij Nikolajewitsch Kirsanow und beschäftige mich mit nichts«, antwortete Arkadij.

Eudoxia brach in ein lautes Gelächter aus.

»Das ist nett! Warum rauchen Sie nicht? Viktor, wissen Sie, daß ich auf Sie böse bin?«

»Weswegen?«

»Man sagt, Sie hätten wieder angefangen, für George Sand zu schwärmen. Eine zurückgebliebene Frau und weiter nichts! Wie kann man sie nur mit Emerson vergleichen! Sie hat gar keine Ideen, weder über die Erziehung noch über die Physiologie – oder sonst was. Ich bin überzeugt, sie hat von Embryologie nicht einmal eine Ahnung – und wie kann man in unserer Zeit ohne Embryologie auskommen?« (Hier breitete Eudoxia sogar die Arme aus.) »Ach, was für einen wundervollen Artikel Jelissewitsch doch über dieses Thema geschrieben hat! Das ist ein genialer Herr!« (Eudoxia gebrauchte stets das Wort »Herr« statt »Mann«.) »Basarow, setzen Sie sich zu mir aufs Sofa. Sie wissen vielleicht nicht, daß ich eine heillose Angst vor Ihnen habe …«

»Warum denn? Darf ich fragen?«

»Sie sind ein gefährlicher Herr. Sie kritisieren ja alles. Ach du lieber Gott!, es ist zum Lachen, ich spreche wie eine Gutsbesitzersfrau aus der Steppe. Ich bin übrigens tatsächlich eine Gutsbesitzerin. Ich verwalte selber mein Gut, und denken Sie nur, ich habe einen Dorfschulzen Jerofej, ein merkwürdiger Typ, ganz wie Coopers Pfadfinder: er hat etwas so Urwüchsiges an sich! Ich habe mich hier für immer niedergelassen; eine unerträgliche Stadt, nicht wahr? Aber was soll man machen?«

»Eine Stadt wie jede andere«, bemerkte Basarow kühl.

»Die Menschen haben hier so kleinliche Interessen, entsetzlich! Früher lebte ich des Winters in Moskau … aber jetzt hat sich Monsieur Kukschin, mein Ehegespons, dort niedergelassen. Übrigens ist jetzt Moskau … ich weiß nicht warum … auch nicht mehr das, was es war. Ich habe vor, eine kleine Reise nach dem Ausland zu machen, im vorigen Jahr war ich beinah schon dabei.«

»Natürlich nach Paris?« fragte Basarow.

»Nach Paris und nach Heidelberg.«

»Wozu nach Heidelberg?«

»Ich bitte Sie, da lebt ja Bunsen.«

Hierauf fand Basarow nichts zu erwidern.

»Pierre Saposhnikow … kennen Sie ihn?«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Ich bitte Sie, Pierre Saposhnikow … er verkehrt bei Lydia Chostatowa.«

»Auch die kenne ich nicht.«

»Nun, er hat mir seine Begleitung angeboten. Ich bin, Gott sei Dank!, frei, ich habe keine Kinder … Was hab' ich da gesagt: ›Gott sei Dank!‹ Übrigens ist es ganz egal.«

Eudoxia drehte sich mit ihren von Tabak gebräunten Fingern eine Zigarette, strich mit der Zungenspitze über sie, sog ein wenig an ihr und begann zu rauchen. Die Bedienerin erschien mit einem Tablett.

»Ah, da ist das Frühstück! Wollen Sie etwas genießen? Viktor, entkorken Sie die Flasche, das ist Ihr Amt.«

»Mein Amt, mein Amt«, murmelte Sitnikow und ließ wieder sein quietschendes Lachen hören.

»Gibt es hier hübsche Frauen?« fragte Basarow, als er sein drittes Glas leerte.

»Gewiß«, antwortete Eudoxia. »Aber Sie sind alle so inhaltlos. Da ist zum Beispiel mon amie Französisch: meine Freundin. (Anm. d. Übers.), die Odinzowa – recht hübsch. Nur schade, daß ihr Ruf – soso ist … Übrigens wäre das einerlei, aber keine Spur von einer freien Anschauung, keine Weite, nichts … von alledem. Das ganze Erziehungssystem muß geändert werden. Ich habe schon darüber nachgedacht: unsere Frauen sind sehr schlecht erzogen.«

»Sie werden mit ihnen nichts anfangen können«, fiel Sitnikow ein. »Man muß sie verachten, und ich verachte sie auch, total und absolut!« (Es war für Sitnikow eine höchst wohltuende Empfindung, verachten zu können und dieser Verachtung Ausdruck geben zu dürfen; mit besonderer Vorliebe griff er die Frauen an, ohne zu ahnen, daß es ihm bevorstand, einige Monate später vor seiner eigenen Frau auf dem Bauch zu kriechen, und zwar nur deshalb, weil sie eine geborene Fürstin Durdoleossowa war.) »Nicht eine einzige von ihnen wäre imstande, unserem Gespräch zu folgen, nicht eine einzige von ihnen verdient, daß wir, ernste Männer, über sie reden!«

»Sie brauchen auch gar nicht unserem Gespräch zu folgen«, meinte Basarow.

»Von wem sprechen Sie?« fragte Eudoxia.

»Von hübschen Frauen.«

»Wie, Sie teilen also die Ansicht Proudhons?«

Basarow richtete sich hochmütig auf.

»Ich teile niemands Ansichten; ich habe meine eigenen.«

»Nieder mit den Autoritäten!« rief Sitnikow, glücklich, daß er einmal Gelegenheit hatte, in Gegenwart eines Mannes, vor dem er auf den Knien lag, ein kräftiges Wort vorzubringen.

»Aber selbst Macaulay …«, begann die Kukschina.

»Nieder mit Macaulay!« donnerte Sitnikow. »Sie treten für diese Weiber ein?«

»Nicht für die Weiber, sondern für die Frauenrechte, die ich bis auf meinen letzten Blutstropfen zu verteidigen geschworen habe.«

»Nieder!« Hier aber hielt Sitnikow inne. »Aber Sie verneine ich ja gar nicht«, setzte er hinzu.

»Doch, ich sehe, Sie sind Slawophile!«

»Nein, ich bin kein Slawophile, wenn auch freilich …«

»Doch! doch! doch! Sie sind Slawophile! Sie sind ein Anhänger des Domostroj »Domostroj« – »Hausstand« – bekanntes altrussisches Werk aus dem 16. Jahrhundert über das Familienleben, verlangt patriarchalische Sitten und eine untergeordnete Stellung der Frau. (Anm. d. Übers.). Ihnen fehlt nur noch die Peitsche in der Hand!«

»Die Peitsche ist ein nützliches Ding«, bemerkte Basarow. »Aber da sind wir bei dem letzten Tropfen angelangt …«

»Wovon?« fragte Eudoxia.

»Vom Champagner, verehrteste Awdotja Nikitischna, vom Champagner – nicht von Ihrem Blut.«

»Ich kann nicht gleichgültig bleiben, wenn ich höre, daß man über die Frauen herzieht«, fuhr Eudoxia fort. »Das ist entsetzlich, entsetzlich. Statt über sie herzufallen, sollten Sie lieber Michelets Buch ›De l'amour‹ lesen. Gottvoll! Meine Herren, sprechen wir von der Liebe«, setzte Eudoxia hinzu und ließ schmachtend ihre Hand auf das zerknüllte Sofakissen sinken.

Plötzlich trat Schweigen ein.

»Aber wozu von der Liebe reden?« sagte Basarow. »Sie haben da von einer Frau Odinzowa gesprochen … So heißt sie doch? Was ist das für eine Dame?«

»Himmlisch, himmlisch ist sie!« piepste Sitnikow. »Ich werde sie vorstellen. Geistvoll, reich und Witwe. Leider ist sie noch nicht genügend entwickelt: sie hätte unsere Eudoxia näher kennenlernen sollen. Eudoxia, ich trinke auf Ihr Wohl! Stoßen wir an! Et toc, et toc, et tin-tin-tin! Et toc, et toc, et tin-tin-tin! Im Französischen eine lautmalerische Schilderung der Geräusche beim Anstoßen mit Gläsern. (Anm. d. Übers.)«

»Viktor, Sie sind ein Schelm!«

Das Frühstück zog sich in die Länge. Auf die erste Flasche Champagner folgte eine zweite, eine dritte und sogar eine vierte … Eudoxia schwatzte unausgesetzt, Sitnikow sekundierte ihr. Sie sprachen viel davon, was die Ehe sei – ob ein Vorurteil oder ein Verbrechen, und wie die Menschen zur Welt kämen, ob einander gleich oder nicht, und worin eigentlich die Individualität bestehe. Es kam schließlich so weit, daß Eudoxia, ganz rot vom genossenen Wein, mit ihren flachen Nägeln auf den Tasten ihres verstimmten Klaviers herumzuhämmern und mit heiserer Stimme zu singen anfing – zuerst Zigeunerlieder und dann die Romanze von Seimour-Chiff: »Es träumt das schlummernde Granada«, während Sitnikow, das Haupt mit einer Schärpe umwunden, die Rolle des zaghaften Liebhabers spielte. Bei den Worten:

»Und deine Lippen mit den meinen
In des Kusses Glut vereinen«

konnte Arkadij schließlich nicht länger an sich halten.

»Meine Herren, das erinnert schon fast an ein Irrenhaus«, sagte er laut.

Basarow, der nur von Zeit zu Zeit eine höhnische Bemerkung in die Unterhaltung einflocht – er widmete sich vielmehr dem Champagner –, gähnte laut, stand auf und ging, ohne sich von der Dame des Hauses zu verabschieden, mit Arkadij fort.

Sitnikow sprang hinter ihnen her.

»Na, na?« fragte er, ihnen unterwürfig bald von links, bald von rechts nachlaufend, »hatte ich nicht recht, daß sie eine bedeutende Persönlichkeit ist! Solcher Frauen müßten wir mehr haben. Sie ist in ihrer Art eine hochsittliche Erscheinung.«

»Ist diese Anstalt deines Vaters auch eine sittliche Erscheinung?« fragte Basarow, indem er auf eine Schenke wies, an der sie gerade vorbeikamen.

Sitnikow brach wieder in sein quietschendes Lachen aus. Er schämte sich seiner Herkunft sehr und wußte nicht, ob er sich durch Basarows unerwartetes Duzen geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte.


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