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X

Etwa vierzehn Tage waren verstrichen. Das Leben in Marjino ging seinen gewohnten Gang; Arkadij faulenzte, Basarow arbeitete. Alle im Hause hatten sich an ihn, an sein saloppes Wesen, an seine knappe, abgehackte Redeweise gewöhnt. Namentlich Fenitschka war so vertraut mit ihm geworden, daß sie ihn eines Nachts, als Mitja Krämpfe bekam, wecken ließ; und er erschien, blieb, seiner Gewohnheit gemäß halb scherzend, halb gähnend, zwei Stunden bei ihr und half dem Kinde. Pawel Petrowitsch hingegen haßte Basarow mit allen Fibern seiner Seele; er hielt ihn für einen hochmütigen, unverschämten Zyniker und Plebejer; er hatte Basarow im Verdacht, daß er ihn geringschätzte, ja beinahe verachtete – ihn, Pawel Kirsanow! Nikolai Petrowitsch hatte eine gelinde Angst vor dem jungen »Nihilisten« und bezweifelte, daß dieser auf Arkadij einen günstigen Einfluß ausübte; aber er hörte ihn gerne sprechen und war gerne bei seinen physikalischen und chemischen Experimenten zugegen. Basarow hatte ein Mikroskop mitgebracht und machte sich stundenlang mit ihm zu schaffen. Auch die Diener hatten ihn in ihr Herz geschlossen, obgleich er über sie witzelte; sie sahen in ihm einen Mann, der ihresgleichen, kein feiner Herr war. Dunjascha kicherte in seiner Gegenwart und warf ihm von der Seite vielsagende Blicke zu, wenn sie wie eine »Wachtel« an ihm vorübertrippelte; Pjotr, dieser im höchsten Grade selbstgefällige und beschränkte Mensch, der ewig mit gespannt gerunzelter Stirn umherging, ein Mann, dessen ganzes Verdienst darin bestand, daß er ein höfliches Gesicht machte, buchstabieren konnte und sich oft den Rock bürstete – auch Pjotr grunzte und strahlte, sobald ihm Basarow Aufmerksamkeit schenkte; die Jungens des Hofgesindes liefen wie junge Hunde hinter dem »Dokter« her. Nur der alte Prokofjitsch mochte ihn nicht leiden, bei Tisch bediente er ihn mit düsterer Miene, nannte ihn einen »Schinder« und »Landstreicher« und versicherte, er sehe mit seinem Backenbart aus wie ein Schwein im Gebüsch. Prokofjitsch war in seiner Art nicht weniger Aristokrat als Pawel Petrowitsch.

Es begannen die schönsten Tage des Jahres, die ersten Junitage. Das Wetter war herrlich; allerdings drohte von ferne wieder die Cholera; aber die Bewohner des …er Gouvernements waren an ihren Besuch schon gewöhnt. Basarow stand in der Regel sehr früh auf und wanderte zwei, drei Werst vom Hause weit, nicht um spazierenzugehen – zwecklose Promenaden mochte er nicht leiden –, sondern um Pflanzen und Insekten zu sammeln. Manchmal nahm er Arkadij mit. Auf dem Rückweg entspann sich gewöhnlich eine Diskussion zwischen ihnen, und Arkadij wurde gewöhnlich geschlagen, obgleich er mehr sprach als sein Kamerad.

Als sie eines Tages etwas lange ausblieben, ging Nikolai Petrowitsch ihnen im Garten entgegen. In der Nähe der Laube vernahm er die raschen Schritte und die Stimmen der beiden jungen Männer. Sie gingen an der anderen Seite der Laube und konnten ihn nicht sehen.

»Du kennst meinen Vater zu wenig«, sprach Arkadij.

Nikolai Petrowitsch hielt den Atem an.

»Dein Vater ist ein braver Bursche«, versetzte Basarow, »aber er ist ein ausgedienter Mann, er hat sein Liedchen ausgesungen.«

Nikolai Petrowitsch spitzte die Ohren … Arkadij erwiderte nichts.

Der »ausgediente Mann« blieb noch einige Minuten regungslos stehen und trottete dann langsam nach Hause.

»Vorgestern sah ich gerade, wie er Puschkin las«, fuhr inzwischen Basarow fort. »Bitte, mach ihm doch begreiflich, daß sich das absolut nicht schickt. Er ist doch kein Knabe mehr: es ist Zeit, mit diesem Plunder Schluß zu machen. Wozu in unserer Zeit den Romantiker spielen! Gib ihm etwas Vernünftiges zu lesen.«

»Was könnte man ihm da geben?«

»Ich denke, man könnte mit Büchners ›Kraft und Stoff‹ anfangen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, bemerkte Arkadij zustimmend, »›Kraft und Stoff‹ ist populär geschrieben.«

 

»So ist es also!« sprach am selben Tag noch nach dem Mittagsmahl Nikolai Petrowitsch zu seinem Bruder, während er in dessen Arbeitszimmer saß. »Wir sind unter die ausgedienten Leute geraten, unser Liedchen ist ausgesungen. Nun, vielleicht hat Basarow recht; aber ich gestehe, eines berührt mich schmerzlich; gerade jetzt hoffte ich, mich eng an Arkadij anzuschließen und mich mit ihm anzufreunden; und da stellt es sich heraus, daß ich zurückgeblieben bin; er hat mich überholt, und wir können einander nicht verstehen.«

»Wieso hat er dich überholt? Und wodurch unterscheidet er sich so sehr von uns beiden?« rief Pawel Petrowitsch ungeduldig. »Das alles hat ihm dieser Signor, dieser Nihilist, in den Kopf gesetzt. Ich hasse diesen Heilkünstler; meiner Meinung nach ist er einfach ein Scharlatan; ich bin überzeugt, daß er mit all seinen Fröschen es auch in der Physik nicht weit gebracht hat.«

»Nein, mein Bruder, sag das nicht: Basarow ist gescheit und verfügt über Kenntnisse.«

»Und wie ekelhaft ehrgeizig er ist!« unterbrach ihn wieder Pawel Petrowitsch.

»Ja«, bemerkte Nikolai Petrowitsch, »er ist ehrgeizig. Aber anders geht es wohl nicht; nur eins will nicht in meinen Kopf hinein. Ich glaube alles zu tun, um nicht hinter meiner Zeit zurückzubleiben: ich habe meine Bauern versorgt; ich habe eine Farm eingerichtet, so daß man mich sogar im ganzen Gouvernement als Roten verschrien hat; ich lese, ich studiere, ich bin überhaupt bemüht, den Anforderungen der Jetztzeit zu genügen, und da sagen sie, ich hätte mein Liedchen ausgesungen. Ja, lieber Bruder, ich fange selber an zu glauben, daß mein Lied wirklich aus ist.«

»Warum denn?«

»Eben darum. Da sitze ich heute und lese Puschkin … Ich glaube, es waren gerade ›Die Zigeuner‹ … Plötzlich tritt Arkadij schweigend auf mich zu und nimmt mir mit so einem freundlichen Bedauern im Gesicht, als wär' ich ein Kind, das Buch aus der Hand und legt ein anderes, ein deutsches Buch vor mich hin …, dann lächelt er und geht hinaus, nimmt aber den Puschkin mit.«

»Soso! Und was für ein Buch hat er dir gegeben?«

»Dieses da.«

Und Nikolai Petrowitsch zog aus der Hintertasche seines Rocks die neunte Auflage der ominösen Schrift von Büchner.

Pawel Petrowitsch drehte das Buch in den Händen.

»Hm!« brummte er, »Arkadij ist um deine Erziehung besorgt. Und hast du's zu lesen versucht?«

»Ja.«

»Und?«

»Entweder bin ich dumm oder das alles ist Unsinn. Wahrscheinlich bin ich dumm.«

»Hast du dein Deutsch nicht vergessen?« fragte Pawel Petrowitsch.

»Ich verstehe Deutsch.«

Pawel Petrowitsch drehte wieder das Buch in den Händen und blickte verstohlen seinen Bruder an. Beide schwiegen.

»Apropos«, sagte Nikolai Petrowitsch, der offenbar dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte, »ich habe einen Brief von Koljasin erhalten.«

»Von Matwej Iljitsch?«

»Ja. Er ist in *** eingetroffen, um das Gouvernement zu inspizieren. Er ist jetzt ein großes Tier. Er schreibt mir, er möchte uns rein verwandtschaftlich wiedersehen und lädt mich ein, mit dir und Arkascha in die Stadt zu kommen.«

»Gehst du hin?« fragte Pawel Petrowitsch.

»Nein. Und du?«

»Auch ich werde nicht hingehen. Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein, mich seiner schönen Augen wegen fünfzig Werst weit hinzuschleppen. Matthias möchte sich uns in seiner ganzen Herrlichkeit präsentieren. Hol ihn der Teufel! Möge er sich mit dem Weihrauch des Gouvernements begnügen; was braucht er noch den unsern! Als ob das etwas Besonderes wäre – Geheimrat! Wäre ich im Dienst geblieben, hätte ich weiter das dumme Zeug getragen, so wäre ich jetzt Generaladjutant. Zudem sind wir ja ausgediente Leute!«

»Ja, mein Bruder; allem Anschein nach sollten wir uns schon den Sarg bestellen und die Hände auf der Brust falten«, bemerkte Nikolai Petrowitsch mit einem Seufzer.

»Nein, ich werde das Feld nicht so leicht räumen«, murmelte sein Bruder. »Ich werde diesem Heilkünstler noch eine Schlacht liefern; ich sehe es kommen.«

Die Schlacht fand noch am selben Abend am Teetisch statt. Pawel Petrowitsch betrat das Zimmer schon kampfbereit, gereizt und entschlossen. Er wartete nur auf einen Vorwand, um sich auf seinen Feind zu stürzen, aber der rechte Anlaß bot sich lange nicht. Basarow sprach überhaupt wenig in Gegenwart der »beiden alten Knaben« (wie er die beiden Kirsanows nannte); an diesem Abend war er schlecht gelaunt und leerte schweigend eine Tasse nach der andern. Pawel Petrowitsch verging förmlich vor Ungeduld; endlich ging sein Wunsch in Erfüllung.

Die Rede kam auf einen Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft. »Ein Dreckskerl, ein Aristokratenlümmel«, bemerkte gleichgültig Basarow, der in Petersburg mit ihm verkehrt hatte.

»Darf ich Sie fragen«, begann Pawel Petrowitsch, und seine Lippen zitterten, »ob nach Ihren Begriffen die Worte ›Dreckskerl‹ und ›Aristokrat‹ gleichbedeutend sind?«

»Ich habe ›Aristokratenlümmel‹ gesagt«, versetzte Basarow, indem er lässig einen Schluck Tee nahm.

»Gewiß; aber ich darf wohl annehmen, daß Sie von den Aristokraten derselben Meinung sind wie von den Aristokratenlümmeln. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu erklären, daß ich diese Meinung nicht teile. Ich darf wohl sagen, daß ich allgemein als liberaler, fortschrittsfreundlicher Mann bekannt bin; aber eben deshalb respektiere ich die Aristokraten, die wahren Aristokraten. Denken Sie nur, mein verehrter Herr« (bei diesen Worten erhob Basarow den Blick auf Pawel Petrowitsch), »denken Sie nur, mein verehrter Herr«, wiederholte er mit Ingrimm, »an die englischen Aristokraten. Nicht um eines Haares Breite lassen sie von ihren Rechten ab, und darum achten sie die Rechte der anderen; sie fordern, daß man die Pflichten ihnen gegenüber erfülle, und darum kommen sie auch ihren Verpflichtungen nach. Die Aristokratie hat England die Freiheit gebracht und ist deren Stütze.«

»Wir haben dieses Lied schon viele Male gehört«, antwortete Basarow, »aber was wollen Sie damit beweisen?«

»Mit das will ich beweisen, mein verehrter Herr« (wenn Pawel Petrowitsch zornig war, gebrauchte er absichtlich gewisse falsche Redeformen, obgleich er sehr wohl wußte, daß sie gegen die Regeln der Grammatik verstoßen. Diese Marotte war ein Erbstück aus den Zeiten Alexanders I. Wenn es bei den damaligen hohen Herren in den seltenen Fällen geschah, daß sie ihre Muttersprache redeten, so benutzten sie ihnen volkstümlich erscheinende Redewendungen, als wollten sie damit zu verstehen geben, daß sie als waschechte Russen und hohe Würdenträger zugleich die Schulregeln mißachten dürfen) –, »mit das will ich beweisen, daß es ohne Gefühl der eigenen Würde, ohne Selbstachtung – und in der Aristokratie sind diese Gefühle wohl entwickelt – keine solide Grundlage für das öffentliche … bien public Französisch: öffentliches Wohl. (Anm. d. Übers.) … für das soziale Gebäude geben kann. Die Persönlichkeit, mein verehrter Herr, das ist die Hauptsache; die menschliche Persönlichkeit muß felsenfest dastehen, denn auf ihr baut sich alles auf. Ich weiß wohl, daß Sie zum Beispiel meine Gewohnheiten, meine Toilette, schließlich meine Reinlichkeit lächerlich zu finden belieben, aber all das entspringt dem Gefühl der Selbstachtung, dem Gefühl der Pflicht, jawohl, der Pflicht. Ich lebe auf dem Lande, in der Provinz, aber ich vernachlässige mich nicht, ich achte den Menschen in mir.«

»Gestatten Sie, Pawel Petrowitsch«, erwiderte Basarow, »Sie achten sich selbst, und doch legen Sie die Hände in den Schoß; welchen Nutzen bringt das dem – bien public? Sie könnten dasselbe tun, ohne sich selbst zu achten.«

Pawel Petrowitsch erblaßte.

»Das ist eine ganz andere Frage. Ich denke gar nicht daran, Sie jetzt darüber aufzuklären, warum ich die Hände in den Schoß lege, wie Sie sich auszudrücken belieben. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß der Aristokratismus ein Prinzip ist und daß in unserer Zeit nur amoralische Menschen oder Hohlköpfe ohne Prinzipien leben können. Ich habe das Arkadij schon am Tage nach seiner Ankunft gesagt und wiederhole es Ihnen heute. Stimmt es, Nikolai?«

Nikolai Petrowitsch nickte.

»Aristokratismus, Liberalismus, Progreß, Prinzipien«, sprach inzwischen Basarow vor sich hin. »Wie viele unserer Sprache fremde und … unnütze Wörter! Der russische Mensch hat sie durchaus nicht nötig.«

»Was hat er denn Ihrer Meinung nach nötig? Wenn man Sie sprechen hört, sollte man glauben, wir befänden uns außerhalb der Menschheit, außerhalb ihrer Gesetze. Ich bitte Sie – die Logik der Geschichte erheischt …«

»Wozu brauchen wir diese Logik? Wir können auch ohne sie auskommen!«

»Wieso denn?«

»Ganz einfach. Sie brauchen doch hoffentlich keine Logik, um ein Stück Brot zum Munde zu führen, wenn Sie Hunger haben. Was sollen uns diese Abstraktionen!«

Pawel Petrowitsch warf die Arme in die Luft.

»Ich verstehe Sie nicht mehr. Sie beleidigen das russische Volk. Ich begreife nicht, wie man keine Prinzipien, keine Richtschnur anerkennen kann! Wovon lassen Sie sich denn leiten?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, lieber Onkel, daß wir keine Autoritäten anerkennen«, mischte sich Arkadij ein.

»Wir lassen uns von dem leiten, was wir als nutzbringend erkennen«, versetzte Basarow. »Gegenwärtig ist die Verneinung am nützlichsten – und so verneinen wir.«

»Alles?«

»Alles.«

»Wie! nicht bloß die Kunst, die Poesie … sondern auch … ich bring' es nicht über die Lippen!«

»Alles«, wiederholte Basarow mit unaussprechlicher Ruhe. Pawel Petrowitsch glotzte ihn an. Das hatte er nicht erwartet. Arkadij wurde sogar vor Freude rot.

»Aber erlauben Sie«, begann Nikolai Petrowitsch, »Sie verneinen alles oder, genauer ausgedrückt, Sie zerstören alles … Aber man muß doch auch aufbauen!«

»Das ist nicht mehr unsere Sache … Zuerst muß der Platz freigelegt werden.«

»Der heutige Zustand des Volkes erfordert das«, setzte Arkadij mit wichtiger Miene hinzu. »Wir müssen dieser Forderung nachkommen; wir haben nicht das Recht, uns der Befriedigung des persönlichen Egoismus hinzugeben.«

Dieser letzte Satz mißfiel offenbar Basarow; er roch nach Philosophie, das heißt nach Romantik, denn auch die Philosophie wurde von Basarow als Romantik bezeichnet; doch hielt er es nicht für nötig, seinen jungen Schüler zu widerlegen.

»Nein, nein!« rief Pawel Petrowitsch in einer plötzlichen Gefühlswallung, »ich will nicht glauben, daß ihr, meine Herren, die richtige Auffassung vom russischen Volk habt, daß ihr die Vertreter seiner Forderungen, seiner Bestrebungen seid! Nein, das russische Volk ist nicht so, wie ihr es euch vorstellt. Es ehrt heilig die Überlieferung, es ist patriarchalisch, es kann nicht ohne Glauben leben …«

»Ich will dem nicht widersprechen«, unterbrach ihn Basarow, »ich bin sogar bereit, Ihnen darin recht zu geben.«

»Und wenn ich recht habe …«

»So ist damit trotzdem nichts bewiesen.«

»Eben, nichts bewiesen«, bestätigte Arkadij mit der Sicherheit eines erfahrenen Schachspielers, der einen offenbar gefährlichen Zug seines Gegners vorausgesehen hat und sich darum nicht aus der Fassung bringen ließ.

»Wieso denn, nichts bewiesen?« murmelte Pawel Petrowitsch ganz betreten. »Ihr bringt euch also in einen Gegensatz zu eurem Volke?«

»Und wenn dem auch so wäre?« rief Basarow. »Das Volk glaubt, wenn es donnert, dann fährt der Prophet Elias im Himmel spazieren. Nun, soll ich derselben Meinung sein? Und dann: wir reden vom russischen Volk, und ich – bin ich selbst denn kein Russe?«

»Nein, nach allem, was Sie soeben gesagt haben, sind Sie kein Russe! Ich kann Sie nicht als Russen ansehen!«

»Mein Großvater hat den Pflug geführt«, antwortete Basarow mit hochmütigem Stolz. »Fragen Sie den ersten besten Ihrer Bauern, wen von uns beiden – Sie oder mich – er als seinen Landsmann ansieht. Sie verstehen ja nicht einmal mit ihm zu reden.«

»Sie aber, Sie reden mit ihm und verachten ihn zu gleicher Zeit.«

»Warum auch nicht, wenn er Verachtung verdient! Sie tadeln meine Richtung, aber wer hat Ihnen denn gesagt, daß sie zufällig ist und nicht ein Ausfluß eben jenes Volksgeistes, in dessen Namen Sie sich so ereifern?«

»Man denke nur! Wer braucht die Nihilisten!«

»Ob man sie braucht oder nicht – das haben nicht wir zu entscheiden. Auch Sie halten sich ja für nicht unnütz.«

»Meine Herren, meine Herren, bitte, ohne persönliche Sticheleien!« rief Nikolai Petrowitsch und erhob sich.

Pawel Petrowitsch lächelte, legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und zwang ihn, sich wieder zu setzen.

»Sei unbesorgt«, sagte er. »Ich werde mich nicht vergessen, eben kraft jenes Gefühls der Würde, das der Herr … Herr Doktor so grausam verhöhnt. Erlauben Sie«, fuhr er fort, sich wieder an Basarow wendend, »Sie glauben vielleicht, Ihre Lehre sei etwas Neues? Da sind Sie auf dem Holzweg. Der Materialismus, den Sie predigen, war schon mehr als einmal im Gang, und noch immer hat er sich als unzulänglich erwiesen …«

»Schon wieder ein Fremdwort!« unterbrach ihn Basarow. Er begann sich zu ärgern, und sein Gesicht nahm eine kupferrote, ja rohe Farbe an. »Erstens predigen wir nichts; das ist nicht unsere Art …«

»Was tun Sie denn?«

»Ich will's Ihnen sagen. Früher, vor kurzem noch, haben wir davon geredet, daß unsere Beamten bestechlich seien, daß wir keine Landstraßen, keinen Handel, kein regelrechtes Gerichtswesen haben …«

»Na ja, ja, Sie sind Ankläger, so heißt es, glaub' ich. Viele Ihrer Anklagen finde auch ich gerechtfertigt, aber …«

»Aber dann merkten wir, daß es nicht der Mühe wert ist, zu schwatzen, immer nur von unseren Mängeln zu schwatzen, daß das nur zu Plattheiten und zum Doktrinarismus führt; wir haben eingesehen, daß selbst unsere Neunmalklugen, die sogenannten fortgeschrittenen Männer und Ankläger nichts taugen, daß wir uns mit Unsinn befassen, von irgendeiner Kunst reden, von unbewußtem Schöpfertum, von Parlamentarismus, von der freien Advokatur und weiß der Teufel wovon, während es sich um das tägliche Brot handelt, während wir im tollsten Aberglauben ersticken, während alle unsere Aktiengesellschaften einzig und allein deswegen zerschellen, weil es an ehrlichen Leuten fehlt, während die Freiheit Gemeint ist die sog. Bauernbefreiung, d. h. die Agrarreform, die 1861 auch wirklich erfolgte. (Anm. d. Übers.) selbst, um die die Regierung sich so bemüht, uns wohl kaum zugute kommen wird, denn unser Bauer hat nichts dagegen, sich selbst zu bestehlen, um sich nur in der Schenke betäuben zu können.«

»Schön«, unterbrach ihn Pawel Petrowitsch, »schön. Das alles haben Sie festgestellt und haben den Beschluß gefaßt, nichts Ernsthaftes zu unternehmen?«

»Und wir haben den Beschluß gefaßt, nichts Ernsthaftes zu unternehmen«, wiederholte Basarow mürrisch.

Er schien sich plötzlich über sich selbst zu ärgern, daß er sich so weit mit diesem Aristokraten eingelassen hatte.

»Und nur zu schimpfen?«

»Und zu schimpfen.«

»Und das nennt sich Nihilismus?«

»Und das nennt sich Nihilismus«, wiederholte Basarow, aber diesmal in besonders herausforderndem Ton.

Pawel Petrowitsch kniff leicht die Augen zusammen.

»Soso«, sagte er mit seltsam ruhiger Stimme. »Der Nihilismus soll der Helfer aus aller Not sein, und Sie, Sie sind unsere Erlöser und Helden. So. Aber warum lästern Sie denn die andern, sagen wir, die Ankläger? Schwatzen Sie nicht ebenso wie alle andern?«

»Wenn wir an etwas kranken, so sicherlich nicht daran«, brachte Basarow zwischen den Zähnen hervor.

»Und? Sie handeln also? Oder schicken Sie sich an zu handeln?«

Basarow gab keine Antwort. Pawel Petrowitsch zuckte zusammen, aber er bezwang sich sofort.

»Hm! … Handeln, zerstören …«, fuhr er fort. »Aber wie will man zerstören, wenn man nicht weiß, warum!«

»Wir zerstören, weil wir die Kraft sind«, bemerkte Arkadij. Pawel Petrowitsch sah seinen Neffen an und lächelte mit kaum merkbarer Ironie.

»Ja, die Kraft hat keine Rechenschaft zu geben«, fuhr Arkadij fort und richtete sich auf.

»Du Unglückseliger!« brüllte Pawel Petrowitsch, unfähig noch länger an sich zu halten. »Bedenke doch du wenigstens, was du in Rußland mit deinen banalen Sentenzen unterstützt! Nein, da kann ja ein Engel die Geduld verlieren! Kraft! Auch in dem wilden Kalmücken und dem Mongolen steckt Kraft! Aber was hilft uns diese Kraft? Uns ist die Zivilisation teuer, ja, jawohl, mein Herr, wir schätzen ihre Früchte. Und kommt mir nicht damit, daß diese Früchte wertlos seien; der elendeste Sudler, un barbouilleur Französisch: Anstreicher, Pfuscher. (Anm. d. Übers.), ein Klavierspieler, dem man fünf Kopeken je Abend zahlt – selbst sie sind nützlicher als ihr, denn sie repräsentieren die Zivilisation und nicht die rohe Mongolenkraft! Ihr bildet euch ein, vorgeschrittene Männer zu sein, aber euer Platz wäre im Kalmückenwagen! Kraft! Bedenkt doch schließlich, ihr Herren Kraftmeier, daß ihr ein Bäckerdutzend seid, während die andern nach Millionen zählen, die euch nicht erlauben werden, ihre heiligsten Überzeugungen mit Füßen zu treten, die euch zermalmen werden.«

»Wenn sie uns zermalmen, so geschieht es uns recht«, erwiderte Basarow. »Aber das bleibt noch dahingestellt. Unser sind nicht so wenige, wie Sie glauben.«

»Wie! Ihr glaubt im Ernst fertig zu werden, mit dem ganzen Volk fertig zu werden?«

»Wissen Sie denn nicht, daß, wie man sagt, eine Kerze im Wert einer einzigen Kopeke genügt hat, um Moskau einzuäschern!« antwortete Basarow.

»Soso! Erst ein fast satanischer Hochmut, dann die Verhöhnung! Dafür begeistert sich also die Jugend, so gewinnt man die unerfahrenen Herzen der Knaben! Schauen Sie, da sitzt so einer neben Ihnen – er betet Sie fast an, ergötzen Sie sich an seinem Anblick.« (Arkadij wandte sich ab und runzelte die Stirn.) »Und diese Seuche hat sich schon weit ausgebreitet. Man hat mir versichert, unsere Maler setzten in Rom keinen Fuß mehr in den Vatikan. Raffael halten sie schier für einen Stümper, lediglich weil er eine Autorität ist, aber sie selber sind ohnmächtig und unfruchtbar zum Erbrechen; ihre eigene Phantasie geht über das ›Mädchen am Brunnen‹ nicht hinaus; weiter bringen sie es nicht! Und wie scheußlich gemalt ist dieses Mädchen. Ihr meint, sie seien famose Kerle, nicht wahr?«

»Meiner Meinung nach«, erwiderte Basarow, »ist auch Raffael keinen roten Heller wert, und die andern sind nicht viel besser als er.«

»Bravo! Bravo! Da hast du's, Arkadij …, so haben sich die jungen Leute von heute auszudrücken! Und warum sollen sie auch nicht in euren Fußtapfen wandeln! Früher mußten die jungen Leute etwas lernen; wenn sie nicht als Ignoranten angesehen werden wollten, mußten sie wohl oder übel arbeiten. Jetzt aber brauchen sie nur zu sagen: ›Alles auf dieser Welt ist Blödsinn!‹, und fertig ist der Lack! Die jungen Leute lachen sich ins Fäustchen. In der Tat, früher waren sie einfach Tölpel, jetzt sind sie im Handumdrehen Nihilisten geworden.«

»Nun hat Sie das gepriesene Gefühl persönlicher Würde verlassen«, bemerkte Basarow phlegmatisch, während Arkadijs Gesicht aufflammte und seine Augen funkelten. »Unser Streit hat uns zu weit geführt … Ich denke, wir tun gut, hier abzubrechen. Ich wäre bereit, Ihnen recht zu geben«, setzte er aufstehend hinzu, »wenn Sie mir auch nur eine einzige Einrichtung unseres heutigen sozialen oder Familienlebens nennen könnten, die nicht absolute und schonungslose Negation verdiente.«

»Millionen solcher Einrichtungen kann ich Ihnen nennen«, rief Pawel Petrowitsch, »Millionen! Das ist zum Beispiel die Dorfgemeinde!«

Ein kaltes, höhnisches Lächeln kräuselte Basarows Lippen.

»Was die Gemeinde betrifft«, sagte er, »so reden Sie doch einmal darüber mit Ihrem Bruder. Ich glaube, er weiß jetzt aus der Praxis Bescheid, was es mit der Gemeinde, der kollektiven Haftung der Bauern, der Abstinenz und ähnlichen Scherzen auf sich hat.«

»Und schließlich die Familie, die Familie, wie sie noch bei unsern Bauern besteht!« rief Pawel Petrowitsch.

»Auch das ist eine Frage, auf die Sie meiner Ansicht nach nicht näher eingehen sollten. Sie haben wohl davon gehört, daß der Bauer mit seiner Schwiegertochter lebt? Folgen Sie meinem Ratschlag, Pawel Petrowitsch, und lassen Sie sich zwei Tage Zeit, um über die Sache nachzudenken; im Augenblick wird Ihnen wohl nichts einfallen. Gehen Sie all unsre Stände der Reihe nach durch und denken Sie sorgfältig über jeden nach; inzwischen wollen Arkadij und ich …«

»... alles ins Lächerliche ziehen«, ergänzte Pawel Petrowitsch.

»Nein, Frösche sezieren. Komm, Arkadij. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Die beiden Freunde entfernten sich. Die Brüder blieben allein und blickten zuerst einander nur an.

»Da«, begann endlich Pawel Petrowitsch, »da habt ihr die heutige Jugend! Das also sind unsere Erben!«

»Unsere Erben!« wiederholte mit einem Stoßseufzer Nikolai Petrowitsch. Er hatte während des ganzen Streites wie auf Kohlen gesessen und nur von Zeit zu Zeit heimlich einen schmerzerfüllten Blick auf Arkadij geworfen. »Weißt du, lieber Bruder, an was mich das erinnert hat? Ich hatte mich einmal mit unserer seligen Mutter überworfen; sie schrie und wollte mich gar nicht zu Worte kommen lassen … Endlich sagte ich zu ihr: ›Sie können mich nicht verstehen, denn wir gehören zwei verschiedenen Generationen an.‹ Sie fühlte sich entsetzlich verletzt, aber ich dachte: was ist da zu machen? Die Pille ist bitter, aber sie muß geschluckt werden. Jetzt ist die Reihe an uns gekommen, und unsere Erben können zu uns sagen: ›Ihr gehört nicht zu unserer Generation, schluckt die Pille.‹«

»Du bist viel zu sanftmütig und anspruchslos«, versetzte Pawel Petrowitsch. »Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß wir weit mehr im Recht sind als diese Herrchen, wenn unsere Ausdrucksweise vielleicht auch ein wenig veraltet – vieille Französisch: alt, veraltet. (Anm. d. Übers.) – ist und wir auch nicht ihr dünkelhaftes Selbstvertrauen besitzen … Und wie ist die heutige Jugend aufgeblasen! Frag da einen: ›Wünschen Sie Rot- oder Weißwein?‹, und er antwortet: ›Ich habe die Gewohnheit, rot vorzuziehen!‹, und das mit einer Baßstimme und einer so wichtigen Miene, als ob in diesem Augenblick das ganze Weltall auf ihn blickte …«

»Belieben Sie keinen Tee mehr?« fragte Fenitschka, den Kopf zur Tür hereinstreckend; solange die Stimmen der Streitenden zu hören waren, hatte sie nicht gewagt, hereinzukommen.

»Nein, du kannst den Samowar hinaustragen lassen«, antwortete Nikolai Petrowitsch und stand auf, um ihr entgegenzugehen. Pawel Petrowitsch sagte kurz »Bon soir Französisch: »Guten Abend!« (Anm. d. Übers.)!« zu ihm und ging in sein Studierzimmer.


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