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Im Garten zu Nikolskoje saßen Katja und Arkadij auf einer Rasenbank im Schatten einer hohen Esche; neben ihnen auf der Erde hatte sich Fifi gekuscht, die ihrem langen Körper jene zierliche Biegung verlieh, die die Jäger als »Hasenlagern« bezeichnen. Sowohl Arkadij als auch Katja bewahrten Schweigen; er hielt ein halb aufgeschlagenes Buch in den Händen; sie las die letzten Krümchen Weißbrot aus einem Korb auf und warf sie einer kleinen Spatzenfamilie hin, die mit der ihr eigenen furchtsamen Dreistigkeit zwitschernd um ihre Füße herumhüpfte. Ein leichter Wind, der in dem Laubwerk der Esche spielte, bewegte leise die blaßgoldenen Lichtflecken auf dem dunklen Pfad und auf Fifis gelbem Rücken; ein gleichmäßiger Schatten hüllte Arkadij und Katja ein; nur hie und da leuchtete auf ihrem Haar ein heller Streifen auf. Beide schwiegen, aber gerade die Art, wie sie schwiegen, wie sie nebeneinander saßen, ließ auf ihr vertrautes Nahesein schließen: jeder von ihnen schien an den andern nicht zu denken, aber freute sich im geheimen über dessen Nähe. Selbst ihre Züge hatten sich verändert, seitdem wir sie zum letztenmal gesehen hatten: Arkadij schien ruhiger, Katja lebhafter und mutiger.
»Finden Sie nicht«, begann Arkadij, »daß die Esche im Russischen einen sehr treffenden Namen hat: Jassen Ein russisches Wortspiel: Jassen = Esche, jassno = klar. (Anm. d. Übers.); ich kenne keinen Baum, der in der Luft so leicht und klar zu sein scheint wie dieser.
Katja blickte langsam in die Höhe und antwortete: »Ja.« Arkadij aber dachte bei sich: ›Sie wird mir nicht zum Vorwurf machen, daß ich mich schön ausdrücke.‹
»Ich liebe Heine nicht«, begann Katja, indem sie mit den Augen auf das Buch deutete, das Arkadij in den Händen hielt, »weder wenn er weint, noch wenn er lacht: ich liebe ihn, wenn er träumerisch und traurig ist.«
»Mir aber gefällt er, wenn er lacht«, bemerkte Arkadij.
»Das sind bei Ihnen noch die alten Spuren Ihrer satirischen Richtung …« (›Die alten Spuren!‹ dachte Arkadij. ›Wenn Basarow das hören würde!‹) »Warten Sie nur, wir werden Sie schon ummodeln.«
»Wer wird mich ummodeln? Sie?«
»Wer? Meine Schwester; Porfirij Platonytsch, mit dem Sie sich nicht mehr zanken; Tantchen, das Sie vorgestern zur Kirche begleitet haben.«
»Ich konnte ja nicht nein sagen! Was aber Anna Sergejewna betrifft, so wissen Sie, daß sie selbst Jewgenij in vielem recht gab.«
»Meine Schwester stand damals ebenso unter seinem Einfluß wie Sie auch.«
»Auch ich! Glauben Sie denn wahrzunehmen, daß ich mich seinem Einfluß bereits entzogen habe?«
Katja schwieg.
»Ich weiß«, fuhr Arkadij fort, »er hat Ihnen nie gefallen.«
»Ich kann über ihn nicht urteilen.«
»Wissen Sie was, Katharina Sergejewna? Jedesmal, wenn ich diese Antwort höre, glaube ich ihr nicht … Es gibt keinen Menschen, über den nicht jeder von uns urteilen könnte! Das ist einfach eine Ausrede.«
»Nun, so will ich Ihnen sagen, daß er … mir nicht etwa mißfällt, aber ich fühle, daß er mir fremd ist … und auch ich bin ihm fremd … und auch Sie sind ihm fremd.«
»Wieso denn?«
»Wie soll ich's Ihnen erklären … Er ist ein Raubtier, während wir, Sie und ich, zahm sind.«
»Auch ich bin zahm?«
Katja nickte.
Arkadij kraute sich hinter dem Ohr.
»Hören Sie, Katharina Sergejewna, das ist ja im Grunde genommen beleidigend.«
»Möchten Sie denn ein Raubtier sein?«
»Ein Raubtier gerade nicht, aber kraftvoll, energisch.«
»Das hängt nicht vom Wollen ab … Ihr Freund will es nicht sein, und doch ist er's.«
»Hm! Sie meinen also, er hätte einen großen Einfluß auf Anna Sergejewna gehabt?«
»Ja. Aber niemand vermag sie lange zu beherrschen«, fügte Katja halblaut hinzu.
»Warum glauben Sie das?«
»Sie ist sehr stolz … ich wollte etwas anderes sagen … sie ist sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht.«
»Wer tut es nicht?« fragte Arkadij, und es ging ihm durch den Kopf: ›Aber, wozu ist sie gut?‹ – ›Aber, wozu ist sie gut?‹ flog es auch Katja durch den Kopf. Wenn junge Menschen viel und freundschaftlich miteinander verkehren, kommen sie häufig auf die gleichen Gedanken.
Arkadij lächelte, rückte Katja ein wenig näher und fragte im Flüsterton:
»Gestehen Sie, Sie fürchten sie ein wenig?«
»Wen?«
»Sie«, wiederholte Arkadij mit Nachdruck.
»Und Sie?« fragte Katja ihrerseits.
»Auch ich; merken Sie wohl, ich sagte: auch ich.«
Katja drohte ihm mit dem Finger.
»Das wundert mich«, begann sie, »nie war meine Schwester Ihnen so gewogen wie gerade jetzt; sie ist es viel mehr als bei Ihrem ersten Besuch.«
»So, so!«
»Haben Sie das nicht bemerkt? … Freut Sie das nicht?«
Arkadij überlegte.
»Wodurch hätte ich das Wohlwollen Anna Sergejewnas verdient? Etwa dadurch, daß ich ihr die Briefe ihrer Mutter gebracht habe?«
»Auch dadurch; aber es gibt noch andere Gründe, die ich Ihnen nicht sagen werde.«
»Warum nicht?«
»Ich sag's nicht.«
»Oh, ich weiß, Sie sind sehr eigensinnig.«
»Ja, ich bin eigensinnig.«
»Und Sie beobachten scharf.«
Katja sah Arkadij von der Seite an.
»Vielleicht ärgert Sie das? Woran denken Sie?«
»Ich denke nach, woher Sie diese Beobachtungsgabe haben, die Sie tatsächlich besitzen. Sie sind so furchtsam, so mißtrauisch; Sie fliehen die Menschen …«
»Ich habe viel allein gelebt, da fängt man an nachzudenken, wohl oder übel. Fliehe ich tatsächlich die Menschen?«
Arkadij warf Katja einen dankbaren Blick zu.
»Das alles ist schön und gut«, fuhr er fort, »aber Leute in Ihrer Stellung, ich will sagen, mit Ihrem Vermögen, besitzen nur selten diese Gabe; die Wahrheit gelangt zu ihnen wie zu Königen, nur mühsam.«
»Ich bin doch nicht vermögend.«
Arkadij erstaunte und verstand Katja nicht sogleich. ›In der Tat, das Gut gehört ja ihrer Schwester!‹ fiel ihm ein; dieser Gedanke war ihm nicht unangenehm.
»Wie schön Sie das gesagt haben«, meinte er.
»Was denn?«
»Sie haben es so schön, so einfach gesagt, ohne falsche Scham und Ziererei. Ich denke mir übrigens, daß der Mensch, der weiß und sagt, daß er arm ist, etwas Besonderes, eine Art Eitelkeit empfinden muß.«
»Ich habe so etwas, dank der Güte meiner Schwester, nie empfunden; ich sprach von meinen Vermögensverhältnissen, nur weil gerade das Gespräch darauf kam.«
»Das mag sein, aber gestehen Sie ein, daß ein Teilchen der Eitelkeit, von der Sie soeben sprachen, auch Ihnen nicht fremd ist.«
»Zum Beispiel?«
»Würden Sie zum Beispiel – nehmen Sie meine Frage nicht übel! –, würden Sie einen reichen Mann heiraten?«
»Wenn ich ihn sehr liebte … Nein, ich glaube, auch dann würde ich ihn nicht heiraten.«
»Na, sehen Sie!« rief Arkadij und setzte nach einem Weilchen hinzu: »Und warum würden Sie ihn nicht heiraten?«
»Weil schon im Lied von der ungleichen Ehe gesungen wird.«
»Sie möchten wohl lieber herrschen, oder …«
»O nein! Wozu? Im Gegenteil, ich wäre bereit, mich unterzuordnen, nur ist die Ungleichheit bitter. Sich selbst achten und sich unterordnen, das begreife ich; darin besteht das Glück, aber eine untergeordnete Existenz … Nein, davon habe ich genug.‹
»Davon haben Sie genug«, sprach ihr Arkadij nach. »Ja, ja«, fuhr er fort, »Sie haben nicht umsonst dasselbe Blut in den Adern wie Anna Sergejewna; Sie haben denselben Unabhängigkeitssinn wie sie, aber Sie sind viel verschlossener. Ich bin überzeugt, Sie würden nie als erste Ihrem Gefühl Ausdruck geben, wie stark und heilig es auch sein möge.«
»Wie könnte es auch anders sein?« fragte Katja.
»Sie beide sind gleich klug, Sie besitzen ebensoviel, wenn nicht noch mehr Charakter als sie …«
»Bitte, stellen Sie keine Vergleiche zwischen mir und meiner Schwester an«, unterbrach ihn Katja hastig, »es gereicht mir nicht zum Vorteil. Sie scheinen vergessen zu haben, daß meine Schwester sowohl schön wie klug ist, und … gerade Sie, Arkadij Nikolajewitsch, sollten nicht so reden, am wenigsten mit so ernster Miene.«
»Was bedeutet das: ›gerade Sie‹ – und woraus schließen Sie, daß ich scherze?«
»Natürlich scherzen Sie.«
»Glauben Sie? Wie aber, wenn das, was ich sage, meine Überzeugung wäre? Wenn ich der Ansicht wäre, daß ich mich noch nicht stark genug ausgedrückt habe?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»In der Tat? Nun, jetzt seh ich's: ich habe wirklich Ihre Beobachtungsgabe überschätzt.«
»Wieso?«
Arkadij antwortete nichts und wandte sich ab, während Katja noch einige Brotkrümchen im Korb fand und sie den Spatzen hinzuwerfen begann; aber sie holte mit dem Arm zu weit aus, so daß die Vögel davonflogen, ehe sie etwas aufgepickt hatten.
»Katharina Sergejewna!« begann plötzlich Arkadij, »es ist Ihnen wohl gleichgültig, aber Sie sollen wissen, daß ich weder Ihre Schwester noch auch sonst einen Menschen auf Erden Ihnen vorziehen würde.«
Er stand auf und eilte davon, als wäre er über die Worte erschrocken, die ihm entschlüpft waren.
Katja aber ließ beide Hände zusammen mit dem Korbe in den Schoß fallen und blickte mit geneigtem Kopf Arkadij lange nach. Eine helle Röte färbte langsam ihre Wangen; aber ihre Lippen lächelten nicht, und ihre dunklen Augen drückten Erstaunen und noch ein anderes, bisweilen noch namenloses Gefühl aus.
»Bist du allein?« ertönte neben ihr die Stimme Anna Sergejewnas. »Ich dachte, du wärest mit Arkadij in den Garten gegangen.«
Katja richtete bedächtig die Augen auf ihre Schwester (geschmackvoll, ja sogar mit gesuchter Eleganz gekleidet, stand sie da und kitzelte mit der Spitze ihres aufgespannten Sonnenschirms Fifis Ohr) und antwortete langsam:
»Ich bin allein.«
»Das sehe ich«, antwortete diese lachend, »er ist also ins Haus gegangen?«
»Ja.«
»Habt ihr zusammen gelesen?«
»Ja.«
Anna Sergejewna faßte Katja am Kinn und zog ihr Gesicht in die Höhe.
»Ihr habt euch doch hoffentlich nicht gezankt?«
»Nein«, sagte Katja und schob sanft die Hand ihrer Schwester beiseite.
»Wie feierlich du antwortest! Ich dachte ihn hier zu finden und wollte ihm vorschlagen, mit mir einen Spaziergang zu machen. Er selbst bittet mich immer darum. Man hat dir aus der Stadt Schuhe gebracht, probiere sie an, ich habe schon gestern bemerkt, daß deine alten ganz abgetragen sind. Überhaupt achtest du zuwenig auf diese Dinge, und du hast doch einen so reizenden Fuß! Auch deine Hände sind schön … nur etwas groß, da solltest du mehr durch die Füße gewinnen … Aber du bist nicht kokett.«
Und mit ihrem geschmackvollen Kleid leicht raschelnd, wandelte Anna Sergejewna auf dem Gartenweg weiter; Katja stand von der Bank auf, nahm den Heine-Band und ging ebenfalls davon – aber nicht, um Schuhe anzuprobieren.
›Ein reizender Fuß‹, dachte sie, langsam, aber behende die in der Sonne glänzenden Steinstufen der Terrasse emporsteigend. »Sie sagte: ›ein reizender Fuß‹ … Nun, er wird zu diesen Füßen liegen.«
Aber in demselben Augenblick empfand sie ein Gefühl der Scham und lief flink die Treppe hinauf.
Arkadij schritt durch den Korridor nach seinem Zimmer, als der Haushofmeister ihn einholte und meldete, daß ihn Herr Basarow erwarte.
»Jewgenij«, murmelte Arkadij fast erschrocken. »Wann ist er gekommen?«
»Sie sind soeben eingetroffen und haben befohlen, ihn Anna Sergejewna nicht zu melden, sondern ihn unmittelbar in Ihr Zimmer zu führen.«
›Sollte sich zu Hause ein Unglück zugetragen haben?‹ dachte Arkadij, lief die Treppe hinauf und riß die Tür auf. Der Anblick Basarows beruhigte ihn sofort, obwohl ein geübteres Auge in der immer noch energischen, aber ein wenig abgemagerten Gestalt des unerwarteten Gastes Merkmale einer inneren Erregung entdeckt hätte. Den staubbedeckten Mantel um die Schultern, die Mütze auf dem Kopf – so saß er auf dem Fensterbrett; er stand selbst dann nicht auf, als Arkadij sich ihm geräuschvoll an den Hals warf.
»Das nenn' ich eine Überraschung! Was führt dich hierher?« rief er ein über das andere Mal, indem er sich im Zimmer zu schaffen machte wie einer, der sich einbildet und auch den andern zeigen will, daß er sich freue. »Zu Hause ist hoffentlich alles in Ordnung, alle sind gesund und munter, nicht wahr?«
»Bei euch zu Hause ist alles in Ordnung – aber gesund und munter sind nicht alle«, sagte Basarow. »Schnattere nicht soviel, laß mir ein Glas Kwaß bringen; dann setz dich hin und höre, was ich dir in wenigen, aber hoffentlich genügend kräftigen Worten zu sagen habe.«
Arkadij verstummte, und Basarow erzählte ihm von seinem Duell mit Pawel Petrowitsch. Arkadij war sehr erstaunt und sogar betrübt; aber er hielt es nicht für nötig, es zu zeigen, er fragte nur, ob die Wunde seines Onkels tatsächlich ungefährlich sei. Und als er zur Antwort bekam, sie sei sehr interessant – nur nicht vom medizinischen Standpunkt aus –, da zwang er sich ein Lächeln ab, aber gleich wurde ihm unheimlich zumute, und er empfand eine gewisse Scham. Basarow schien ihn zu verstehen.
»Ja, mein. Freund«, sagte er, »das kommt davon, wenn man sich mit Feudalherren einläßt. Man wird selber zum Feudalen und beginnt an Ritterturnieren teilzunehmen. Nun kehre ich zu meinen ›Ahnen‹ zurück«, so schloß Basarow, »ich habe einen Sprung hierher gemacht … um dir das alles zu erzählen, würde ich sagen, wenn ich eine unnütze Lüge nicht für Dummheit hielte. Nein, ich bin hier eingekehrt – der Teufel mag wissen, warum! – Siehst du, es ist zuweilen nützlich, sich beim Schopf zu packen und sich selbst auszureißen, wie eine Rübe aus dem Beete gerissen wird – und das habe ich dieser Tage vollbracht … Aber ich bekam Lust, noch einmal das zu beäugen, was ich verlassen habe – das Beet, auf dem ich gesessen habe.«
»Hoffentlich beziehen sich diese Worte nicht auf mich«, erwiderte Arkadij mit bewegter Stimme. »Hoffentlich beabsichtigst du nicht, mich aufzugeben.«
Basarow sah ihn scharf, fast durchdringend an.
»Als ob dich das so betrüben würde! Wie mir scheint, hast du bereits mich aufgegeben. Du siehst so frisch, so geleckt aus … um deine Sache mit Anna Sergejewna steht es wohl ausgezeichnet.«
»Um was für eine Sache mit Anna Sergejewna?«
»Bist du etwa nicht ihretwegen aus der Stadt hergekommen, mein Vögelchen? Nebenbei bemerkt, wie machen sich dort die Sonntagsschulen? Bist du nicht in die Frau verliebt? Oder willst du gar dein Licht unter den Scheffel stellen?«
»Jewgenij, du weißt, ich bin immer offen gegen dich gewesen; ich kann dir nur versichern, ich schwöre dir, daß du im Irrtum bist.«
»Hm! Ein neues Wort«, bemerkte Basarow halblaut. »Aber du brauchst dich nicht zu erhitzen, mir ist es ja einerlei. Ein Romantiker würde sagen: ich fühle, daß unsere Wege sich trennen, ich aber sage einfach, wir haben einander satt.«
»Jewgenij!«
»Das ist kein Unglück, mein Teuerster, man bekommt im Leben manches satt. Jetzt, glaube ich, sollten wir voneinander Abschied nehmen. Seitdem ich hier bin, ist mir so hundsmiserabel zumute, als hätte ich mich an Gogols Briefen an die Gouverneursgattin von Kaluga übel gelesen. Übrigens habe ich die Pferde nicht ausspannen lassen.«
»Unmöglich! Ich bitte dich!«
»Warum denn?«
»Von mir will ich nicht reden; aber es wäre im höchsten Grade unhöflich gegen Anna Sergejewna, die sich gewiß freuen wird, dich wiederzusehen.«
»Na, in dem Punkte irrst du.«
»Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß ich recht habe«, versetzte Arkadij. »Und warum heuchelst du? Um die Wahrheit zu sagen, bist du denn nicht ihretwegen hierhergekommen?«
»Das mag stimmen, aber du bist dennoch auf dem Holzweg.«
Aber Arkadij hatte recht. Anna Sergejewna äußerte den Wunsch, Basarow wiederzusehen, und bestellte ihn durch den Haushofmeister zu sich. Bevor sich Basarow zu ihr begab, kleidete er sich um: es stellte sich heraus, daß er seinen neuen Anzug so eingepackt hatte, daß er ihn bei der Hand hatte.
Frau Odinzowa empfing ihn nicht in dem Zimmer, wo er ihr so unerwartet eine Liebeserklärung gemacht hatte, sondern im Salon. Sie hielt ihm freundlich ihre Fingerspitzen entgegen, aber ihr Gesicht drückte eine ungewollte Spannung aus.
»Anna Sergejewna«, beeilte sich Basarow zu sagen, »vor allen Dingen muß ich Sie beruhigen. Sie sehen einen Sterblichen vor sich, der selber längst zur Vernunft gekommen ist und der hofft, daß auch andere seine Dummheiten vergessen haben. Ich gehe auf lange Zeit fort, und obgleich ich, wie Sie zugeben werden, kein weichlicher Mensch bin, so wäre es mir peinlich, wenn ich den Gedanken mit auf den Weg nähme, daß Sie meiner mit Abscheu gedenken.«
Anna Sergejewna holte tief Atem, wie jemand, der soeben den Gipfel eines hohen Berges erklommen hat, und ein Lächeln belebte ihr Gesicht. Sie reichte Basarow ein zweites Mal die Hand und erwiderte seinen Händedruck.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte sie, »um so mehr, als auch ich, aufrichtig gesprochen, mich damals schuldig gemacht habe, wenn nicht durch Koketterie, so in anderer Weise. Mit einem Wort: wir wollen wieder Freunde sein wie ehedem. Das andere war ein Traum, nicht wahr? Und wer denkt denn an Träume!«
»Wer an sie denkt? Und außerdem ist ja die Liebe … ein gekünsteltes Gefühl.«
»In der Tat? Es ist mir sehr angenehm, das zu hören.«
In solchen Redewendungen sprach Anna Sergejewna, und in ebensolchen sprach Basarow; beide glaubten, die Wahrheit zu sagen. Enthielten ihre Worte aber Wahrheit, volle Wahrheit? Sie selber wußten es nicht, und der Verfasser weiß es noch weniger. Aber ihr Gespräch kam so in Fluß, als ob sie sich gegenseitig vollstes Vertrauen schenkten.
Anna Sergejewna fragte Basarow unter anderm, was er bei den Kirsanows getrieben hätte. Fast hätte er ihr von seinem Zweikampf mit Pawel Petrowitsch erzählt, hielt aber an sich bei dem Gedanken, sie könnte glauben, er suche sich interessant zu machen, und so antwortete er, er habe die ganze Zeit hindurch gearbeitet.
»Und ich«, versetzte Anna Sergejewna, »ich habe zuerst Grillen gefangen, Gott mag wissen, warum; ja, ich hatte sogar vor, ins Ausland zu reisen, denken Sie nur! … Dann verging es, Ihr Freund, Arkadij Nikolajewitsch, kam, und ich war bald wieder in meinem alten Geleis, in meiner wahren Rolle.«
»Was für einer Rolle, wenn ich fragen darf?«
»In der Rolle der Tante, der Lehrerin, der Mutter, nennen Sie es, wie Sie wollen. Apropos, wissen Sie, daß ich früher Ihre enge Freundschaft mit Arkadij Nikolajewitsch nicht begriff: ich hielt ihn für ziemlich unbedeutend. Aber jetzt habe ich ihn näher kennengelernt und habe mich überzeugt, daß er klug ist … Und vor allem: er ist jung, jung … ganz anders als wir beide, Jewgenij Wassilitsch.«
»Ist er in Ihrer Gegenwart immer noch so schüchtern?« fragte Basarow.
»War er denn …«, begann Anna Sergejewna, setzte jedoch nach kurzer Überlegung hinzu: »Er ist jetzt viel zutraulicher geworden, er unterhält sich mit mir. Früher mied er mich. Übrigens suchte auch ich seine Gesellschaft nicht. Er und Katja sind dicke Freunde.«
Basarow wurde ärgerlich. ›Ohne List kann das Weib nun einmal nicht sein‹, dachte er.
»Sie behaupten, er hätte Sie gemieden«, sprach er mit kaltem, spöttischem Lächeln, »aber es ist wohl kein Geheimnis für Sie, daß er in Sie verliebt war?«
»Wie? Auch er?« entfuhr es Anna Sergejewna.
»Auch er«, wiederholte Basarow mit devoter Verbeugung. »Haben Sie es denn nicht gewußt, sage ich Ihnen etwas Neues?«
Anna Sergejewna blickte zur Erde.
»Sie irren, Jewgenij Wassilitsch.«
»Das glaube ich nicht. Aber ich hätte vielleicht davon nicht reden sollen.« ›Laß in Zukunft von der List‹, fügte er im stillen hinzu.
»Warum denn nicht? Aber ich glaube, daß Sie auch hierin einem flüchtigen Eindruck eine zu große Bedeutung beimessen. Ich fange an, Sie im Verdacht zu haben, daß Sie zu Übertreibungen neigen.«
»Sprechen wir lieber nicht davon, Anna Sergejewna.«
»Warum nicht?« versetzte sie und gab selbst dem Gespräch eine andere Wendung. Obgleich sie ihm sagte und sich selber einredete, daß alles vergessen sei, fühlte sie sich in Basarows Gesellschaft nicht ganz wohl. Während sie mit ihm die einfachsten Worte wechselte, ja mit ihm scherzte, empfand sie eine leichte Beklommenheit und Furcht. So pflegen die Passagiere eines Dampfers auf offener See harmlos zu plaudern und sorglos zu lachen, als befänden sie sich auf dem Festland; aber es braucht nur zum kleinsten Anhalten zu kommen, es braucht nur das leiseste Anzeichen von etwas Ungewöhnlichem aufzutauchen, und sofort ist auf allen Gesichtern eine besondere Unruhe zu lesen, die das unablässige Bewußtsein einer ständigen Gefahr verrät.
Die Unterhaltung zwischen Anna Sergejewna und Basarow dauerte nicht lange. Sie wurde immer nachdenklicher, gab zerstreute Antworten und schlug ihm schließlich vor, in den Saal zu gehen, wo sie die Fürstin und Katja trafen. »Aber wo bleibt Arkadij Nikolajewitsch?« fragte die Hausherrin, und als sie erfuhr, daß er schon seit einer Stunde nicht zu sehen war, ließ sie ihn holen. Man fand ihn nicht so bald: er hatte sich in die verborgensten Winkel des Gartens verkrochen und saß da, das Kinn auf die gekreuzten Hände gestützt, in Sinnen versunken. Seine Gedanken waren tief und ernsthaft, aber nicht traurig. Er wußte, daß sich Anna Sergejewna mit Basarow allein befand, und empfand keine Eifersucht wie früher; im Gegenteil, sein Gesicht leuchtete still; es schien, als ob er sich über etwas wunderte und sich freute und im Begriff wäre, einen bestimmten Entschluß zu fassen.