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Zwei Stunden später pochte er an Basarows Tür.
»Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich Sie in Ihren gelehrten Beschäftigungen störe«, begann er, indem er auf einem Stuhl neben dem Fenster Platz nahm und sich mit beiden Händen auf seinen schönen Stock mit dem Elfenbeingriff stützte (er ging gewöhnlich ohne Stock aus), »aber ich sehe mich genötigt, Sie zu bitten, mir fünf Minuten Ihrer Zeit zu widmen … nicht mehr.«
»Meine ganze Zeit steht Ihnen zur Verfügung«, antwortete Basarow, dessen Gesicht zusammenzuckte, als Pawel Petrowitsch die Türschwelle überschritten hatte.
»Fünf Minuten genügen mir. Ich komme, um eine Frage an Sie zu richten.«
»Eine Frage? Worum handelt es sich?«
»Sie sollen's gleich erfahren. Am Anfang Ihres Aufenthalts im Hause meines Bruders, als ich mir noch nicht das Vergnügen versagte, mich mit Ihnen zu unterhalten, hatte ich Gelegenheit, Ihre Ansichten über mancherlei Gegenstände kennenzulernen; doch soweit ich mich erinnern kann, ist weder zwischen uns noch in meiner Gegenwart jemals vom Zweikampf, vom Duell, die Rede gewesen. Darf ich Sie fragen: Was ist Ihre Ansicht über diesen Gegenstand?«
Basarow, der aufgestanden war, um Pawel Petrowitsch entgegenzugehen, setzte sich auf den Rand des Tisches und kreuzte die Arme.
»Meine Ansicht ist«, sagte er, »daß, vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, das Duell ein Nonsens ist; aber praktisch gesehen ist es etwas anderes.«
»Das heißt, Sie wollen sagen, wenn ich Sie recht verstanden habe, Sie würden, wie Ihre theoretische Einstellung zum Duell auch sein möge, in der Praxis nicht gestatten, daß man Sie beleidigt, sondern Genugtuung verlangen?«
»Sie haben meinen Gedanken richtig erkannt.«
»Ausgezeichnet. Es freut mich sehr, es von Ihnen zu hören. Ihre Worte entheben mich der Ungewißheit …«
»Der Unentschlossenheit, wollen Sie sagen.«
»Es kommt auf dasselbe heraus; ich drücke mich so aus, um mich verständlich zu machen; ich … ich bin kein Bücherwurm. Ihre Worte entheben mich einer gewissen traurigen Notwendigkeit. Ich bin entschlossen, mich mit Ihnen zu schlagen.«
Basarow machte große Augen.
»Mit mir?«
»Unbedingt, mit Ihnen.«
»Aber warum denn? Ich bitte Sie.«
»Ich könnte Ihnen den Grund erklären«, fuhr Pawel Petrowitsch fort. »Aber ich ziehe es vor, ihn zu verschweigen. Für meinen Geschmack sind Sie hier überflüssig; Sie sind mir ein Dorn im Auge, ich verachte Sie, und wenn Ihnen das nicht genügen sollte …«
Pawel Petrowitschs Augen funkelten … Auch Basarows Augen flammten auf.
»Sehr schön!« sagte er. »Weitere Erklärungen sind nicht vonnöten. Sie haben den Einfall bekommen, an mir Ihren ritterlichen Geist zu erproben. Ich könnte Ihnen dieses Vergnügen vorenthalten – aber meinetwegen!«
»Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden«, antwortete Pawel Petrowitsch. »Ich darf also hoffen, daß Sie meine Herausforderung annehmen, ohne daß ich mich genötigt sehe, zu Zwangsmaßnahmen Zuflucht zu nehmen.«
»Das heißt, ohne Allegorie gesprochen, zu dem Stock da?« fragte Basarow kaltblütig. »Das stimmt durchaus. Sie können es sich ersparen, mich zu beleidigen. Es wäre auch nicht ganz ungefährlich. Sie können ruhig Gentleman bleiben … Ich nehme Ihre Herausforderung ebenfalls als Gentleman an.«
»Ausgezeichnet!« sagte Pawel Petrowitsch und stellte seinen Stock in die Ecke. »Wir wollen kurz die Bedingungen unseres Zweikampfes besprechen; doch zunächst möchte ich wissen, ob Sie es für nötig halten, zu der Formalität eines kleinen Zwistes Zuflucht zu nehmen, der als Vorwand meiner Herausforderung dienen könnte.«
»Nein, lieber ohne Formalitäten.«
»Das ist auch meine Ansicht. Ich halte es auch für unangebracht, die eigentlichen Ursachen unseres Streites zu ergründen. Wir können einander nicht ausstehen. Was braucht man mehr?«
»Was braucht man mehr?« wiederholte Basarow ironisch.
»Was die Bedingungen des Zweikampfes selbst anbelangt, so werden wir, da wir keine Sekundanten haben – denn wo sollten wir welche hernehmen?«
»Eben, wo sollten wir sie hernehmen?«
»So beehre ich mich, Ihnen vorzuschlagen: wir duellieren uns morgen früh, sagen wir, gegen sechs Uhr – hinter dem Wäldchen, auf Pistolen, auf zehn Schritt Distanz.«
»Auf zehn Schritt? Richtig, wir hassen einander auf diese Entfernung.«
»Man könnte auch auf acht«, bemerkte Pawel Petrowitsch.
»Ja, gewiß – warum auch nicht?«
»Geschossen wird zweimal, und für alle Fälle steckt sich jeder ein Briefchen in die Tasche, in dem er sich selbst die Schuld an seinem Tod zuschreibt.«
»Damit bin ich nicht einverstanden«, erklärte Basarow. »Das erinnert ein wenig an einen französischen Roman, die Sache klingt zu unwahrscheinlich.«
»Mag sein! Allein Sie werden mir zugeben, daß es nicht angenehm wäre, einen Mordverdacht auf sich zu laden.«
»Das gebe ich zu. Aber es gibt ein Mittel, diesen traurigen Verdacht von sich zu weisen. Wir haben zwar keine Sekundanten, können aber einen Zeugen haben.«
»Wer soll es sein, wenn ich fragen darf?«
»Sagen wir, Pjotr.«
»Was für ein Pjotr?«
»Der Kammerdiener Ihres Bruders. Er ist ein Mann, der auf der Höhe der modernen Bildung steht, und er wird seiner Rolle mit allem für einen solchen Fall notwendigen comme il faut Französisch: wie sich's gehört, hier: das Drum und Dran. (Anm. d. Übers.) gerecht werden.«
»Mir scheint, Sie scherzen, mein Herr.«
»Keineswegs. Erwägen Sie meinen Vorschlag, und Sie werden sich davon überzeugen, daß er vom gesunden Menschenverstand diktiert und einfach ist. Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen. Ich übernehme es, den Pjotr in gehöriger Weise abzurichten und ihn auf das Schlachtfeld mitzubringen.«
»Sie scherzen immer noch«, sagte Pawel Petrowitsch, vom Stuhl aufstehend. »Aber nach der liebenswürdigen Bereitwilligkeit, die Sie soeben an den Tag gelegt, habe ich kein Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen … Also ist alles geregelt … Apropos, besitzen Sie Pistolen?«
»Woher sollte ich Pistolen haben, Pawel Petrowitsch? Ich bin kein Krieger.«
»In diesem Fall biete ich Ihnen die meinen an. Sie können dessen gewiß sein, daß ich schon seit fünf Jahren aus ihnen keinen Schuß abgegeben habe.«
»Das ist eine sehr tröstliche Mitteilung!«
Pawel Petrowitsch nahm seinen Stock zur Hand …
»Und nun, mein Herr, bleibt mir nur noch übrig, Ihnen zu danken und Sie Ihren gelehrten Beschäftigungen zu überlassen. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen!«
»Auf angenehmes Wiedersehen, mein Herr!« versetzte Basarow, seinen Gast an die Tür geleitend.
Pawel Petrowitsch entfernte sich, und Basarow, der an der Tür stehengeblieben war, rief plötzlich: »Pfui Teufel! Wie schön und wie dumm! Was für eine Komödie wir da aufführen! So pflegen dressierte Hunde auf den Hinterbeinen zu tanzen. Aber nein sagen konnte ich unmöglich, er wäre womöglich handgreiflich geworden, und dann …« Basarow erbleichte allein bei diesem Gedanken, sein ganzer Stolz bäumte sich auf. »Dann hätte ich ihn wie eine junge Katze abwürgen müssen.« Er kehrte zu seinem Mikroskop zurück, aber sein Herz war in Aufruhr, und die für genaue Beobachtungen unerläßliche Ruhe war geschwunden. ›Er hat uns heute gesehen‹, dachte er, ›aber nimmt er sich wirklich nur seines Bruders an? Und dann: was ist schon an einem Kuß gelegen! Dahinter muß etwas anderes stecken! Hm, ist er am Ende selbst verliebt? Natürlich, er ist verliebt; das ist sonnenklar … Welche Verquickung, man denke nur! … Schlimm!‹ schloß er endlich. »Schlimm, von welcher Seite man auch die Sache betrachtet – zuerst heißt es, die Stirn hinhalten und dann, wie die Sache auch ausgehen mag, abreisen; und dann Arkadij … und dieses Lamm Gottes, Nikolai Petrowitsch. Schlimm, schlimm!«
Der Tag verging besonders still und schläfrig. Fenitschka war wie von der Erde verschwunden; sie saß in ihrem Stübchen wie ein Mäuschen in seinem Loch. Nikolai Petrowitsch trug eine sorgenvolle Miene zur Schau. Man hatte ihm gemeldet, daß sich in seinem Weizen, auf den er besondere Hoffnungen setzte, Brand gezeigt hätte. Pawel Petrowitsch erdrückte alle, sogar Prokofjitsch, durch eisige Höflichkeit. Basarow begann einen Brief an seinen Vater zu schreiben, aber er zerriß ihn wieder und warf ihn unter den Tisch. ›Wenn ich sterbe‹, dachte er, ›werden sie es erfahren; aber ich werde nicht sterben! Nein, ich werde mich noch lange auf dieser Welt herumdrücken.‹ Er hieß Pjotr, am andern Morgen bei Tagesanbruch in einer wichtigen Angelegenheit zu ihm zu kommen: Pjotr bildete sich ein, er wolle ihn nach Petersburg mitnehmen. Basarow ging spät zu Bett, und die ganze Nacht quälten ihn wirre Träume. Frau Odinzowa kreiste um ihn; zugleich war sie seine Mutter; ein Kätzchen mit schwarzem Schnurrbart ging hinter ihr her, und dieses Kätzchen war Fenitschka; Pawel Petrowitsch erschien ihm als großer Wald, und doch mußte er sich mit ihm duellieren. Gegen vier Uhr wurde er von Pjotr geweckt; er kleidete sich sofort an und verließ mit ihm das Haus.
Der Morgen war wohltuend frisch; kleine, buntgefleckte, gefiederte Wolken standen auf dem klarblassen Blau des Himmels; feiner Tau perlte auf Blättern und Gräsern und schimmerte silbern auf den Spinngeweben; die feuchte, dunkle Erde schien noch Spuren der Morgenröte bewahrt zu haben, vom Himmel herab ergoß sich der Gesang der Lerchen. Basarow erreichte das Wäldchen, setzte sich im Schatten am Waldrand nieder und eröffnete Pjotr erst dann, welcher Art Dienst er von ihm erwartete. Der gebildete Lakai bekam einen Todesschreck; aber Basarow beruhigte ihn durch die Versicherung, daß er nichts anderes zu tun habe, als nur in einiger Entfernung zuzuschauen, und daß er auch nicht die geringste Verantwortung trage. »Und doch«, fügte er hinzu, »bedenke, welch wichtige Rolle dir zufallen kann.« Pjotr schlug die Arme auseinander, senkte die Augen zur Erde und lehnte sich, ganz grün im Gesicht, an eine Birke.
Der Weg, der aus Marjino führte, bog um ein Gehölz; leichter Staub, der seit dem vorhergehenden Abend weder von einem Rade noch von einem Fuße berührt war, bedeckte die Landstraße. Basarow ließ unwillkürlich seine Augen den Weg entlangschweifen, riß Grashalme aus und zerbiß sie und sprach vor sich hin: »So ein Blödsinn!« Die Morgenfrische machte ihn ein paarmal schaudern. Pjotr sah ihn betrübt an, aber Basarow lächelte nur etwas höhnisch: er empfand nicht die leiseste Furcht.
Auf der Landstraße ließ sich der Hufschlag von Pferden vernehmen … Hinter den Bäumen zeigte sich ein Bauer. Er trieb zwei zusammengekoppelte Pferde vor sich her; als er an Basarow vorüberkam, sah er ihn mit etwas seltsamem Blick an, ohne jedoch die Mütze abzunehmen, was Pjotr offenbar als schlechte Vorbedeutung verwirrte. ›Auch dieser da ist früh aufgestanden‹, dachte Basarow, ›aber er hat wenigstens zu tun, und wir?‹
»Ich glaube, da kommen der gnädige Herr«, flüsterte plötzlich Pjotr.
Basarow erhob den Kopf und erblickte Pawel Petrowitsch. Bekleidet mit einer leichten karierten Jacke und schneeweißen Hosen, kam er raschen Schrittes die Straße entlang; unter dem Arm trug er eine Kassette, die in grünes Tuch eingeschlagen war.
»Verzeihen Sie, ich glaube, ich habe Sie warten lassen«, sagte er, indem er zuerst Basarow und dann Pjotr grüßte, den er in diesem Augenblick als eine Art Sekundanten achtete. »Ich wollte nicht meinen Kammerdiener wecken.«
»Es hat nichts zu sagen«, antwortete Basarow, »wir selber sind soeben erst gekommen.«
»Ah, um so besser!« Pawel Petrowitsch blickte rings tun sich. »Niemand ist zu sehen, niemand wird uns stören … Können wir beginnen?«
»Ja, beginnen wir.«
»Sie verlangen hoffentlich keine neuen Erklärungen?«
»Nein.«
»Wollen Sie die Freundlichkeit haben zu laden?« fragte Pawel Petrowitsch, indem er der Kassette die Pistolen entnahm.
»Nein, laden Sie, ich will inzwischen die Schritte abmessen.
Ich habe längere Beine«, versetzte Basarow mit spöttischem Lächeln. »Eins, zwei, drei …«
»Jewgenij Wassilitsch«, stieß Pjotr mit Mühe hervor (er schüttelte sich wie im Fieber), »tun Sie, was Sie wollen, aber ich trete zur Seite.«
»Vier … fünf … Geh nur, mein Lieber, geh; du darfst dich sogar hinter einen Baum stellen und dir die Ohren zustopfen, nur darfst du die Augen nicht schließen! Und sollte der eine hinfallen, dann stürze herbei, um ihn aufzurichten. Sechs … sieben … acht.« Basarow blieb stehen. »Ist's genug?« fragte er, sich an Pawel Petrowitsch wendend, »oder soll ich noch zwei Schritt drauf geben?«
»Wie's Ihnen beliebt«, versetzte dieser, die zweite Kugel hineinstoßend.
»Gut, so wollen wir noch zwei Schritt drauf geben.« Basarow zog mit der Stiefelspitze einen Strich auf dem Boden. »Das wäre also die Barriere. Apropos: wieviel Schritt vor der Barriere hat sich jeder von uns aufzustellen? Auch das ist eine wichtige Frage. Gestern wurde sie nicht erörtert.«
»Ich denke, zehn«, antwortete Pawel Petrowitsch, indem er Basarow die beiden Pistolen hinhielt. »Belieben Sie zu wählen.«
»Ich beliebe. Aber gestehen Sie, Pawel Petrowitsch, daß unser Duell bis zur Lächerlichkeit ungewöhnlich ist. Sehen Sie sich nur die Physiognomie unseres Sekundanten an.«
»Sie belieben immer noch zu scherzen«, antwortete Pawel Petrowitsch. »Ich will die Seltsamkeit unseres Duells nicht in Abrede stellen, aber ich halte es für meine Pflicht, Sie zu warnen, daß ich entschlossen bin, mich im Ernst zu schlagen. À bon entendeur, salut Französisch: »Wer Ohren hat, der höre!« (Anm. d. Übers.)!«
»Oh, ich zweifle nicht daran, daß wir entschlossen sind, einander zu vernichten; aber warum soll man nicht dabei seinen Spaß haben und nicht das dulce mit dem utile Lateinisch: das Süße mit dem Nützlichen. (Anm. d. Übers.) verbinden? Also: Sie kommen zu mir mit Ihrem Französisch, ich zu Ihnen mit meinem Latein.«
»Ich werde mich im Ernst schlagen«, wiederholte Pawel Petrowitsch und begab sich nach seinem Platz. Basarow zählte seinerseits zehn Schritt von der Barriere und blieb dann stehen.
»Sind Sie bereit?« fragte Pawel Petrowitsch.
»Vollkommen.«
»Dann können wir jetzt einander entgegengehen.«
Basarow rückte leise vor, während Pawel Petrowitsch, die linke Hand in der Tasche, auf ihn losging und langsam den Lauf seiner Pistole hob … ›Er zielt direkt nach meiner Nase‹, dachte Basarow: ›und wie sorgfältig er blinzelt, der Räuber! Das ist doch eine recht unangenehme Empfindung. Ich will seine Uhrkette aufs Korn nehmen …‹ Etwas pfiff dicht am Ohr Basarows vorbei, und in demselben Augenblick knallte ein Schuß. ›Ich hab's gehört, also ist nichts geschehen‹, flog es ihm durch den Kopf. Er tat noch einen Schritt und drückte ab, ohne zu zielen.
Pawel Petrowitsch zuckte leicht zusammen und griff sich an den Schenkel. Ein Blutstrahl rann seine weiße Hose herunter.
Basarow warf seine Pistole zur Seite und näherte sich seinem Gegner.
»Sind Sie verwundet?« fragte er.
»Sie hatten das Recht, mich bis zur Barriere vorschreiten zu lassen«, sprach Pawel Petrowitsch, »das aber ist eine Lappalie. Laut Bedingung hat jeder von uns noch einen Schuß.«
»Nein, Verzeihung, ein anderes Mal«, antwortete Basarow und umfaßte Pawel Petrowitsch, der zu erblassen anfing. »Jetzt bin ich nicht mehr Duellant, sondern Arzt, und ich muß vor allem Ihre Wunde untersuchen. Pjotr, komm mal her. Pjotr, wo steckst du denn?«
»Das alles ist Unsinn … Ich brauche niemands Hilfe«, brachte Pawel Petrowitsch stockend hervor, »und … wir müssen … noch einmal …« Er wollte sich am Schnurrbart zupfen, aber seine Hand erschlaffte, er verdrehte die Augen und verlor das Bewußtsein.
»Da haben wir die Bescherung! Ein Ohnmachtsanfall! Wovon eigentlich!« rief unwillkürlich Basarow, indem er Pawel Petrowitsch ins Gras legte. »Sehen wir uns einmal an, was los ist.« Er zog sein Taschentuch hervor, tupfte das Blut auf und tastete die Wunde ab … »Der Knochen ist heil«, murmelte er durch die Zähne, »die Kugel ist nicht tief durchgegangen; sie hat nur den Muskel vastus externus gestreift. In drei Wochen kann er tanzen! … Und dabei in Ohnmacht fallen! Ach, diese nervösen Herren! Welch feine Haut …«
»Getötet?« hauchte hinter seinem Rücken die bebende Stimme Pjotrs.
Basarow sah sich um.
»Geh, mein Lieber, und hol schleunigst Wasser; er wird dich und mich noch überleben.«
Aber der vollkommene Diener schien seine Worte nicht zu verstehen und rührte sich nicht vom Fleck. Pawel Petrowitsch schlug langsam die Augen auf. »Er gibt den Geist auf«, flüsterte Pjotr und fing an, sich zu bekreuzigen.
»Sie haben recht. Welch eine dumme Physiognomie!« sagte mit einem gezwungenen Lächeln der verwundete Gentleman.
»So geh doch und hole Wasser, zum Donnerwetter!« rief Basarow.
»Es ist nicht nötig. Es war nur ein vorübergehender vertige Französisch: Schwindel. (Anm. d. Übers.) … Helfen Sie mir, mich aufzurichten … so … Wenn Sie die kleine Schramme mit irgend etwas abbinden, kann ich zu Fuß nach Hause gehen, sonst könnte man eine Droschke herschicken, um mich abzuholen. Wenn Sie wollen, wird unser Zweikampf nicht erneuert. Sie haben heute edel gehandelt … wohlgemerkt, heute.«
»Wozu an die Vergangenheit erinnern«, erwiderte Basarow, »und was die Zukunft betrifft, so brauchen Sie sich auch darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, denn ich habe die Absicht, mich sofort aus dem Staube zu machen. Jetzt lassen Sie mich das Bein verbinden; Ihre Wunde ist nicht gefährlich, aber es ist immerhin besser, das Blut zu stillen. Aber zuerst muß ich diesen Sterblichen zur Besinnung bringen.«
Basarow packte Pjotr beim Kragen, schüttelte ihn und schickte ihn fort, um eine Droschke zu besorgen.
»Aber nimm dich in acht, erschrecke meinen Bruder nicht«, schärfte ihm Pawel Petrowitsch ein, »daß du dich nicht unterstehst, ihm etwas zu melden!«
Pjotr raste davon, und während er eine Droschke besorgte, saßen die beiden Gegner auf der Erde und schwiegen. Pawel Petrowitsch gab sich Mühe, Basarow nicht anzusehen; sich mit ihm zu versöhnen, hatte er dennoch keine Lust; er schämte sich seiner Überheblichkeit, seines Mißerfolges, schämte sich der ganzen von ihm angezettelten Affäre, obgleich er fühlte, daß sie nicht glücklicher hätte ausgehen können. ›So wird er wenigstens nicht mehr hier hocken‹, beruhigte er sich; ›und das ist schon ein Gewinn.‹ Das drückende, peinliche Schweigen dauerte an. Beiden war nicht geheuer zumute. Jeder war sich dessen bewußt, daß der andere ihn verstand. Für Freunde ist diese Erkenntnis angenehm, aber höchst unangenehm für Feinde, insbesondere, wenn sie sich weder aussprechen noch trennen können.
»Habe ich Ihr Bein nicht zu fest verbunden?« fragte endlich Basarow.
»Nein, alles ist in Ordnung«, antwortete Pawel Petrowitsch und setzte nach einer Weile hinzu: »Mein Bruder wird sich nicht irreführen lassen, wir werden ihm sagen müssen, wir wären wegen einer politischen Frage in Streit geraten.«
»Sehr gut«, versetzte Basarow. »Sie können sagen, ich hatte auf sämtliche Anglomanen geschimpft.«
»Ausgezeichnet. Was, glauben Sie, denkt jetzt dieser Mann von uns?« fuhr Pawel Petrowitsch fort, auf denselben Bauern hinzeigend, der einige Minuten vor dem Zweikampf die zusammengekoppelten Pferde an Basarow vorbeigetrieben hatte und, als er auf demselben Wege zurückkam, beim Anblick der »Herrschaften« von der Straße abbog und die Mütze abnahm.
»Wer kann das wissen?« antwortete Basarow. »Wahrscheinlich denkt er überhaupt nicht. Der russische Bauer ist eben der geheimnisvolle Unbekannte, von dem Frau Radcliffe einst so viel schrieb. Wer kennt sich in ihm aus? Er kennt sich wohl selber nicht.«
»Ah, da wollen Sie hinaus«, begann Pawel Petrowitsch, aber plötzlich rief er aus: »Sehen Sie nur, was dieser Tor, der Pjotr, da angerichtet hat! Da kommt ja mein Bruder herangesprengt.«
Basarow wandte sich um und gewahrte das blasse Gesicht Nikolai Petrowitschs, der in einer Droschke saß. Bevor sie hielt, sprang er heraus und eilte auf seinen Bruder zu.
»Was bedeutet das?« rief er mit aufgeregter Stimme. »Jewgenij Wassilitsch, ich bitte Sie, was ist geschehen?«
»Nichts!« antwortete Pawel Petrowitsch. »Es war unnötig, dich zu beunruhigen. Herr Basarow und ich hatten einen kleinen Handel miteinander, und ich bin dafür ein wenig gestraft worden.«
»Aber um Gottes willen, weswegen all das?«
»Wie soll ich dir das klarmachen? Herr Basarow hatte sich unehrerbietig über Sir Robert Peel geäußert. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß ich an der ganzen Sache der einzig Schuldige bin und daß Herr Basarow sich glänzend benommen hat. Ich hatte ihn gefordert.«
»Aber ich sehe Blut!«
»Glaubtest du etwa, ich hätte Wasser in den Adern? Doch dieser kleine Aderlaß ist für mich nur von Nutzen. Nicht wahr, Doktor? Hilf mir in die Droschke und gib dich nicht der Melancholie hin. Morgen bin ich gesund. So-o, schön. Und nun kann's losgehen, Kutscher!«
Nikolai Petrowitsch folgte der Droschke zu Fuß; Basarow wollte zurückbleiben …
»Ich muß Sie bitten, sich meines Bruders anzunehmen«, sagte Nikolai Petrowitsch zu ihm, »bis aus der Stadt ein anderer Arzt eingetroffen ist.«
Basarow neigte schweigend den Kopf.
Eine Stunde später lag Pawel Petrowitsch bereits mit einem kunstgerechten Verband am Bein im Bett. Das ganze Haus geriet in Aufregung; Fenitschka wurde es schlecht. Nikolai Petrowitsch rang im stillen die Hände, aber Pawel Petrowitsch lachte und scherzte, besonders mit Basarow; er zog ein feines Batisthemd und eine elegante Morgenjacke an und setzte ein Fes auf, er erlaubte nicht, die Rouleaus herunterzulassen, und beklagte sich in ergötzlicher Weise über die schmale Krankenkost.
Gegen Abend jedoch stellte sich bei ihm Fieber ein; er bekam Kopfschmerzen. Es erschien ein Arzt aus der Stadt. (Nikolai Petrowitsch hatte auf seinen Bruder nicht gehört, und Basarow selbst hatte es gewünscht: er saß den ganzen Tag über in seinem Zimmer, ganz gelb im Gesicht und wütend, dem Kranken stattete er nur ganz kurze Besuche ab; ein paarmal begegnete er zufällig Fenitschka, aber sie sprang vor ihm entsetzt zur Seite.) Der neue Arzt verschrieb kühlende Getränke, bestätigte im übrigen Basarows Versicherung, daß absolut keine Gefahr vorliege. Nikolai Petrowitsch sagte ihm, sein Bruder hätte sich unvorsichtigerweise selbst verwundet, worauf der Doktor mit einem »Hm!« antwortete; als er jedoch auf der Stelle fünfundzwanzig Rubel in Silber in die Hand gedrückt bekam, setzte er hinzu:
»Was Sie nicht sagen! So was kommt tatsächlich häufig vor!«
Niemand im Haus ging zu Bett, niemand kam aus den Kleidern. Nikolai Petrowitsch schlich jeden Augenblick auf Zehenspitzen in das Zimmer seines Bruders und verließ es wieder auf Zehenspitzen: dieser schlummerte, stöhnte leise, sagte zu ihm auf französisch: »Couchez-vous Französisch: »Legen Sie sich nieder!« (Anm. d. Übers.)!« und verlangte zu trinken. Nikolai Petrowitsch zwang einmal Fenitschka, ihm ein Glas Limonade zu reichen; Pawel Petrowitsch sah sie prüfend an und leerte das Glas bis zur Neige. Gegen Tagesanbruch nahm das Fieber etwas zu, es stellte sich ein leichtes Delirium ein. Anfangs stieß Pawel Petrowitsch unzusammenhängende Laute aus; dann schlug er plötzlich die Augen auf, und als er neben seinem Bett seinen Bruder über sich gebeugt sah, sagte er:
»Nicht wahr, Nikolai, Fenitschka hat etwas von Nelly an sich?«
»Von welcher Nelly, lieber Pawel?«
»Wie kannst du nur fragen! Von der Fürstin R... Besonders im oberen Teil des Gesichts. C'est de la même famille Französisch: »Das ist von derselben Familie.« (Anm. d. Übers.).«
Nikolai Petrowitsch antwortete nichts, mußte sich aber im Innern wundern, wie zäh alte Gefühle im Menschen fortleben.
›Gerade jetzt kommt es an die Oberfläche!‹ dachte er.
»Ach, wie ich dieses unbedeutende Geschöpf liebe!« stöhnte Pawel Petrowitsch, schmerzvoll die Hände unter dem Kopf verschränkend. »Ich werde es nicht dulden, daß ein frecher Kerl sich erlaubt, sie zu berühren …«, lallte er einige Augenblicke später.
Nikolai Petrowitsch stieß nur einen Seufzer aus; er ahnte nicht, auf wen sich diese Worte bezogen.
Am andern Tag gegen acht Uhr erschien Basarow bei ihm. Er hatte bereits seine Sachen gepackt und seine sämtlichen Frösche, Insekten und Vögel freigelassen.
»Sie kommen, um von mir Abschied zu nehmen?« sprach Nikolai Petrowitsch, indem er aufstand, um ihm entgegenzugehen.
»Jawohl.«
»Ich verstehe Sie und billige Ihren Entschluß. Mein armer Bruder ist natürlich schuld: er ist ja auch dafür bestraft. Er hat mir selbst gesagt, daß er Sie in die Unmöglichkeit versetzt hat, anders zu handeln. Ich glaube wohl, daß es Ihnen unmöglich war, dieses Duell zu vermeiden, das … das sich bis zu einem gewissen Grad allein aus dem beständigen Antagonismus Ihrer beiderseitigen Ansichten erklärt.« Nikolai Petrowitsch verfing sich in seinen Worten. »Mein Bruder ist ein Mann alten Schlages, jähzornig und hartnäckig … Gott sei Dank, daß alles noch so abgelaufen ist. Ich habe alle Maßnahmen getroffen, damit die Sache nicht in die Öffentlichkeit dringt …«
»Ich lasse Ihnen meine Adresse zurück für den Fall, daß eine Affäre entstehen sollte«, bemerkte Basarow lässig.
»Ich will hoffen, daß keine Affäre entsteht, Jewgenij Wassilitsch … Es tut mir sehr leid, daß Ihr Aufenthalt in meinem Hause ein solches … ein solches Ende genommen hat. Für mich ist es um so betrüblicher, als Arkadij …«
»Ich werde ihn wahrscheinlich treffen«, versetzte Basarow, in dem »Erklärungen« und »Bezeugungen« jeder Art stets ein Gefühl von Ungeduld erregten; »sollte es anders kommen, so bitte ich Sie, ihn von mir zu grüßen und ihm mein Bedauern auszusprechen.«
»Und auch ich bitte …«, antwortete Nikolai Petrowitsch mit einer Verbeugung. Doch Basarow wartete das Ende seines Satzes nicht ab und entfernte sich.
Als Pawel Petrowitsch hörte, daß Basarow abreisen wollte, äußerte er den Wunsch, ihn zu sehen und ihm die Hand zu drücken. Aber auch hierbei blieb Basarow kalt wie Eis; er begriff, daß Pawel Petrowitsch den Hochherzigen spielen wollte. Von Fenitschka Abschied zu nehmen, gelang ihm nicht; er wechselte mit ihr nur einen Blick aus dem Fenster. Ihr Gesicht erschien ihm traurig. »Sie ist wohl verloren«, sagte er vor sich hin … »Na, sie wird sich schon irgendwie herausrappeln!« Pjotr hingegen geriet in eine solche Rührung, daß er, an Basarows Schulter gelehnt, weinte, bis dieser ihn durch die Frage abkühlte: »Deine Tränendrüsen sind wohl locker?« Dunjascha aber sah sich genötigt, ins Wäldchen zu laufen, um ihre Aufregung zu verbergen. Der Urheber all dieses Schmerzes kletterte auf den Leiterwagen, steckte sich eine Zigarre an, und als vier Werst weiter bei einer Straßenbiegung zum letztenmal das Kirsanowsche Gut mit dem neuerbauten Herrenhaus vor seinen Augen erschien, spuckte er nur aus, murmelte: »Diese verfluchten Herrensöhnchen!« und hüllte sich fester in seinen Mantel.
Pawel Petrowitsch fühlte sich bald besser; aber er mußte etwa acht Tage lang das Bett hüten. Er ertrug seine, wie er sich ausdrückte, Gefangenschaft ziemlich geduldig; nur gab er sich viel mit seiner Toilette ab und ließ sich beständig mit Kölnischem Wasser erfrischen. Nikolai Petrowitsch las ihm aus Zeitschriften vor, Fenitschka bediente ihn wie gewöhnlich, brachte ihm Fleischbrühe, Limonade, weichgekochte Eier, Tee; aber ein geheimes Entsetzen bemächtigte sich ihrer jedesmal, wenn sie sein Zimmer betrat. Der unerwartete Schritt Pawel Petrowitschs hatte allen im Hause, besonders aber ihr, einen Schrecken eingejagt; Prokofjitsch war der einzige, der nicht die Fassung verlor und davon redete, daß zu seiner Zeit nur die Herrschaften sich schlugen, »nur feine Leute unter sich, aber solche hergelaufenen Strolche hätten sie, wenn sie frech wurden, im Pferdestall durchpeitschen lassen.«
Fenitschkas Gewissen hatte sich fast nichts vorzuwerfen; aber hin und wieder quälte sie der Gedanke an die wahre Ursache des Streites, auch blickte Pawel Petrowitsch so seltsam auf sie … so, daß sie, sogar wenn sie mit dem Rücken zu ihm stand, seine Augen auf sich fühlte. Infolge der ständigen inneren Unruhe magerte sie ab, aber das machte sie, wie es oft vorkommt, nur noch lieblicher.
Eines Tages – es war um die Morgenzeit – fühlte sich Pawel Petrowitsch so wohl, daß er das Bett mit dem Diwan vertauschte. Nachdem Nikolai Petrowitsch sich nach seiner Gesundheit erkundigt hatte, verfügte er sich auf die Dreschtenne. Fenitschka brachte eine Tasse Tee herein, stellte sie auf den Tisch und wollte sich entfernen. Pawel Petrowitsch hielt sie zurück.
»Warum eilen Sie so, Fedossja Nikolajewna?« begann er, »haben Sie zu tun?«
»Nein … Ich muß dort den Tee ausschenken.«
»Das wird Dunjascha ohne Sie besorgen; leisten Sie einem armen Kranken ein wenig Gesellschaft. Ich muß auch mit Ihnen sprechen.«
Fenitschka nahm schweigend auf dem Rand eines Sessels Platz.
»Hören Sie«, sprach Pawel Petrowitsch, an seinem Schnurrbart zupfend, »ich wollte Sie schon lange etwas fragen: es scheint, als ob Sie mich fürchteten.«
»Ja, Sie. Sie sehen mich nie an, als ob Sie ein nicht ganz reines Gewissen hätten.«
Fenitschka errötete, sah aber Pawel Petrowitsch an. Er erschien ihr so eigentümlich, daß sich ihr Herz unwillkürlich zusammenkrampfte.
»Sie haben doch ein reines Gewissen?« fragte er sie.
»Warum sollte ich kein reines Gewissen haben?« flüsterte sie.
»Wer weiß, warum! Übrigens, gegen wen könnten Sie sich vergangen haben? Gegen mich? Das wäre unwahrscheinlich. Oder gegen sonst jemand hier im Hause? Das ist ebenfalls unmöglich. Etwa gegen meinen Bruder? Aber Sie lieben ihn ja?«
»Ja, ich liebe ihn.«
»Von ganzem Herzen?«
»Ich liebe Nikolai Petrowitsch von ganzem Herzen.«
»Wirklich? Sehen Sie mich an, Fenitschka.« (Es war das erstemal, daß er sie so nannte …) »Sie wissen – Lügen ist eine große Sünde!«
»Ich lüge nicht, Pawel Petrowitsch. Wenn ich Nikolai Petrowitsch nicht liebte, verdiente ich ja nicht zu leben.«
»Und Sie würden ihn niemand zuliebe aufgeben?«
»Wem zuliebe sollte ich ihn denn aufgeben?«
»Wem zuliebe? Wer weiß! Nun, sagen wir, dem Herrn zuliebe, der soeben abgereist ist.«
Fenitschka stand auf. »Herrgott im Himmel, Pawel Petrowitsch, warum quälen Sie mich? Was habe ich Ihnen getan? Wie kann man bloß so reden! …«
»Fenitschka«, sprach Pawel Petrowitsch mit trauriger Stimme, »ich hab' ja gesehen …«
»Was haben Sie gesehen?«
»Dort … in der Laube.«
Fenitschka errötete bis unter die Haare und über die Ohren. »Was kann ich dafür?« brachte sie mit Überwindung hervor.
Pawel Petrowitsch richtete sich auf.
»Sie trifft keine Schuld? Nein? In keiner Beziehung?«
»Ich liebe Nikolai Petrowitsch allein auf der Welt und werde ihn mein Leben lang lieben«, sprach Fenitschka mit einem plötzlichen Kraftaufwand, während ein Schluchzen ihre Kehle zuschnürte, »und was Sie da gesehen haben, so kann ich vor dem Jüngsten Gericht erklären, daß es nicht meine Schuld ist und auch nicht war, und ich will lieber auf der Stelle sterben, wenn man mich verdächtigt, ich könnte meinen Wohltäter, Nikolai Petrowitsch …«
Aber hier versagte ihre Stimme, und in demselben Augenblick fühlte sie, daß Pawel Petrowitsch ihre Hand ergriffen hatte und sie fest drückte … Sie sah ihn wie versteinert an. Er wurde noch blasser, als er sonst war; seine Augen glänzten, und – was am merkwürdigsten war – eine schwere, einsame Träne rollte seine Wange hinab.
»Fenitschka!« sagte er in einem seltsamen Flüsterton. »Lieben Sie, lieben Sie meinen Bruder! Er ist ein so gütiger, trefflicher Mensch! Werden Sie ihm nicht untreu, niemand zuliebe, hören Sie auf keines Menschen Reden! Bedenken Sie, was kann es Schrecklicheres geben, als zu lieben und nicht geliebt zu werden! Verlassen Sie nie meinen armen Nikolai!«
Fenitschkas Augen waren wieder trocken, und ihre Furcht war verschwunden – so groß war ihr Erstaunen. Aber was geschah erst mit ihr, als Pawel Petrowitsch, Pawel Petrowitsch selber, ihre Hand an seine Lippen preßte und sie nicht fortnahm, ohne sie zu küssen, und nur von Zeit zu Zeit einen schweren Seufzer ausstoßend …
›Lieber Gott!‹ dachte sie. ›Wenn er nur keinen Anfall bekommt …‹
In diesem Augenblick bebte in ihm sein ganzes verlorenes Leben.
Die Treppe knarrte unter hastigen Schritten … Er stieß sie von sich und warf den Kopf auf das Kissen zurück. Die Tür ging auf, und mit fröhlichem, frischem und gerötetem Gesicht erschien Nikolai Petrowitsch; Mitja, ebenso frisch und rot wie sein Vater, hüpfte im bloßen Hemdchen auf seinem Arm, indem er sich mit seinen nackten Füßchen an die großen Knöpfe seines Dorfmantels klammerte.
Fenitschka stürzte auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und um ihren Sohn und drückte ihren Kopf gegen seine Schulter. Nikolai Petrowitsch war verblüfft: Fenitschka, die schüchterne und zurückhaltende Fenitschka, hatte ihn nie in Gegenwart einer dritten Person geliebkost.
»Was hast du denn?« sagte er, blickte seinen Bruder an und übergab ihr Mitja. »Du fühlst dich doch nicht schlechter?« fragte er, auf Pawel Petrowitsch zutretend.
Dieser verbarg sein Gesicht in seinem batistenen Schnupftuch. »Nein … es ist nichts … Im Gegenteil, ich fühle mich viel besser.«
»Du bist voreilig auf den Diwan umgezogen. Wohin?« setzte Nikolai Petrowitsch hinzu, sich an Fenitschka wendend; aber diese hatte schon die Tür hinter sich zugeschlagen. »Ich wollte dir meinen Balg zeigen; er bekam Sehnsucht nach seinem Onkel. Warum hat sie ihn wieder fortgetragen? Aber was hast du denn? Ist am Ende zwischen euch etwas vorgefallen?«
»Mein Bruder!« rief Pawel Petrowitsch feierlich.
Nikolai Petrowitsch fuhr zusammen. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, er wußte selbst nicht, warum.
»Mein Bruder«, wiederholte Pawel Petrowitsch, »gib mir dein Wort, daß du meine Bitte erfüllen wirst.«
»Was für eine Bitte? Sprich!«
»Es ist eine sehr wichtige Bitte, von ihr hängt meiner Meinung nach das ganze Glück deines Lebens ab. Diese ganze Zeit habe ich viel über das nachgedacht, was ich dir jetzt sagen will … Mein Bruder, erfülle deine Pflicht, die Pflicht eines ehrlichen und edlen Mannes, mach Schluß mit der Versuchung und dem schlechten Beispiel, das du bietest, du, der beste der Menschen!«
»Was willst du damit sagen, Pawel?«
»Heirate Fenitschka … Sie liebt dich; sie ist die Mutter deines Sohnes.«
Nikolai Petrowitsch trat einen Schritt zurück und schlug die Hände zusammen.
»Das sagst du, Pawel? Du, den ich stets für den unversöhnlichsten Gegner derartiger Ehen gehalten habe! Das sagst du! Aber weißt du denn nicht, daß ich einzig und allein aus Rücksicht auf dich nicht das erfüllt habe, was du mit Recht als meine Pflicht bezeichnet hast?«
»Zu Unrecht hast du in diesem Fall Rücksicht auf mich genommen«, erwiderte Pawel Petrowitsch mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich fange an zu glauben, daß Basarow recht hatte, als er mir Aristokratismus vorwarf. Nein, mein lieber Bruder, wir haben uns lange genug wichtig getan und an das Urteil der großen Welt gedacht: wir sind schon alte und zahme Leute, es ist höchste Zeit, daß wir alle Eitelkeit abstreifen. Nun wollen wir, wie du richtig sagst, unsere Pflicht erfüllen, und du wirst sehen, wir erhalten das Glück noch obendrein.«
Nikolai Petrowitsch schloß seinen Bruder in die Arme.
»Du hast mir endgültig die Augen geöffnet!« rief er. »Nicht umsonst habe ich dich stets für den besten und klügsten Menschen auf der Welt gehalten; jetzt sehe ich, daß du ebenso vernünftig wie großmütig bist!«
»Sachte, sachte«, unterbrach ihn Pawel Petrowitsch. »Reiß die Wunde auf dem Bein deines vernünftigen Bruders nicht auf, der fast fünfzig Jahre alt geworden ist und sich nun wie ein Fähnrich duelliert hat. Die Sache ist also abgemacht. Fenitschka wird meine … belle-sœur Französisch: Schwägerin. (Anm. d. Übers.) sein.«
»Mein lieber Pawel! Aber was wird Arkadij sagen?«
»Arkadij? Er wird jubeln, verlaß dich drauf! Die Ehe gehört nicht zu seinen Prinzipien, aber sein Gleichheitsgefühl wird geschmeichelt sein. Und in der Tat, wozu diese Kasten au dix-neuvième siècle Französisch: im 19. Jahrhundert. (Anm. d. Übers.)!«
»O Pawel, Pawel, laß dich noch einmal küssen! Habe keine Angst, ich bin vorsichtig.«
Die beiden Brüder umarmten sich.
»Was meinst du, solltest du ihr deinen Entschluß nicht sofort ankündigen?« fragte Pawel Petrowitsch.
»Wozu die Eile?« versetzte Nikolai Petrowitsch. »Habt ihr etwa miteinander gesprochen?«
»Gesprochen, wir? Quelle idée! Französisch: »Welche Idee!« (Anm. d. Übers.)«
»Na, um so besser. Vor allem mach, daß du gesund wirst, und das da wird uns nicht davonlaufen. Man muß reiflich bedenken und überlegen …«
»Aber du bist doch entschlossen?«
»Gewiß bin ich entschlossen, und ich bin dir von Herzen dankbar. Ich lasse dich jetzt allein; du bedarfst der Ruhe, jede Aufregung ist dir schädlich … Aber wir werden noch darüber sprechen. Versuch einzuschlafen, mein Herz, und möge dir Gott Gesundheit schenken!«
›Wofür dankt er mir so?‹ dachte Pawel Petrowitsch, als er wieder allein war. ›Als ob es nicht von ihm abhinge! Ich aber werde, sobald er geheiratet hat, mich irgendwo niederlassen, weit fort von hier, in Dresden oder in Florenz, und werde dort leben, bis ich krepiere.‹
Pawel Petrowitsch befeuchtete sich die Stirn mit Kölnischem Wasser und schloß die Augen. Beleuchtet vom grellen Tageslicht, ruhte sein schöner, abgemagerter Kopf auf dem weißen Kissen wie der Kopf eines Leichnams … Und er war ja auch ein Leichnam.