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XXIII

Nachdem Basarow mit ironischem Bedauern Arkadij begleitet und ihm zu verstehen gegeben hatte, daß er über den wahren Zweck seiner Reise keineswegs im Irrtum war, gab er sich endgültig der Einsamkeit hin: ein Arbeitsfieber hatte ihn erfaßt. Er stritt nicht mehr mit Pawel Petrowitsch, um so weniger, als dieser in seiner Gegenwart eine gar zu aristokratische Miene aufsetzte und seine Ansichten weniger durch Worte als durch Laute zum Ausdruck brachte. Nur einmal ließ sich Pawel Petrowitsch mit dem Nihilisten in einen Wettkampf ein, und zwar anläßlich der Rechte der Ostseeadligen, einer Frage, die damals Mode war; aber er selbst brach plötzlich ab und bemerkte mit kühler Höflichkeit: »Übrigens werden wir uns nie verstehen – ich wenigstens habe nicht die Ehre, Sie zu verstehen.«

»Aber natürlich!« rief Basarow. »Alles vermag der Mensch zu begreifen – auch wie der Äther schwingt und was sich auf der Sonne zuträgt, aber daß jemand sich anders schneuzen kann als er selbst, das vermag er nie und nimmer zu begreifen.«

»Soll das witzig sein?« erwiderte Pawel Petrowitsch in fragendem Ton und trat zur Seite.

Übrigens bat er Basarow zuweilen um die Erlaubnis, bei seinen Experimenten zugegen zu sein, und einmal näherte er sogar sein mit einem herrlichen Elixier gewaschenes und parfümiertes Gesicht dem Mikroskop, um zu sehen, wie eine durchsichtige Infusorie ein grünes Stäubchen verschlang und es mit den flinken Hämmerchen, die sich in seinem Schlund befanden, hastig zerkaute. Nikolai Petrowitsch besuchte Basarow viel häufiger, als sein Bruder es tat; er wäre jeden Tag gekommen, um, wie er sich ausdrückte, »zu lernen«, wenn die häuslichen Sorgen ihn nicht in Anspruch genommen hätten. Er störte den jungen Naturforscher nicht: er pflegte sich in eine Ecke des Zimmers zu setzen und aufmerksam zuzuschauen, nur hie und da erlaubte er sich, vorsichtig eine Frage zu stellen. Beim Mittag- und beim Abendessen suchte er stets das Gespräch auf Physik, Geologie oder Chemie zu bringen, da alle anderen Themen, selbst die Landwirtschaft – von der Politik gar nicht zu reden –, wenn nicht zu Konflikten, so doch zu allgemeinem Mißbehagen führen konnten. Nikolai Petrowitsch ahnte, daß sich seines Bruders Haß gegen Basarow nicht verringerte. Ein unbedeutender Zufall sollte ihn in seiner Ahnung bestärken. In der Umgegend begann sich die Cholera bemerkbar zu machen, sie »entriß« sogar zwei Opfer aus Marjino selbst. Eines Nachts bekam Pawel Petrowitsch einen ziemlich heftigen Anfall. Er quälte sich die ganze Nacht, ohne zu Basarows Kunst Zuflucht zu nehmen, und als dieser ihn am andern Tag sah und ihn fragte, warum er ihn nicht habe rufen lassen, antwortete er, noch ganz blaß, aber schon sorgfältig frisiert und rasiert: »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie doch selbst gesagt, Sie glauben nicht an die Medizin.« So vergingen die Tage. Basarow arbeitete beharrlich und mürrisch … und doch gab es im Hause Nikolai Petrowitschs ein Geschöpf, dem er zwar nicht sein Herz ausschüttete, mit dem er sich jedoch gern unterhielt … Dieses Geschöpf war Fenitschka.

Er traf sie meist frühmorgens, im Garten oder im Hof; ihr Zimmer betrat er nicht, und auch sie war nur ein einziges Mal an seine Tür getreten, um ihn zu fragen, ob sie Mitja baden solle oder nicht. Sie hatte nicht nur volles Vertrauen zu ihm, sie empfand nicht nur keine Furcht vor ihm, sie benahm sich in seiner Gegenwart sogar freier und ungezwungener als an Nikolai Petrowitschs Seite. Es wäre schwer zu sagen, woher das kam; vielleicht daher, daß sie unbewußt fühlte, daß Basarow nichts von all dem aristokratischen, hochgestellten Wesen an sich hatte, das sowohl lockt als auch schreckt. In ihren Augen war er sowohl ein ausgezeichneter Arzt wie ein einfacher Mensch. Seine Anwesenheit hielt sie nicht ab, sich mit ihrem Kinde zu beschäftigen, und als sie eines Tages einen Anfall von Schwindel und Kopfweh bekam, nahm sie aus seinen Händen einen Löffel Medizin an. In Nikolai Petrowitschs Gegenwart pflegte sie Basarow gegenüber wie eine Fremde aufzutreten: sie tat das nicht etwa aus List, sondern aus einem Anstandsgefühl heraus. Vor Pawel Petrowitsch fürchtete sie sich mehr denn je; seit einiger Zeit schien er sie zu beobachten; als wäre er aus der Erde gewachsen, tauchte er in seinem englischen Anzug urplötzlich hinter ihrem Rücken auf, mit regungslosem, lauerndem Gesicht, die Hände in den Hosentaschen. »Da läuft es mir kalt über den Rücken«, beklagte sich Fenitschka bei Dunjascha, während diese, statt jeder Antwort seufzte und an einen anderen »gefühllosen« Menschen dachte. Es war Basarow, der, ohne es zu ahnen, zum grausamen Tyrann ihres Herzens geworden war.

Fenitschka fand an Basarow Gefallen; aber auch sie gefiel ihm. Wenn er mit ihr sprach, veränderte sich sogar sein Gesicht: es nahm einen klaren, fast gütigen Ausdruck an, und in seine gewöhnliche Lässigkeit mischte sich eine gewisse scherzhafte Zuvorkommenheit. Fenitschka wurde mit jedem Tag schöner. Es gibt im Leben der jungen Frauen eine Zeit, wo sie plötzlich aufblühen und sich zu entfalten anfangen wie Sommerrosen; diese Zeit war für Fenitschka gekommen. Alles trug hierzu bei, sogar die Julihitze jener Tage. In ihrem leichten weißen Kleid schien sie selbst weißer und leichter: der Sonnenbrand verschonte sie, die Hitze, vor der sie sich nicht zu schützen vermochte, tönte ihre Wangen und Ohren mit einem leichten Rot, erfüllte ihren ganzen Körper mit wohliger Trägheit und ließ ihre schönen Augen wie in schmachtendem Halbschlummer erscheinen. Sie vermochte fast nicht zu arbeiten; die Hände sanken ihr in den Schoß. Sie bewegte sich kaum und hörte in drolliger Ergebung in ihre Ohnmacht nicht auf, zu ächzen und zu klagen.

»Du solltest öfters baden«, sagte Nikolai Petrowitsch zu ihr.

Er hatte zu diesem Zweck an einem der Teiche, der nicht ganz ausgetrocknet war, eine mit Leinwand überspannte Badezelle errichten lassen.

»Ach, Nikolai Petrowitsch, ehe ich den Teich erreiche, bin ich tot, oder ich sterbe auf dem Rückweg. Es ist ja kein Schatten im Garten.«

»Das ist wahr, der Weg ist ohne Schatten«, erwiderte Nikolai Petrowitsch und rieb sich die Brauen.

 

Als Basarow eines Morgens gegen sieben Uhr von seinem Spaziergang zurückkehrte, traf er Fenitschka in der Fliederlaube, die längst abgeblüht, aber noch dicht und grün war. Sie saß auf der Bank, wie gewöhnlich ein weißes Tuch um den Kopf; neben ihr lag ein Haufen taufeuchter roter und weißer Rosen. Er grüßte sie.

»Ah, Jewgenij Wassilitsch!« sagte sie und hob ein wenig den Rand des Tuches, um zu ihm hinzusehen, dabei entblößte sich ihr Arm bis zum Ellenbogen.

»Was machen Sie da?« fragte Basarow und nahm neben ihr Platz. »Binden Sie einen Strauß?«

»Ja, für den Frühstückstisch. Nikolai Petrowitsch liebt es.«

»Aber bis zum Frühstück ist noch viel Zeit. Welche Unmenge von Blumen!«

»Ich habe sie jetzt gepflückt, denn es wird dann so heiß, daß man nicht ausgehen kann. Man kann nur um diese Zeit atmen. Ich bin ganz matt von der Hitze. Ich fürchte, ich werde krank.«

»Was bilden Sie sich ein! Lassen Sie mich mal Ihren Puls fühlen.« Basarow ergriff ihre Hand, fand die gleichmäßig pulsierende Ader und hielt es nicht einmal für nötig, die Schläge zu zählen. »Sie werden hundert Jahre alt«, sagte er, ihre Hand loslassend.

»Ach, davor bewahre mich Gott!« rief sie.

»Warum denn? Möchten Sie denn nicht lange leben?«

»Aber hundert Jahre! Meine Großmutter ist fünfundachtzig alt geworden, da war sie eine wahre Märtyrerin! Schwarz, taub, bucklig, hustete in einem fort; sie wurde sich selber zur Last. Was ist das schon für ein Leben!«

»Es ist also besser, jung zu sein?«

»Aber natürlich!«

»Wodurch ist es besser? Sagen Sie's mir!«

»Wodurch? Wenn ich jung bin, kann ich alles tun, ich komme, ich gehe, ich besorge dies und jenes und brauche niemand um etwas zu bitten … Was kann man sich Besseres wünschen?«

»Mir aber ist es ganz gleich, ob ich jung oder alt bin.«

»Wie können Sie bloß so was sagen – ganz gleich? Das ist unmöglich, was Sie da sagen.«

»Aber urteilen Sie selber, Fedossja Nikolajewna, was habe ich von meiner Jugend? Ich lebe allein, als Hagestolz.«

»Das hängt ganz von Ihnen selbst ab.«

»Eben, nicht von mir selbst! Hätte ich jemand, der sich meiner erbarmt!«

Fenitschka sah Basarow von der Seite an, erwiderte aber nichts. »Was haben Sie da für ein Buch?« fragte sie nach einigem Schweigen.

»Das da? Das ist ein gelehrtes Buch, schwer zu verstehen.«

»Sie studieren in einem fort? Langweilt Sie das nicht? Ich denke, Sie wissen schon alles.«

»Wahrscheinlich nicht alles. Versuchen Sie doch, ein wenig darin zu lesen.«

»Ich werde ja nichts verstehen. Ist es Russisch?« fragte Fenitschka, indem sie den schweren, gebundenen Band in beide Hände nahm. »Welch ein dickes Buch!«

»Ja, es ist Russisch.«

»Einerlei, ich verstehe nichts davon.«

»Ich bitte Sie darum, nicht damit Sie etwas verstehen. Ich möchte Sie gern lesen sehen. Wenn Sie lesen, bewegt sich Ihre Nasenspitze so lieblich.«

Fenitschka, die angefangen hatte, halblaut einen Aufsatz »Über Kreosot« zu entziffern, brach in Lachen aus und warf das Buch hin … es glitt von der Bank zu Boden.

»Ich liebe es auch, wenn Sie lachen«, sagte Basarow.

»Hören Sie doch auf!«

»Ich liebe es, wenn Sie sprechen. Als wenn ein Bächlein rieselte.«

Fenitschka wandte den Kopf ab. »Was Sie da sagen!« rief sie, indem sie die Blumen durch die Finger gleiten ließ. »Und warum wollen Sie mich sprechen hören? Sie haben sich mit so gescheiten Damen unterhalten.«

»Ach, Fedossja Nikolajewna, glauben Sie mir, alle gescheiten Damen auf der Welt sind nicht einmal Ihren Ellenbogen wert.«

»Was fällt Ihnen ein!« flüsterte Fenitschka und drückte ihre Arme an sich.

Basarow hob das Buch vom Boden auf. »Das ist ein Buch für Ärzte«, sagte er. »Warum schmeißen Sie es hin?«

»Für Ärzte?« wiederholte Fenitschka und wandte ihr Gesicht zu ihm. »Wissen Sie was? Seitdem Sie mir die Tropfen gegeben haben – erinnern Sie sich noch? –, da schläft mein Mitja so gut! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen dafür bin. Sie sind so gütig, wahrhaftig!«

»Eigentlich soll man die Ärzte bezahlen«, bemerkte Basarow mit einem spöttischen Lächeln. »Sie wissen ja selber, Ärzte sind eigennützige Leute.«

Fenitschka richtete ihre Augen auf Basarow, die noch dunkler erschienen von dem weißlichen Abglanz, der auf den oberen Teil ihres Gesichtes fiel. Sie wußte nicht, ob er scherzte oder nicht.

»Wenn Sie wünschen, mit dem größten Vergnügen … Ich will Nikolai Petrowitsch fragen …«

»Sie glauben wohl, ich will Geld haben?« unterbrach sie Basarow. »Nein, Geld verlange ich von Ihnen nicht.«

»Was denn sonst?« fragte Fenitschka.

»Was?« wiederholte Basarow. »Raten Sie mal.«

»Wie könnt' ich das erraten.«

»So will ich es Ihnen sagen; ich verlange … eine von diesen Rosen.«

Fenitschka lachte von neuem, sie schlug sogar die Hände zusammen, so komisch erschien ihr Basarows Wunsch. Sie lachte, aber zugleich fühlte sie sich geschmeichelt. Basarow sah sie scharf an.

»Aber bitte, bitte«, brachte sie endlich hervor, neigte sich zur Bank hinab und begann die Rose auszusuchen. »Was für eine wünschen Sie: eine rote oder eine weiße?«

»Eine rote und nicht allzu große.«

Sie richtete sich auf.

»Da haben Sie«, sagte sie, riß jedoch sofort die ausgestreckte Hand zurück, biß sich auf die Lippen, blickte nach dem Eingang der Laube und horchte.

»Wer ist da?« fragte Basarow. »Nikolai Petrowitsch?«

»Nein … Er ist auf dem Feld … ich fürchte ihn auch nicht … aber Pawel Petrowitsch … Mir kam es so vor …«

»Was denn?«

»Mir kam es vor, als ginge er hier herum. Nein … niemand ist da. Hier, nehmen Sie.« Fenitschka reichte Basarow die Rose.

»Was fällt Ihnen ein, sich vor Pawel Petrowitsch zu fürchten?«

»Er schreckt mich beständig. Sprechen tut er nicht; aber er schaut immer so merkwürdig drein! Auch Sie mögen ihn doch nicht leiden. Erinnern Sie sich, zuerst stritten Sie sich immer mit ihm. Ich weiß nicht, worüber Sie streiten, aber ich sehe, daß Sie mit ihm umspringen, wie Sie wollen …«

Fenitschka zeigte mit den Händen, wie Basarow, ihrer Meinung nach, mit Pawel Petrowitsch umsprang.

Basarow lächelte.

»Und wenn er mir über wäre?« fragte er, »hätten Sie sich meiner angenommen?«

»Wie könnte ich das? Aber, nein, mit Ihnen wird man nicht fertig.«

»Glauben Sie? Aber ich kenne eine Hand, die mich mit einem Finger umwerfen könnte.«

»Was ist das für eine Hand?«

»Wie, wissen Sie das nicht? Riechen Sie mal, wie köstlich die Rose duftet, die Sie mir gegeben haben.«

Fenitschka streckte den Hals aus und näherte ihr Gesicht der Blume … Das Tuch glitt von ihrem Kopf auf die Schultern und ließ die weiche Masse schwarzer, glänzender, etwas in Unordnung geratener Haare sehen.

»Warten Sie, ich will mit Ihnen daran riechen«, sagte Basarow, neigte sich herab und küßte sie fest auf die geöffneten Lippen.

Sie fuhr zusammen, stemmte beide Hände gegen seine Brust, aber sie tat es nur schwach, und so konnte er seinen Kuß wiederholen und verlängern.

Hinter dem Fliedergebüsch ließ sich ein trockenes Husten hören. Fenitschka rückte im Nu auf das andere Ende der Bank. Pawel Petrowitsch wurde sichtbar, er machte eine leichte Verbeugung, sagte mit einer gewissen schadenfrohen Traurigkeit: »Sie sind hier?« und entfernte sich. Fenitschka las sofort alle Rosen auf und verließ die Laube. »Das war unrecht von Ihnen, Jewgenij Wassilitsch«, murmelte sie im Fortgehen. Ein ungeheuchelter Vorwurf klang aus ihrer Stimme.

Basarow fiel eine andere, erst kürzlich stattgefundene Szene ein, und ihn beschlich ein Gefühl von Scham und schmählichem Ärger. Aber er schüttelte sofort den Kopf, gratulierte sich ironisch zu seinen »Schritten auf Seladons Pfaden« und begab sich auf sein Zimmer.

Pawel Petrowitsch aber verließ den Garten und erreichte, langsam ausschreitend, den Wald. Er blieb dort ziemlich lange; als er zum Frühstück zurückkam, fragte ihn sein Bruder besorgt, ob ihm nicht wohl sei, so hatte sich sein Gesicht verfinstert.

»Du weißt, daß ich zuweilen an der Galle leide«, antwortete ihm Pawel Petrowitsch ruhig.


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