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Pawel Petrowitsch Kirsanow wurde ebenso wie sein jüngerer Bruder Nikolai zuerst zu Hause und dann im Pagenkorps erzogen. Schon als Kind zeichnete er sich durch außerordentliche Schönheit aus; und da er ein sicheres Auftreten hatte, etwas spottsüchtig und amüsant-gallig war, so mußte er gefallen. Kaum zum Offizier befördert, trat er in die große Welt ein. Man trug ihn auf Händen, und er verwöhnte sich selbst, trieb Allotria, posierte sogar; aber auch das stand ihm gut. Den Frauen hatte er es angetan, die Männer nannten ihn einen Gecken, im geheimen aber beneideten sie ihn. Er wohnte, wie bereits gesagt, mit seinem Bruder zusammen, dem er mit aufrichtiger Liebe zugetan war, obgleich er ihm nicht im geringsten glich. Nikolai Petrowitsch hinkte ein wenig, er hatte kleine, angenehme, aber etwas wehmütige Gesichtszüge, kleine, schwarze Augen und weiches, schütteres Haar; er ließ sich gerne gehen, liebte jedoch die Lektüre und scheute die Gesellschaft. Pawel Petrowitsch verbrachte keinen Abend zu Hause, war durch seine Kühnheit und Gewandtheit bekannt (er war der erste, der unter der vornehmen Jugend die Gymnastik in Mode brachte), gelesen hatte er höchstens fünf oder sechs französische Bücher. Mit siebenundzwanzig Jahren war er schon Hauptmann; eine glänzende Laufbahn erwartete ihn. Plötzlich wurde alles anders.
Zu jener Zeit tauchte in der Petersburger Gesellschaft hie und da eine Frau auf, die noch heute nicht vergessen ist, die Fürstin R. Sie hatte einen wohlerzogenen, anständigen, aber etwas beschränkten Mann und keine Kinder. Sie pflegte plötzlich ins Ausland zu reisen, kehrte dann ebenso plötzlich nach Rußland zurück und führte überhaupt ein eigentümliches Leben. Sie hatte den Ruf einer leichtsinnigen und koketten Frau, gab sich mit Leidenschaft allen möglichen Vergnügungen hin, tanzte bis zum Umsinken, lachte und scherzte mit den jungen Leuten, die sie vor dem Diner im Halbdunkel ihres Salons empfing, verbrachte aber die Nächte mit Weinen und Beten, fand nirgends Ruhe und rannte oft bis zum Morgengrauen in ihrem Zimmer auf und ab, rang verzweifelt die Hände oder saß, ganz blaß und kalt, über dem Psalter. Der Tag brach an, und sie verwandelte sich von neuem in die Weltdame, machte wieder Besuche, lachte, plauderte und warf sich allem entgegen, was ihr die geringste Zerstreuung zu bieten vermochte. Sie war wunderbar gebaut; ihr goldblondes schweres Haar fiel in dichten Flechten bis über die Knie herab, trotzdem konnte man sie nicht eine Schönheit nennen; das einzige Schöne an ihrem Gesicht waren die Augen, ja nicht einmal die Augen selbst – sie waren nicht groß und grau –, sondern ihr Blick, der, lebhaft und tief, sorglos bis zur Verwegenheit und träumerisch bis zur Schwermut war – ein rätselhafter Blick. Etwas Außergewöhnliches leuchtete in ihren Augen, selbst wenn sie die unbedeutendsten Worte dahinplapperte. Sie kleidete sich mit auserlesenem Geschmack. Pawel Petrowitsch traf sie auf einem Ball, tanzte eine Mazurka mit ihr, während der sie kein einziges vernünftiges Wort sagte, und verliebte sich in sie sterblich. An Erfolge gewöhnt, kam er auch diesmal rasch ans Ziel; aber sein leichter Sieg kühlte ihn nicht ab. Im Gegenteil: er fühlte sich noch qualvoller, noch fester an diese Frau gebunden, die selbst dann, wenn sie sich rückhaltlos hingab, immer noch etwas Verheißungsvolles und Unnahbares beibehielt, in das niemand einzudringen vermochte. Was verbarg sich im Innern ihrer Seele? Gott mochte es wissen! Man hätte glauben können, sie stände unter der Gewalt geheimer, ihr selbst unbekannter Mächte, die ganz nach Belieben mit ihr spielten, und ihr kleiner Geist sei nicht imstande, mit deren Launen fertig zu werden. Ihr ganzes Verhalten bildete eine Kette von Ungereimtheiten; die einzigen Briefe, die sie in den Augen ihres Mannes mit Recht hätten verdächtig machen können, hatte sie an einen Mann geschrieben, der ihr fast fremd war, und ihre Liebe hatte stets einen Beigeschmack von Trauer: sie lachte nicht und scherzte nicht mehr mit dem, den sie erkoren hatte, – mit einer Art von Erstaunen lauschte sie ihm und hielt den Blick auf ihn geheftet. Zuweilen, und zwar meist urplötzlich, verwandelte sich dieses Erstaunen in kaltes Entsetzen; ihr Gesicht nahm dann einen leichenhaften, ja sogar wilden Ausdruck an; sie schloß sich in ihr Schlafzimmer ein, und ihre Kammerjungfer konnte, sooft sie das Ohr an das Schlüsselloch legte, ihr dumpfes Schluchzen vernehmen. Nicht selten empfand Kirsanow, wenn er von einem zärtlichen Stelldichein mit ihr nach Hause zurückkehrte, in seinem Busen das Gefühl von Zerrissenheit und bitterer Verdrossenheit, das sich unser nach einem endgültigen Mißerfolg zu bemächtigen pflegt. »Was verlange ich denn noch?« fragte er sich, und es war ihm weh ums Herz. Eines Tages schenkte er ihr einen Ring mit einem Stein, auf dem eine Sphinx eingraviert war.
»Was ist das?« fragte sie. »Eine Sphinx?«
»Ja«, antwortete er, »und diese Sphinx sind Sie.«
»Ich?« erwiderte sie und richtete langsam ihren rätselhaften Blick auf ihn. »Wissen Sie, daß das sehr schmeichelhaft ist?« setzte sie mit einem leicht ironischen Lächeln hinzu, ohne daß der seltsame Ausdruck ihrer Augen sich änderte.
Pawel Petrowitsch litt sogar dann, wenn die Fürstin R. ihn liebte; als sie aber kalt gegen ihn wurde – und das geschah sehr bald –, da hätte er beinahe den Verstand verloren. Er litt Marterqualen und wurde von Eifersucht verzehrt; er gab ihr keine Ruhe und ließ sie nicht aus den Augen; seiner aufdringlichen Verfolgungen müde, reiste sie ins Ausland. Er nahm – trotz den Bitten seiner Freunde und den Ermahnungen seiner Vorgesetzten – seinen Abschied und folgte der Fürstin; vier Jahre reiste er in der Welt umher, bald hinter ihr herjagend, bald sie mit Absicht aus den Augen verlierend; er schämte sich seiner selbst und verfluchte seinen Kleinmut … aber nichts half. Ihr Bild, dieses unbegreifliche, fast sinnlose, aber bezaubernde Bild hatte sich zu tief in seine Seele eingegraben. In Baden wurde das alte Verhältnis wiederhergestellt; es schien, als ob sie ihn noch nie so leidenschaftlich geliebt hätte …, aber schon nach vier Wochen war alles aus; das Feuer war zum letztenmal aufgeflackert und verlosch für immer. Die Unvermeidlichkeit der Trennung ahnend, wollte er wenigstens ihr Freund bleiben – als ob Freundschaft mit einer solchen Frau möglich sein könnte … Sie verließ in aller Stille Baden, und seitdem ging sie Kirsanow ständig aus dem Wege. Er kehrte nach Rußland zurück, versuchte das frühere Leben weiterzuleben, aber er vermochte nicht mehr in das alte Geleise zurückzufinden. Wie von Gift zerfressen, irrte er von Ort zu Ort; er besuchte noch die Salons, er behielt alle Gewohnheiten eines Weltmannes bei, ja er konnte sich noch mit zwei, drei neuen Eroberungen brüsten; aber er erwartete nichts Besonderes mehr, weder von sich noch von andern, und er unternahm nichts mehr. Er alterte, ergraute; ihm wurde zum Bedürfnis, die Abende im Klub zu verbringen, wo er sich verärgert langweilte oder sich gleichgültig mit einer Gesellschaft von Hagestolzen herumstritt – ein böses Zeichen, wie man weiß. Ans Heiraten dachte er selbstverständlich nicht einmal. So verstrichen zehn Jahre, farblos, fruchtlos und schnell, entsetzlich schnell. Nirgends verrinnt die Zeit so rasch wie in Rußland – nur im Gefängnis soll sie noch rascher verstreichen. Eines Tages, als er im Klub speiste, erfuhr er vom Tode der Fürstin R. Sie war in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand in Paris gestorben. Er stand vom Tisch auf und schlenderte lange durch die Räume des Klubs, nur von Zeit zu Zeit wie versteinert an den Spieltischen stehenbleibend; aber er kehrte nicht früher nach Hause zurück als sonst. Einige Zeit darauf erhielt er ein kleines Paket, das an ihn gerichtet war: es enthielt den Ring, den er einst der Fürstin geschenkt hatte. Sie hatte die Sphinx kreuzartig durchstrichen und ihm sagen lassen, das Kreuz sei des Rätsels Lösung.
Das geschah zu Beginn des Jahres 1848, gerade zu der Zeit, als Nikolai Petrowitsch nach dem Tod seiner Frau nach Petersburg kam. Pawel Petrowitsch hatte seinen Bruder fast nicht mehr gesehen, seitdem dieser aufs Land übergesiedelt war. Nikolai Petrowitschs Hochzeit war in die ersten Tage seiner Bekanntschaft mit der Fürstin gefallen. Aus dem Auslande zurückgekehrt, suchte er ihn auf mit dem Vorsatz, etwa zwei Monate bei ihm zuzubringen und sich an dessen Glück zu erfreuen; aber er ertrug es kaum acht Tage. Der Unterschied in der Lage der beiden Brüder war zu groß. Im Jahre 1848 verringerte sich dieser Unterschied: Nikolai Petrowitsch hatte seine Frau verloren, Pawel Petrowitsch seine Erinnerungen; nach dem Tode der Fürstin gab er sich Mühe, nicht mehr an sie zu denken. Aber Nikolai blieb das Gefühl, sein Leben richtig verbracht zu haben; sein Sohn wuchs unter seinen Augen heran; Pawel hingegen trat als einsamer Hagestolz in die trübe Dämmerung des Lebens ein – in die Zeit des Bedauerns, das der Hoffnung, und der Hoffnung, die dem Bedauern gleicht, in die Zeit, da die Jugend geschwunden und das Alter noch nicht eingetreten ist.
Diese Zeit war für Pawel Petrowitsch schmerzvoller als für jeden anderen: mit seiner Vergangenheit hatte er alles verloren.
»Ich lade dich jetzt nicht mehr ein, nach Marjino zu kommen«, sagte Nikolai Petrowitsch eines Tages zu ihm (er hatte seinem Landsitz diesen Namen seiner verstorbenen Frau zu Ehren gegeben); »du hast dich dort gelangweilt, als Maria noch am Leben war, jetzt würdest du dort wohl vor Langeweile umkommen.«
»Ich war damals noch dumm und geschäftig«, antwortete Pawel Petrowitsch; »seitdem bin ich zur Einsicht gekommen, wenn nicht gar gescheit geworden. Jetzt bin ich, wenn du nichts dagegen hast, bereit, mich bei dir für immer niederzulassen.«
Statt zu antworten, umarmte ihn Nikolai Petrowitsch, doch verstrichen nach diesem Gespräch anderthalb Jahre, ehe Pawel Petrowitsch sich entschloß, seine Absicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Dafür aber verließ er, nachdem er seinen Wohnsitz auf dem Lande aufgeschlagen hatte, ihn nicht mal während der drei Winter, die Nikolai Petrowitsch bei seinem Sohn in Petersburg verbrachte. Er fand Geschmack an der Lektüre und las vorzugsweise englische Bücher; überhaupt richtete er sein ganzes Leben im englischen Stil ein, selten kam er mit den Gutsbesitzern der Nachbarschaft zusammen und fuhr nur aus, um sich an den Wahlen zu beteiligen, wo er sich meist schweigend verhielt und nur von Zeit zu Zeit die altfränkischen Gutsbesitzer mit seinen liberalen Ausfällen reizte und schreckte, ohne jedoch mit den Vertretern der neuen Generation in ein näheres Verhältnis zu kommen. Die einen hielten ihn für einen Hochmutsnarren; die anderen achteten ihn wegen seiner vollendeten aristokratischen Manieren und wegen der Gerüchte von seinem Glück bei Frauen; weil er sich mit auserlesenem Geschmack kleidete und stets im besten Gasthaus das beste Zimmer bewohnte; weil er im allgemeinen gut speiste und einmal sogar mit Wellington bei Louis Philippe diniert hatte; weil er auf Reisen überall ein echtes silbernes Necessaire und eine Reisebadewanne mitnahm; weil er stets nach ungewöhnlichem, auffallend »edlem« Parfüm duftete; weil er meisterhaft Whist spielte und doch immer verlor; endlich achtete man ihn auch wegen seiner makellosen Ehrlichkeit. Die Damen fanden, daß er ein bezaubernder Melancholiker sei, aber er ließ die Damen unbeachtet …
»Du siehst also, Jewgenij«, so schloß Arkadij seine Erzählung, »wie ungerecht du meinen Onkel beurteilst! Ich will schon gar nicht davon sprechen, daß er meinen Vater mehr als einmal aus der Klemme gezogen und ihm sein ganzes Geld zur Verfügung gestellt hat – es ist dir vielleicht nicht bekannt, daß sie das Gut nicht geteilt haben –, aber er ist bereit, jedem zu helfen, und tritt übrigens immer für die Bauern ein; allerdings, wenn er mit ihnen spricht, verzieht er das Gesicht und riecht an seinem Fläschchen mit Kölnischem Wasser …«
»Wir kennen das – die Nerven!« unterbrach ihn Basarow.
»Mag sein; aber er hat ein sehr gutes Herz. Zudem ist er nichts weniger als dumm. Wie manchen nützlichen Rat hat er mir nicht schon gegeben … besonders … besonders für unser Verhalten zu den Frauen.«
»Aha! Gebranntes Kind scheut das Feuer. Es ist das alte Lied!«
»Kurz und gut«, fuhr Arkadij fort, »er ist tief unglücklich, das kannst du mir glauben. Es ist unrecht, ihn zu verachten.«
»Wer verachtet ihn denn?« entgegnete Basarow. »Und dennoch behaupte ich: ein Mensch, der sein ganzes Leben wegen einer Frauenliebe auf eine Karte gesetzt hat und der, wenn er diese Karte nicht sticht, schlapp macht und so tief sinkt, daß er zu nichts mehr fähig ist – ein solcher Mensch ist kein Mann, kein Individuum männlichen Geschlechts. Du sagst, er sei unglücklich: das mußt du besser wissen; aber seine Narretei hat ihn noch nicht ganz verlassen. Ich bin überzeugt, daß er sich allen Ernstes für lebenstüchtig hält, weil er diesen elenden ›Galignani‹ liest und vielleicht alle Monate einmal einem Bauer die Prügel erspart.«
»Du darfst nicht vergessen, welche Erziehung er genossen und in welcher Zeit er gelebt hat«, bemerkte Arkadij.
»Erziehung?« rief Basarow. »Jeder Mensch muß sich selbst erziehen, so wie ich zum Beispiel … Und was die Zeit betrifft, so sehe ich nicht ein, warum ich von ihr abhängen soll. Sie soll vielmehr von mir abhängen. Nein, mein Lieber, das alles ist nur Liederlichkeit und innere Leere! Und dann, was hat es mit den geheimnisvollen Beziehungen zwischen Mann und Weib auf sich? Wir Physiologen wissen, was das für Beziehungen sind. Studiere doch einmal die Anatomie des Auges: wo findest du da den rätselhaften Blick, von dem du sprachst? Das alles ist Romantik, Humbug, Verfall, Getue. Komm, laß uns lieber den Käfer untersuchen.«
Und die beiden Freunde begaben sich auf Basarows Zimmer, in dem bereits ein medizinisch-chirurgischer Geruch, vermischt mit dem Geruch billigen Tabaks, herrschte.