Ivan Sergejevich Turgenev
Faust. Erzählung in neun Briefen
Ivan Sergejevich Turgenev

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M., den 26.Juli 1850

Es ist lange her, daß ich Dir geschrieben habe, mein lieber Simeon: über einen Monat schon, wenn ich nicht irre. Ich hätte Dir so viel zu sagen gehabt, aber ich war träge und muß Dir gestehen, daß ich während der ganzen Zeit nur wenig an Dich gedacht habe. Ich sah aus Deinem letzten Brief, daß Du in bezug auf mich unbegründete – wenigstens nicht ganz begründete Vermutungen hast. Du glaubst, ich schwärme für Wera, da bist Du im Irrtum. Ich besuche sie oft, das ist wahr, und sie gefällt mir außerordentlich ... Wem würde sie auch nicht gefallen ? Ich möchte Dich einmal an meiner Stelle sehen. Welch ein wunderbares Geschöpf! Eine blitzschnelle Fassungsgabe bei kindlicher Unerfahrenheit; ein klares, gesundes Urteil und ein angeborener Schönheitssinn; ein unausgesetztes Streben nach Wahrheit, nach allem Hohen, und das vollkommenste Verständnis, sogar der lasterhaften wie der lächerlichen Dinge, und über alles das gebreitet wie weiße Engelsfittiche weibliche Anmut und Reinheit. Was soll ich Dir noch sagen! Ich habe diesen ganzen Monat viel mit ihr gelesen und geplaudert. Das Lesen mit ihr verschafft mir einen noch nie empfundenen Genuß; es tut mir gleichsam unbekannte Regionen auf. In lauten Enthusiasmus gerät sie nicht; alles Geräuschvolle ist ihr fremd. Wenn ihr etwas gefiel, so leuchtet sanft ihr ganzes Wesen, und ihr Gesicht nimmt einen so edlen Ausdruck an, einen Ausdruck von Güte – jawohl, von inniger Güte. Lüge hat Wera nie gekannt; sie ist von klein auf an Wahrheit gewöhnt, atmet nur Wahrheit. Daher kommt es, daß auch in der Poesie nur das Wahre ihr natürlich erscheint; das findet sie gleich und ohne Mühe heraus wie ein wohlbekanntes Gesicht... Ein großer Vorzug, ein seltenes Glück! Und man muß es der Mutter zum Lobe nachsagen, das hat sie ihr zu danken. Wie oft dachte ich beim Anblick Weras, Goethe spricht doch wahr:

Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

Das eine nur ärgert mich, daß Priimkow immer um uns beschäftigt ist. (Ich bitte Dich, mach keine dummen Spaße über dieses Geständnis, entweihe mit keinem unwürdigen Gedanken unsere reine Freundschaft.) Dieser Mensch ist ebensowenig imstande, Poesie zu verstehen, wie ich, die Flöte zu blasen; und trotzdem will er immer dabeisein und tut, als wolle er gleich seiner Frau sich unterrichten lassen. Zuweilen stellt auch Wera meine Geduld auf eine harte Probe. Mit einemmal will sie nichts von Poesie wissen, will nichts lesen, von nichts sprechen; setzt sich hin und stickt oder schäkert mit der kleinen Natascha, macht sich mit der Haushälterin zu schaffen, läuft in die Küche oder sieht, die Arme aufstemmend, unverwandt zum Fenster hinaus; oder es fällt ihr gar ein, mit der Wärterin Karten zu spielen.

Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man in solchem Falle sie gewähren lassen muß, bis sie selbst kommt, ein Gespräch anfängt oder ein Buch in die Hand nimmt. Sie hat viel Selbständigkeit, was mich sehr freut. In unserer Jugend – weißt Du noch? – begegnete es uns oft, irgendein junges Mädchen unsere eigenen Worte nachsprechen zu hören, und dieses Echo begeisterte uns, riß uns gar zu Huldigungen hin, bis wir auf einmal merkten, was dahinter war. Aber Wera – nein! Sie hat ihr Köpfchen für sich, sie nimmt nichts auf Treu und Glauben an und läßt sich durch keine Autorität einschüchtern. Sie wird nicht gerade streiten, aber auch nicht nachgeben. Wir haben uns öfter über Faust unterhalten; aber merkwürdigerweise spricht sie von Gretchen selbst nie ein Wort, sondern hört nur, was ich darüber sage. Mephistopheles erschreckt sie nicht als Teufel, sondern mehr durch etwas, »was in der Natur jedes Menschen liegen könne«.

Das sind ihre eigenen Worte.

Ich habe ihr klarmachen wollen, daß dieses »Etwas« von uns Reflexion genannt würde; aber sie verstand dieses Wort Reflexion nicht in dem Sinne, wie es die Deutschen gebrauchen, sie kennt nur die französische »réflexion« und ist gewohnt, diese als etwas sehr Nützliches zu betrachten. Wunderbares Verhältnis zwischen uns! In gewisser Hinsicht kann ich sagen, daß ich einen großen Einfluß auf sie übe und sie gleichsam erziehe; aber auch sie ändert mich, ohne es selbst zu merken, in vielem zu meinem Vorteil. So verdanke ich es ihr zum Beispiel, daß ich neulich entdeckt habe, welch eine Masse von konventionellem und rhetorischem Beiwerk sich in vielen berühmten poetischen Schöpfungen findet. Was sie kalt läßt, das ist in meinen Augen schon verdächtig. Ja, ich hab ein besseres, geläutertes Urteil durch sie gewonnen. Ihr nahezustehen, mit ihr zu verkehren und nicht ein anderer zu werden, ist unmöglich.

Wohin soll dies alles nun aber fuhren? wirst Du fragen. Wahrhaftig, ich denke, zu weiter nichts. Ich verbringe die Zeit bis zum September aufs angenehmste, dann reise ich ab... Die ersten Monate darauf wird mir das Leben höchst trübe und langweilig vorkommen, dann aber wird die Gewohnheit darüber hinweghelfen.

Ich weiß, wie gefährlich jedes Verhältnis zwischen einem Manne und einer jungen Frau ist, wie unmerklich da ein Gefühl in das andere übergeht, und ich würde mich mit aller Kraft losreißen, wenn ich nicht innegeworden wäre, daß wir beide, Wera und ich, vollkommen ruhig sind.

Einmal allerdings fiel etwas Seltsames zwischen uns vor. Ich weiß nicht, wie es kam, ich erinnere mich nur, daß wir Puschkins »Onegin« zusammen lasen. Da küßte ich ihr die Hand. Sie rückte leise weg und heftete einen Blick auf mich; einen Blick wie den ihrigen habe ich noch bei niemandem gesehen: darin lag Nachdenken und Aufmerksamkeit und eine gewisse Strenge... Plötzlich errötete sie, stand auf und ging davon. An dem Tage glückte es mir nicht mehr, mit ihr allein zu sein. Sie wich mir aus. Und vier volle Stunden spielte sie Karten mit ihrem Manne, der Gouvernante und der Wärterin. Am andern Morgen forderte sie mich auf, mit ihr in den Garten zu gehen. Wir spazierten bis an den See. Plötzlich flüsterte sie, ohne sich zu mir umzuwenden: »Ich bitte, tun Sie das nie wieder!« Und gleich darauf fing sie an, mir von etwas zu erzählen... Ich war beschämt.

Ich will es nur gestehen, daß ihr Bild mir nicht mehr aus dem Sinne kommt, und fast schreibe ich Dir diesen Brief nur, um von ihr reden zu können.

Doch ich höre Pferdegetrappel; mein Wagen fährt vor. Ich eile zu ihr. Mein Kutscher fragt nicht mehr, wohin er fahren soll; sobald ich mich in den Wagen setze, fährt er geradewegs zu Priimkows. Zwei Werst vom Dorfe, da, wo der Weg sich plötzlich wendet, blickt hinter dem Birkenwäldchen ihr Haus hervor... Es wird mir jedesmal freudig ums Herz, wenn ich nur ihre Fenster aus der Ferne schimmern sehe. Der alte, harmlose Herr Schimmel, der von Zeit zu Zeit hinkommt, sagt nicht ohne Grund in seiner sittig-feierlichen Ausdrucksweise, indem er auf Weras Wohnung hindeutet: »Das ist die Stätte des Friedens!« Wirklich hat sich in diesem Haus der Engel des Friedens niedergelassen.

Tiutschew singt:

Deck mich mit deinem Flügel zu,
besänftige die wilde Pein
Es zieht durch deinen Schatten Ruh'
in die entzückte Seele ein ...

Doch genug; sonst denkst Du Gott weiß was davon. Nächstens schreibe ich wieder... Was aber werde ich Dir das nächste Mal zu schreiben haben?

Adieu! – Apropos: sie sagt niemals einfach »Adieu«, sondern immer: »Nun, Adieu.« Das gefällt mir außerordentlich.

Dein P. B.

P.S. Ich erinnere mich nicht, ob ich es Dir gesagt habe: sie weiß, daß ich einmal um sie angehalten habe.


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