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M., 12. Juni 1850
Ich habe Dir, teurer Freund, eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen. Hör an! Gestern vor Tisch bekam ich Lust spazierenzugehen, und zwar nicht im Garten, sondern auf der Straße, die nach der Stadt führt. Ich wandere gern mit raschen Schritten, planlos auf einem Wege, der sich weit vor mir ausdehnt. Es ist einem dabei, als habe man ein Geschäft, eile irgendwohin. – Plötzlich sehe ich eine Kalesche mir entgegenfahren. Doch nicht zu mir? denke ich mit geheimem Schrecken... Aber nein; in der Kalesche saß ein mir unbekannter, schnurrbärtiger Herr. Ich beruhigte mich. Allein wie der Unbekannte mir nahe kommt, heißt er auf einmal seinen Kutscher halten, nimmt höflich seine Mütze ab und fragt mich noch höflicher, ob er nicht die Ehre habe, mit Herrn P.B. zu sprechen. Ich erwidere mit dem Mut eines Angeklagten auf der Verbrecherbank: »Der bin ich.« Dabei sehe ich den Herrn mit dem Schnurrbart an und denke: Gott, den muß ich schon irgendwo gesehen haben.
»Sie erkennen mich nicht?« ruft er, inzwischen aus dem Wagen steigend.
»Nein, mein Herr.«
»Und ich habe Sie gleich erkannt.«
Nun kam es heraus: es war Priimkow, weißt Du, unser alter Studiengenosse. Ei! denkst Du in diesem Augenblick, was ist denn das für eine wichtige Nachricht! Priimkow war, soviel ich mich erinnere, ein ziemlich hohler Bursche, weder bösartig noch dumm. Zugegeben, teurer Freund, aber höre weiter! »Ich war sehr erfreut zu hören«, sagte er, »daß Sie Ihr Gut wieder bezogen haben; denn ich wohne in Ihrer Nachbarschaft. Und ich bin es nicht allein, der sich darüber freut.«
»Erlauben Sie mir die Frage, wer noch die Liebenswürdigkeit hat, sich zu...«
»Meine Frau!«
»Ihre Frau?«
»Ja, sie ist eine alte Bekannte von Ihnen.«
»Darf ich Sie bitten, mir zu erklären...«
»Ich habe Fräulein Wera Jelzowa geheiratet.«
»Wera Jelzowa?« rief ich unwillkürlich aus.
Das, lieber Freund, das eben ist die wichtige Neuigkeit, die ich gemeint habe. Aber damit Du auch begreifst, warum, muß ich Dir eine Episode aus meiner Vergangenheit, aus früher Vergangenheit, mitteilen.
Als ich im Jahre 1836 mit Dir die Universität verließ, war ich dreiundzwanzig Jahre alt... Du tratest in den Staatsdienst, ich entschloß mich, wie Du weißt, nach Berlin zu reisen. Allein, da ich vor dem Oktober in Berlin nichts zu tun hatte, wollte ich den Sommer in Rußland auf dem Lande zubringen, zum letzten Male die Freude eines süßen Müßigganges auskosten, um dann ernstlich an die Arbeit zu gehen. Wie weit dieses letztere Vorhaben zur Ausführung kam, davon reden wir jetzt nicht. Aber wo den Sommer zubringen? fragte ich mich. Auf meine Güter mich zu begeben, hatte ich keine Lust. Mein Vater war kürzlich gestorben, an nahen Verwandten fehlte es mir; ich fürchtete die Einsamkeit, die Langeweile. In dieser Verlegenheit nahm ich mit Freuden die Einladung eines Vetters auf sein im Gouvernement Twer befindliches Gut an. Er war ein vermögender, braver Mann, lebte als großer Herr und bewohnte ein prächtiges Haus. Ich zog zu ihm. Er hatte eine zahlreiche Familie, zwei Söhne und fünf Töchter; außerdem war seine gastfreie Wohnung stets von Fremden überfüllt. Gäste kamen unaufhörlich – und doch hatte man kein Vergnügen. Die Tage gingen geräuschvoll dahin; es war unmöglich, einen Augenblick allein zu sein. Alles wurde gemeinschaftlich vorgenommen, alle sannen auf irgendein Mittel, sich zu zerstreuen, und alle waren des Abends schrecklich übermüdet. Diese Art von Leben hatte etwas Abgeschmacktes. Ich nahm mir vor fortzugehen und wollte nur den Namenstag meines Vetters abwarten. Allein just an diesem Namenstag sah ich Wera Jelzowa, und – ich blieb.
Wera war damals sechzehn Jahre alt. Sie lebte allein mit ihrer Mutter auf einem kleinen Besitztum, fünf Werst entfernt von meines Vetters Gut. Ihr Vater war, wie man sagte, ein ausgezeichneter Mann gewesen. Rasch zu dem Rang eines Obersten avanciert, würde er es ohne Zweifel noch weiter gebracht haben, wäre er nicht als noch junger Mann durch einen unglücklichen Zufall auf der Jagd von einem Kameraden erschossen worden. Er hinterließ Wera als Kind. Ihre Mutter war ebenfalls eine bedeutende Persönlichkeit, sehr belesen, sehr unterrichtet und mehrerer Sprachen mächtig. Mit ihrem Mann verband sie die innigste Liebe, obgleich sie sieben oder acht Jahre älter war als er. Er hatte sie aus dem väterlichen Hause entführt. Sie konnte sich niemals über seinen Verlust trösten, ging bis zu ihrem letzten Tag schwarz gekleidet und starb einige Zeit, nachdem sie ihre Tochter verheiratet hatte. Ich sehe sie noch vor mir mit ihrem ausdrucksvollen, schwermütigen Gesicht, ihrem dichten ergrauenden Haar, ihren großen Augen mit dem strengen, etwas erloschenen Blick und ihrer geraden, feinen Nase. Ihr Vater hieß Ladanow, war fünfzehn Jahre in Italien gewesen und hatte dort eine einfache Albanierin geheiratet, welche sich indes ihres Glückes nicht lange erfreute. Nachdem sie ihre einzige Tochter, Weras Mutter, zur Welt gebracht, wurde sie von einem jungen Trasteveriner, ihrem ersten Bräutigam, dem sie Ladanow entführt hatte, getötet. Diese Geschichte machte zu ihrer Zeit viel Aufsehen. Nach Rußland zurückgekehrt, schloß er sich in sein Arbeitszimmer ein, um nicht wieder herauszugehen. Er beschäftigte sich mit Chemie, Anatomie und kabbalistischen Studien, forschte dem Geheimnis nach, das menschliche Leben zu verlängern, bildete sich ein, daß man mit Geistern verkehren und die Toten zitieren könne... Genug, seine Nachbarn betrachteten ihn als Hexenmeister. Er liebte seine Tochter außerordentlich und unterrichtete sie selbst in allem, aber daß sie sich von Jelzow hatte entführen lassen, vergab er ihr nicht. Weder sie noch ihr Mann durften ihm jemals unter die Augen kommen. Er prophezeite ihnen beiden ein unglückliches Leben und starb einsam.
Frau Jelzowa widmete nach ihres Mannes Tode ihre ganze Zeit der Erziehung der Tochter und sah fast keinen Menschen bei sich. Als ich die Bekanntschaft Weras machte, denke Dir, war sie noch in keiner Stadt, nicht einmal in der benachbarten Kreisstadt gewesen.
Wera unterschied sich von den gewöhnlichen russischen Fräulein, sie hatte ein ganz eigentümliches Gepräge. Gleich auf den ersten Blick überraschte mich die wunderbare Ruhe in all ihren Bewegungen und Reden. Sie schien sich um nichts zu bekümmern, noch zu beunruhigen, antwortete einfach und klug, hörte aufmerksam zu – und damit genug. Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte die Offenheit und Reinheit eines Kindes; er war etwas kalt und einförmig, ohne gerade nachdenklich zu sein. Lustig erschien sie selten und nicht wie andere Mädchen. Die Klarheit der unschuldvollen Seele, die liebenswürdiger ist als Lustigkeit, schimmerte in ihrem ganzen Wesen. Von mittlerem Wuchs, zart und anmutig, hatte sie feine, regelmäßige Züge, eine schöne glatte Stirn, goldig blondes Haar, eine gerade Nase wie die Mutter, ziemlich volle Lippen und dichte, nach oben gebogene Augenwimpern, unter denen hervor zwei schwarzgraue Augen fast zu sehr geradeaus blickten. Ihre Hände, obgleich klein, waren nicht eben schön; talentvolle Menschen haben keine solchen Hände. In der Tat besaß Wera auch kein besonderes Talent. Ihre Stimme klang wie die eines Kindes. Ich wurde beim Namensfest meines Vetters ihrer Mutter vorgestellt, und einige Tage darauf machte ich meinen ersten Besuch bei ihnen.
Frau Jelzowa war, wie ich Dir schon gesagt, eine ausgezeichnete Persönlichkeit, aber von ganz eigentümlichem Wesen, charaktervoll, beharrlich und konzentriert. Sie flößte mir Achtung, ja selbst eine gewisse Furcht ein. All ihr Tun war systematisch geordnet, und sie erzog ihre Tochter diesem Grundsatz gemäß, ohne übrigens deren Freiheit einzuschränken. Die Tochter liebte sie und hatte ein blindes Vertrauen zu ihr. Übergab ihr die Mutter ein Buch mit den Worten: »Die und die Seite lies nicht«, so hätte Wera lieber schon das vorhergehende Blatt übersprungen, und vollends auf die verbotene Seite warf sie keinen Blick mehr.
Allein Frau Jelzowa hatte auch, wie die Franzosen sagen, ihre idées fixes, oder wie die Deutschen sagen, ihr Steckenpferd. So erfüllte sie zum Beispiel eine tödliche Furcht vor allem, was die Phantasie aufregen konnte, und infolgedessen hatte ihre Tochter mit sechzehn Jahren noch keinen Roman, kein poetisches Werk gelesen. Hingegen konnte diese mit ihrer Kenntnis der Geschichte, Geographie und sogar Naturgeschichte mich selbst, den Kandidaten, der, wie Du Dich erinnern wirst, keiner der letzten war, ganz verblüffen. Eines Tages suchte ich das Gespräch mit Frau Jelzowa auf ihr Erziehungssystem zu lenken, was nicht leicht war, da sie sich im allgemeinen sehr zurückhaltend zeigte. Sie schüttelte den Kopf und sagte:
»Sie behaupten, daß das Lesen der Poeten eine nützliche und angenehme Beschäftigung sei; mir scheint, daß man sich früh im Leben entweder für das Angenehme oder für das Nützliche entscheiden und daß man an der getroffenen Wahl für immer festhalten muß. Auch ich wollte einst beides vereinigen ... Doch das ist unmöglich und führt entweder zum Verderben oder zur Albernheit.«
Ja, Weras Mutter war ein seltenes Wesen, rechtschaffen und stolz, aber nicht ohne Fanatismus und eine Art Aberglauben. »Das Leben macht mich bange«, sagte sie einmal zu mir, und in der Tat hatte sie eine Bangigkeit vor dem Leben, vor dessen tiefinneren, geheimnisvollen Kräften, die bisweilen plötzlich hervorbrechen. Wehe dem, über den sie sich entladen! Und hatte die arme Frau nicht das Grausamste von ihnen erfahren? Bedenke man den Tod ihrer Mutter, ihres Vaters, ihres Mannes! Welche Kette schrecklicher Ereignisse!
Ich sah sie auch niemals lächeln. Man kann sagen, sie hatte ihr Herz verschanzt und den Schlüssel zur Festung im Wasser versenkt. Nie mochte sie ihre Schmerzen in den Busen eines andern ergossen haben; alles barg sie tief in sich. So sehr hatte sie sich gewöhnt, ihre Empfindungen zu beherrschen, daß sie selbst gegen ihre heißgeliebte Tochter Äußerungen der Zärtlichkeit vermied. Sie küßte sie niemals in meiner Gegenwart, nannte sie niemals Werchen, sondern immer Wera. Ich erinnere mich, daß ich ihr einmal sagte, wir modernen Leute wären alle etwas anrüchig, worauf sie erwiderte: »Das hat keinen Sinn, man muß entweder ganz zerbrechen oder sich ganz unangetastet halten.«
Es kamen wenig Leute zu Frau Jelzowa; ich aber besuchte sie recht häufig, da ich bemerkte, daß sie mir Wohlwollen schenkte und Wera mir jetzt gefiel. Mit ihr unterhielt ich mich; ich ging mit ihr spazieren. Die Gegenwart der Mutter störte uns nicht im mindesten. Das junge Mädchen selbst entfernte sich nicht gern von ihr, und ich meinerseits hatte keinen Grund, mit ihr allein sein zu wollen. Diese offenherzige Wera hatte die eigentümliche Gewohnheit, laut zu denken, und nachts im Schlafe plauderte sie zuweilen von dem, was sie im Laufe des Tages beschäftigt hatte. Einmal sagte sie zu mir, indem sie mich scharf dabei ansah und ihrer Gewohnheit nach das Kinn leicht auf die Hand stützte: »Ich glaube, Herr B. ist ein recht guter Mann, aber verlassen kann man sich nicht auf ihn.«
Unsere Beziehungen zueinander waren rein freundschaftlich und harmlos. Nur einmal schien es mir, als bemerkte ich in der tiefsten Tiefe ihrer hellen Augen einen seltsamen Ausdruck von Zärtlichkeit; doch vielleicht täuschte ich mich.
Inzwischen vergingen Wochen und Monate; es war Zeit, an meine Abreise zu denken, und ich konnte zu keinem Entschlusse kommen. Ich erschrak bei dem Gedanken, dieses sanfte, junge Wesen zu verlassen, und Berlin hatte für mich keine Anziehungskraft mehr. Ich wagte mir selbst nicht zu bekennen, was in mir vorging; ja, ich verstand mich selbst nicht. Es war, als ob ein Nebel meine Seele verhüllte. Endlich wurde mir eines Morgens alles klar... Warum weitersuchen ? fragte ich mich; welchem Ziele soll ich nachjagen? Das Richtige ist doch schwer zu finden. Wäre es nicht besser, hierzubleiben, zu heiraten ?
Sieh, so wenig erschreckte mich damals der Gedanke ans Heiraten – im Gegenteil, ich erfaßte ihn mit Freuden. Am selben Tage entdeckte ich meine Gefühle, nicht Wera, wie man denken sollte, sondern ihrer Mutter. Die alte Dame sah mich an.
»Nein, mein Freund«, sagte sie, »gehen Sie nach Berlin. Sie sind recht brav, aber der Mann für meine Tochter sind Sie nicht.«
Ich blickte errötend zu Boden, und – worüber Du noch mehr erstaunen wirst – ich gab im Grunde meines Herzens der Mutter sofort recht. In der folgenden Woche reiste ich ab, und ich sah weder Frau Jelzowa noch ihre Tochter wieder.
Da hast Du, teurer Freund, die Erzählung meiner Abenteuer in aller Kürze – denn ich weiß, daß Du keinerlei Weitschweifigkeit magst... In Berlin vergaß ich sehr bald die hübsche Wera. Doch ich will es nur bekennen, die plötzliche Nachricht von ihr hat mich in eine gewisse Aufregung versetzt. Sie hier zu wissen in meiner Nähe, als meine Nachbarin, sie in einigen Tagen wiederzusehen, das war mir so überraschend. Das Vergangene stand mit einemmal, wie aus dem Boden emporgestiegen, vor mir und drang so an mich heran ...
Priimkow sagte mir bei unserem Begegnen, daß er mit seinem Besuch nur unsere ehemalige Bekanntschaft erneuern wollte und daß er hoffte, mich bald bei sich zu sehen. Er teilt mir mit, daß er in der Kavallerie gestanden und mit Leutnantsrang aus dem Dienst getreten sei. Er habe ein Landgut, acht Werst von dem meinigen entfernt, gekauft, und seine Absicht sei, sich der Landwirtschaft zu widmen. Von den drei Kindern, die er gehabt, sind zwei gestorben, ein kleines fünfjähriges Mädchen ist ihm geblieben.
»Und Ihre Frau Gemahlin erinnert sich meiner noch?« fragte ich ihn.
»Ja«, erwiderte er mit einem gewissen Zögern, »sie war freilich noch sehr jung, als Sie sie kannten; aber ihre Mutter lobte sie stets, und Sie wissen, wie teuer ihr jedes Wort der Verstorbenen ist.«
Hier fielen mir die Worte ein, die Frau Jelzowa an mich gerichtet: »Sie sind der Mann nicht für meine Tochter«, und einen Seitenblick auf Priimkow werfend, dachte ich: Also Du warst der Mann für sie!
Er blieb mehrere Stunden bei mir. Er ist ein angenehmer, netter Mann, der in bescheidenem Tone spricht und dabei so gutmütig dreinsieht. Man kann nicht anders, als ihn gern haben. Doch seine Geistesfähigkeiten sind seit der Zeit, wo wir ihn kennengelernt, nicht vorgeschritten. Besuchen werde ich ihn ganz bestimmt, vielleicht morgen schon. Ich bin außerdem begierig zu sehen, was aus Wera geworden ist. Aber Du böser Mensch spottest meiner auf Deinem Direktionsbüro. Trotzdem will ich Dir berichten, welchen Eindruck sie bei mir hinterlassen wird. Lebe wohl!
Dein P. B.