Ivan Sergejevich Turgenev
Faust. Erzählung in neun Briefen
Ivan Sergejevich Turgenev

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Pawel Alexandrowitsch B. an Simeon Nikolajewitsch W.

Dorf M., 6. Juni 1850

Vor vier Tagen hier angekommen, liebster Freund, erfülle ich heute mein Versprechen, Dir zu schreiben. Seit dem Morgen rieselt ein feiner Regen herab, der mich im Zimmer hält; und außerdem verlangte mich sehr danach, ein wenig mit Dir zu plaudern. Da sitze ich nun wieder in meinem alten Nest, welches ich — ach, es ist traurig zu sagen – volle neun Jahre nicht gesehen habe. Was ist in diesen neun Jahren nicht alles vorgegangen! Ich selbst, wenn ich es so recht bedenke, komme mir wie ein ganz anderer Mensch vor. Ich bin in der Tat wie umgewandelt. Du erinnerst Dich wohl des kleinen, dunklen Spiegels in unserem Gastzimmer, der noch von meiner Urgroßmutter herstammt und an den Ecken mit so wunderlichen Schnörkeln verziert ist, – Du pflegtest immer Betrachtungen anzustellen, was er vor und seit hundert Jahren gesehen haben müsse. Ich warf gleich nach meiner Ankunft einen Blick hinein und erschrak über mich selbst. Noch nie war es mir so jäh und lebhaft vor Augen getreten, wie ich gealtert bin und mich in der letzten Zeit verändert habe. Übrigens nicht ich allein bin älter geworden; mein schon lange baufälliges Häuschen droht völlig aus den Fugen zu gehen und zeigt nach allen Seiten eine bedenkliche Neigung zur Erde. Meine wackere Wassilewna, die Haushälterin (Du hast sie gewiß nicht vergessen, da Dir ihre eingemachten Früchte immer vortrefflich mundeten), ist ganz dürr und krumm geworden, ganz zusammengeschrumpft. Sie konnte vor Freude des Wiedersehens weder aufschreien noch weinen, sondern keuchte und hüstelte nur, sank erschöpft auf einen Stuhl nieder und streckte zitternd die welken Arme aus.

Der alte Terenti hält sich zwar noch stramm und rüstig aufrecht wie früher und setzt beim Gehen die Füße auswärts, trägt auch noch die gelben Nankinghosen und die knarrenden bockledernen Schuhe mit hohem Besatz und Schleifen, die er so oft mit Rührung ansah. Aber, großer Gott, wie schlottern jetzt diese Hosen um seine mageren Beine! Wie bleich ist sein Haar geworden, und wie faltig ist das Gesicht! Es war komisch, als er mit mir zu sprechen anfing und ich ihn im Nebenzimmer Befehle erteilen hörte, und doch dauerte er mich; er hat alle seine Zähne verloren und kann kein Wort ohne Pfeifen und Zischen hervorbringen.

Dagegen hat sich der Garten merkwürdig verschönert. Du erinnerst Dich der Akazien, des Flieders, des Geißblatts, aller Bäumchen, die wir beide hier pflanzten – sie sind zu prächtigen Bäumen herangewachsen. Die Birken und die Ahornbäume, alles ist mächtig in die Höhe und Breite gegangen; besonders die Lindenallee ist wundervoll. Ich habe eine Vorliebe für diese Allee, für ihr sanftes und frisches Grün, für den feinen Duft, welchen sie verbreitet, für das Lichtgewebe, das sich durch die buschigen Zweige über den dunklen Boden hinzieht; Sand, wie Du weißt, gibt es hier nicht. Meine junge Lieblingseiche ist ein Baum von bedeutendem Umfang geworden. Gestern brachte ich ganze Stunden unter ihrem Schatten zu. Mir war es so wohl. Ringsum üppiger Rasen; über alles breitete sich ein goldenes Licht, es drang sogar in den Schatten; und was die Vögel sangen! Du hast hoffentlich nicht vergessen, daß die Vögel meine Leidenschaft sind. Die Tauben girrten, die Goldammer pfiff; der Fink ließ jeden Augenblick sein lustiges Lied wieder vernehmen, die eifersüchtigen Grasmücken wollten auch nicht stumm bleiben; von fern ertönte noch die klagende Weise des Kuckucks und der ungestüme Schrei des Grünspechts. Ich lauschte, in süße Träumerei versunken, diesen harmonischen Tönen und wurde nicht müde, sie zu hören. Auch ist nicht bloß im Garten alles emporgewachsen; auf jedem Schritt begegne ich rüstigen Burschen, in welchen ich die kleinen Jungen von ehedem nicht wiedererkenne. Aus Deinem Liebling Timoscha ist ein mächtiger Timofej geworden. Du warst damals besorgt um seine Gesundheit und prophezeitest ihm die Schwindsucht; wenn Du jetzt auf seine gewaltigen roten Hände blicktest, die aus den engen Ärmeln seines Rockes hervorstrotzen, wie würdest Du staunen über die kräftigen Muskeln! Er hat einen Nacken wie ein Stier, und sein Kopf ist bekränzt mit krausem, blondem Haar – kurz, ein wahrer Herkules Farnese. Übrigens fand ich sein Gesicht weniger verändert als die anderen, nicht einmal viel voller ist es geworden, und das heitere, wie Du zu sagen pflegtest, gähnende Lächeln ist noch ganz dasselbe. Ich habe den Burschen zu meinem Kammerdiener gemacht; meinen letzten, den ich in Petersburg hatte, ließ ich in Moskau zurück. Er hatte es sehr darauf abgesehen, mich zu beschämen und mir seine Überlegenheit in residenzlichen Manieren fühlbar zu machen. Von meinen Jagdhunden fand ich keinen einzigen wieder. Nefka allein hat die anderen überlebt, doch er harrte auch er nicht meine Rückkehr wie Argos die des Odysseus. Es war seinem erlöschenden Blicke nicht vergönnt, den einstigen Herrn und Jagdgenossen wiederzusehen. Schafka aber ist gesund, bellt noch immer heiser, hat noch immer ein zerrissenes Ohr und Kletten im Schweife, wie es in der Ordnung ist.

Ich habe mich in Deinem ehemaligen Zimmer eingerichtet. Es ist allerdings sehr der Sonne ausgesetzt und wimmelt von Fliegen; aber man spürt hier weniger als in den anderen Zimmern den Geruch des alten Hauses. Seltsam, dieser scharfe, säuerliche, modrige Geruch wirkt mächtig auf meine Phantasie; nicht gerade unangenehm, im Gegenteil; aber er stimmt mich trüb und endlich melancholisch. Ebenso wie Du liebe auch ich die alten bauchigen Kommoden mit Messingplättchen, die weißen Sessel mit ovalen Lehnen und geschweiften Füßen, die fliegenbesetzten Kristallüster, kurzum jedes altväterliche Möbel; aber beständig dergleichen anzusehen, vermag ich nicht; es versetzt mich in einen Zustand beunruhigender Langeweile. Das Zimmer, welches ich bewohne, ist ganz einfach möbliert. Doch habe ich in der Ecke einen schmalen, langen Schrank stehenlassen mit Fächern und staubbedecktem grünem und blauem Glasgeschirr darauf, und an die Wand ließ ich jenes weibliche Bildnis in schwarzem Rahmen hängen – weißt Du noch ? – , welches Du ein Porträt der Manon Lescaut nanntest. In den neun Jahren ist die Farbe dieser jungen Frau etwas trüb geworden, indes ihren Augen der sanfte, sinnige Ausdruck, wie ihren Lippen das leise melancholische Lächeln geblieben ist; und ihrer zarten Hand entfällt noch die halb zerpflückte Rose. Sehr amüsieren mich die Rollos an meinen Fenstern; sie waren einst grün, jetzt sind sie von der Sonne vergilbt. Die schwarzen Zeichnungen, womit sie ein erfindungsreicher Künstler ausgeschmückt hat, stellen einige Hauptszenen aus dem Einsiedler von d'Arlincourt vor: eine Entführungs- und Mordszene, alle möglichen Schrecken; und dabei ringsumher dieser tiefe Frieden, dieser sanfte Abglanz, der von den Rollos selbst auf die Decke fällt!

Seit meiner Ankunft erfreue ich mich einer vollständigen Seelenruhe. Ich habe keine Lust, etwas zu machen, noch jemand zu sehen; zu träumen habe ich von nichts, zum Denken bin ich zu träg, nur zum Sinnen nicht. Denken und Sinnen, wie Du selbst recht gut weißt, sind zwei verschiedene Dinge.

Zuerst waren die Erinnerungen der Kindheit über mich gekommen. Bei jedem Schritt, den ich auf der heimatlichen Erde tat, bei jedem Gegenstand, den ich erblickte, stiegen sie in vollkommener Klarheit bis auf die geringfügigsten Einzelheiten vor meiner Seele auf; dann wechselten diese Erinnerungen mit andern, dann ... dann wandte ich mich leise ab von dem Vergangenen, und mir blieb nur eine Art angenehmer Abspannung, eine einschläfernde Schwere in dem Herzen zurück. Denke Dir, als ich so neulich auf dem Damm unter einem Baume saß, fing ich mit einemmal zu weinen an und würde trotz meiner vorgerückten Jahre noch lange geweint haben, hätte ich nicht eine alte Bäuerin bemerkt, welche mich neugierig betrachtete und dann, ohne das Gesicht von mir zu wenden, sich tief bückend, vorbeiging. Mir ist dieser Gemütszustand, die Tränen abgerechnet, sehr angenehm, und gern möchte ich ihn bis zum Zeitpunkt meiner Abreise, das heißt bis zum September, bewahren. Ich würde sehr übler Laune sein, wenn einer meiner Nachbarn mich aufsuchte; doch glaube ich, daß ich dies nicht zu befürchten habe, da meine nächsten Nachbarn weit genug von mir hausen. Du verstehst mich, davon bin ich überzeugt; Du weißt aus eigner Erfahrung, wie wohltätig oft diese Einsamkeit ist... Ich bedarf ihrer jetzt nur zu sehr nach all meinen Wanderungen.

Überdies kann ich mich nicht langweilen. Ich habe Bücher mitgebracht, und hier ist auch eine ansehnliche Bibliothek. Als ich gestern die staubigen Bücherschränke durchstöberte, fand ich mehrere interessante Werke, denen ich früher keine Aufmerksamkeit schenkte; unter andern eine handschriftliche Übersetzung von Voltaires »Candide« aus den siebziger Jahren; dann Journale aus derselben Zeit: »Le caméléon triomphant« (Mirabeau); »Le paysan perverti« etc. Es fielen mir Kinderschriften in die Hand; sie hatten teils mir selbst, teils meinem Vater, meiner Großmutter und – denke nur – meiner Urgroßmutter gehört. Auf einer ganz alten französischen Grammatik in buntem Einband steht mit großen Buchstaben »Ce livre appartient à Mlle. Eudoxie de Lavrine« und darunter die Jahreszahl 1741. Dann sah ich Bücher, die ich einst aus dem Ausland mitgebracht habe, darunter Goethes »Faust«. Dir ist vielleicht unbekannt, daß es eine Zeit gab, wo ich den Faust (natürlich den ersten Teil) Wort für Wort auswendig wußte und mich daran nicht satt lesen konnte. Doch andere Zeiten, anderer Geschmack. In den letzten neun Jahren habe ich Goethe kaum wieder zur Hand genommen. Mit welchem unaussprechlichen Gefühl erblickte ich gestern das kleine, mir nur zu wohlbekannte Büchlein (die schlechte Ausgabe von 1828)! Ich steckte es zu mir, legte mich ins Bett und fing an zu lesen. Wie ergriffen war ich von der prächtigen ersten Szene! Die Erscheinung des Erdgeistes, seine Worte, die Dir wohl erinnerlich sind: »In Lebensfluten, im Tatensturm wall ich auf und ab«, erregten in mir einen längst nicht mehr empfundenen Schauer der Begeisterung. Diese Lektüre erinnerte mich auf einmal an Berlin und mein Studentenleben, an Fräulein Clara Stich, das allerliebste Gretchen, an Seydelmann als Mephistopheles und an die Musik von Radziwill und an was alles noch! – – –Ich konnte lange nicht einschlafen. Meine Jugend stieg vor mir auf wie eine magische Erscheinung, ein neues Feuer durchglühte meine Adern, erweiterte mein Herz; etwas griff in dessen Saiten, und Wünsche brausten auf...

Da hast Du die Träumereien, welchen sich Dein alter, bald vierzigjähriger Freund in seiner Einsamkeit hingegeben hat. Wenn jemand mich in dieser Gemütsverfassung belauscht hätte! Doch warum soll ich mich ihrer schämen? Nein, diese Art verschämter Furcht ist nur der Jugend eigen, und ich merke, daß ich alt werde. Weißt Du, woran ich es merke? Ich suche jetzt vor mir selber die angenehmen Empfindungen zu vergrößern und die traurigen zu unterdrücken. In meiner Jugend verfuhr ich umgekehrt. Da gefiel ich mir in meiner Trauer, bewahrte sie wie einen Schatz und machte mir aus einer frohen Wallung fast ein Gewissen.

Trotz all meiner Lebenserfahrung scheint mir jedoch, Freund Horatio, es gebe noch etwas in der Welt, was ich nicht erfahren, und dieses Etwas möchte vielleicht das Wichtigste sein.

Doch wo bin ich hingeraten? Lebe wohl! Ein andermal mehr. Was treibst Du in Petersburg ? Apropos, mein Koch Ssawelij läßt Dich grüßen. Er ist auch gealtert und ein wenig dick und schwerfällig geworden, was ihn übrigens nicht hindert, mir noch gute Hühnersuppen mit Zwiebeln zu bereiten, wie auch Käsekuchen mit zierlichen Rändern und saure Suppen mit Gurken, das beliebte Steppengericht, wovon Du einmal einen Pelz auf die Zunge bekamst, den Du vierundzwanzig Stunden nicht los wurdest. Nur seine Braten sind stets wie trockener Pappendeckel. Jetzt aber lebe wohl!

Dein P. B.


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