Ivan Sergejevich Turgenev
Faust. Erzählung in neun Briefen
Ivan Sergejevich Turgenev

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M., den 20.Juni 1850

Teurer Freund! Die Vorlesung, von welcher ich Dir berichtet, hat gestern stattgefunden, und wie es dabei zugegangen ist, will ich der Reihe nach erzählen. Vor allem drängt es mich, Dir zu sagen: der Erfolg übertraf alle Erwartung. Erfolg – das ist nicht einmal das rechte Wort. Doch höre!

Ich erschien zur Stunde des Diners. Wir saßen zu sechsen am Tisch: Wera, ihr Gemahl, ihre Tochter, deren bleich und unbedeutend aussehende Gouvernante und ein alter Deutscher in kurzschößigem, zimtfarbigem Frack, sauber rasiert, bescheiden rechtschaffenen Aussehens, mit treuherzigem Lächeln und zahnlosem Munde. Dieser alte Deutsche verbreitete einen starken Zichoriengeruch um sich – den unvermeidlichen Geruch aller alten Deutschen. Man stellte mir ihn vor: er heißt Schimmel und ist einige Werst von hier, im Haus des Fürsten Ch. Sprachlehrer. Wera, die ihn sehr gern zu haben scheint, hatte ihn aufgefordert, unserer Lektüre beizuwohnen. Wir gingen ziemlich spät zu Tisch und blieben lange sitzen. Nachher machten wir einen Spaziergang. Das Wetter war wundervoll. Der Morgen war etwas windig und regnerisch gewesen, am Abend jedoch klärte sich der Himmel wieder auf, und wir schlenderten gemeinschaftlich ins freie Feld hinaus. Über uns schwebte licht und hoch eine große rosige Wolke, umflattert von grauen Streifen. Hinter ihrem äußersten Rande zitterte, bald auftauchend, bald verschwindend, ein Sternlein hervor; ein wenig weiter davon zeichnete sich scharf die weiße Mondsichel auf dem leicht geröteten Blau des Himmels ab. Ich machte Wera auf diese Wolke aufmerksam.

»Ja«, sagte sie, »das ist sehr hübsch; aber sehen Sie hierher!«

Ich sah mich um. Die untergehende Sonne verhüllend, erhob sich ein mächtiges dunkelblaues Gewölk. Es sah aus wie ein feuerspeiender Berg: der Gipfel eine breite Flammengarbe, ringsherum ein heller Saum von unheilkündendem Purpur, der an einer Stelle, gerade in der Mitte, die schwarze Masse durchbrach, wie hervorgeschleudert aus dem glühenden Schlund...

»Das wird ein Unwetter geben«, sagte Priimkow.

Doch ich komme ab von der Hauptsache. Ich vergaß, Dir in meinem letzten Brief zu sagen, daß ich es bereute, zu meiner Vorlesung Faust gewählt zu haben.

Schiller hätte sich weit mehr geeignet, wenn einmal mit deutscher Literatur der Anfang gemacht werden sollte. Vor allem hatte ich meine Bedenken wegen der ersten Szenen bis zur Bekanntschaft mit Gretchen, und auch in bezug auf Mephistopheles war ich nicht ganz ruhig. Allein ich stand einmal unter dem Einfluß des Faust, und keine andere Lektüre wäre mir so nach dem Herzen gewesen.

Als es dunkel wurde, versammelten wir uns in dem chinesischen Pavillon, der abends zuvor hergerichtet worden war. Gerade der Tür gegenüber vor dem Sofa stand ein runder Tisch mit einer Decke; rings umher Stühle und Lehnsessel. Auf dem Tisch brannte eine Lampe. Ich setzte mich aufs Sofa und nahm das Buch zur Hand. Wera ließ sich nahe der Tür in einem Sessel nieder. Beim Schein der Lampe konnte man die vor dem Eingang des Pavillons sich leicht schaukelnden Zweige der Akazien erkennen, und von Zeit zu Zeit blies der Nachtwind frisch durch die geöffnete Tür. Priimkow saß mir zunächst am Tische, neben ihm der alte Deutsche. Die Gouvernante war mit Natascha im Hause geblieben. Vor dem Beginn meiner Vorlesung sprach ich einige erklärende Worte über die Faustlegende, über die Bedeutung des Mephistopheles, über den Dichtergenius Goethes und bat, mich zu unterbrechen, wenn irgendeine Stelle des Gedichtes unklar erscheinen sollte. Dann räusperte ich mich...

Priimkow fragte, ob ich nicht ein Glas Zuckerwasser wünsche, und war, wie sich an allem merken ließ, sehr zufrieden mit sich selbst, daß er diese Frage an mich gerichtet hatte. Ich fing an zu lesen, ohne die Augen aufzuschlagen; mir war ängstlich zumute, mein Herz schlug heftig, meine Stimme zitterte. Der erste Ausruf entrang sich dem Deutschen; er war im Verlaufe der Lektüre der einzige, welcher die Stille unterbrach... »Wunderbar! Erhaben!« wiederholte er, und fügte manchmal hinzu: »Aber das ist ein wenig stark.«

Priimkow langweilte sich, wie mir schien, da er die deutsche Sprache nur oberflächlich versteht und selbst bekennt, daß er keine Verse mag... Wer hieß ihn auch zuhören? Schon bei Tisch wollte ich ihm einen Wink geben, daß er bei der Vorlesung nicht zugegen zu sein brauche; aber ich fürchtete, ihn zu beleidigen.

Wera rührte sich nicht. Ein paarmal warf ich einen verstohlenen Blick auf sie; ihre Augen waren aufmerksam und fest auf mich gerichtet; sie sah bleich aus. Nach der ersten Begegnung Fausts mit Gretchen bog sie sich aus der Stuhllehne hervor, faltete die Hände auf dem Schoß und blieb bis zum Ende des Stückes in dieser Stellung. Anfangs störte mich die Gleichgültigkeit Priimkows, bald aber vergaß ich ihn, wurde immer ernster und las mit Wärme und Hingerissenheit. – Ich las nur für Wera allein. Eine innere Stimme sagte mir, daß Faust einen lebhaften Eindruck auf sie machte. Als ich geendet (das Walpurgisnacht-Intermezzo sowie einiges aus der Hexenküchen-Szene übersprang ich), als das letzte »Heinrich!« erscholl, rief der Deutsche voll Rührung: »Gott, wie herrlich!« Priimkow sprang erfreut auf; der arme Mann dankte mir seufzend für das Vergnügen, welches ich ihm bereitet!... Ich erwiderte nichts darauf und sah Wera an; ich war nur begierig zu hören, was sie sagen würde. Sie erhob sich, wankte der Tür zu, stand eine Weile auf der Schwelle und ging dann langsamen Schrittes hinaus in den Garten. Ich eilte ihr nach. Sie war mir einige Schritte voraus, und ich konnte in der Dunkelheit kaum ihr weißes Kleid unterscheiden.

»Nun«, rief ich ihr zu, »hat es Ihnen nicht gefallen?«

Sie blieb stehen.

»Können Sie mir dieses Buch leihen?« entgegnete sie.

»Ich schenke es Ihnen, wenn Sie es haben wollen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie und verschwand. Priimkow und der Deutsche näherten sich mir.

»Es ist doch merkwürdig warm«, sagte Priimkow, »sogar schwül. Aber wo ist denn meine Frau?«

»Ich glaube, sie ist ins Haus gegangen«, erwiderte ich.

»Ich dächte, wir könnten bald soupieren», versetzte er. »Sie lesen so vortrefflich«, fugte er nach einer Weile hinzu.

»Ihrer Frau Gemahlin scheint Faust sehr gefallen zu haben«, bemerkte ich.

»Ohne Zweifel«, rief Priimkow.

»Oh, ganz gewiß«, fiel Herr Schimmel ein.

Wir traten ins Haus.

»Wo ist meine Frau?« fragte Priimkow das uns entgegenkommende Stubenmädchen.

»Gnädige Frau haben sich in ihr Schlafzimmer begeben.«

Priimkow ging ins Schlafzimmer.

Ich blieb mit Herrn Schimmel auf der Terrasse. Der Alte hob seine Augen zum Himmel.

»Wie viele Sterne!« murmelte er, eine Prise nehmend. »Und alle diese Sterne sind Welten für sich!« fügte er hinzu, indem er eine zweite Prise nahm.

Ich hielt es nicht für nötig zu antworten und sah bloß schweigend zum Himmel auf. Ein geheimer Zweifel quälte mich... Es schien mir, als blickten die Sterne so ernst auf uns hernieder.

Nach einigen Minuten kam Priimkow zurück und bat uns in den Speisesaal.

Bald darauf erschien auch Wera. Wir setzten uns.

»Sehen Sie doch meine Frau an«, sagte mir Priimkow.

Ich richtete meine Augen auf sie.

»Wie? Bemerken Sie nichts?«

Ich bemerkte allerdings eine Veränderung in ihrem Gesicht, gab jedoch – ich weiß nicht warum – zur Antwort: »Nein, ich sehe nichts.«

»Hat sie nicht gerötete Augen?« fuhr Priimkow fort.

Ich schwieg.

»Denken Sie, als ich in ihr Zimmer trat, fand ich sie in Tränen. Das ist ihr lange nicht widerfahren. Wissen Sie, wann sie zuletzt geweint hat? Als wir unsere kleine Sascha verloren. Das haben Sie mit Ihrem Faust angerichtet«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

»Also sehen Sie jetzt ein«, wandte ich mich zu Wera, »daß ich recht hatte, als ...«

»Das hatte ich nicht erwartet«, unterbrach sie mich. »Aber Gott weiß, ob Sie recht getan haben. Vielleicht erlaubte mir meine Mutter nur darum nicht, solche Bücher zu lesen, weil sie wußte, daß...«

Wera hielt inne.

»Was wußte sie?« wiederholte ich. »Sprechen Sie es aus!«

»Wozu? Ich schäme mich so schon. Wie konnte ich nur weinen ? Wir wollen übrigens noch darüber reden; ich habe einiges nicht recht verstanden.«

»Warum haben Sie mich nicht gleich gefragt?«

»Die Worte habe ich alle verstanden und auch ihren Sinn, aber...« Sie schwieg von neuem und wurde nachdenklich. In diesem Augenblick hörte man den Wind plötzlich durch das Laub der Bäume im Garten brausen. Wera fuhr zusammen und wandte sich nach dem offenen Fenster.

»Ich habe es ja gesagt, daß wir Gewitter bekommen«, rief Priimkow. »Aber liebe Wera, was fährst du so zusammen?« Sie sah ihn stillschweigend an. Der Widerschein eines matten, fernen Blitzes zuckte geheimnisvoll auf ihrem unbeweglichen Gesicht.

»Das macht alles der Faust«, versetzte Priimkow. »Nach dem Essen tun wir am besten, uns gleich aufs Ohr zu legen. Nicht wahr, Herr Schimmel?«

»Nach einem geistigen Genuß ist physische Erholung ebenso wohltätig als nützlich«, erwiderte der gute Deutsche und leerte ein Gläschen Likör.

Als das Souper beendet war, trennten wir uns. Beim Abschied drücke ich Wera die Hand; sie war kalt. Ich ging auf mein Zimmer und blieb lange am Fenster stehen, ehe ich mich auskleidete und zu Bett legte. Priimkows Vorhersagung traf ein: das Gewitter zog herauf und entlud sich. Ich hörte, wie der Wind brauste, wie der Regen an die Bäume prasselte, sah, wie bei jedem Aufflackern des Blitzes die am See gelegene nahe Dorfkirche bald schwarz auf weißem Grunde, bald hell auf dunklem Grunde sich zeigte, bald wieder in der Finsternis verschwand... Doch weitab davon schweiften meine Gedanken. Ich dachte an Wera, an das, was sie sagen würde, wenn sie selbst den Faust gelesen hätte, dachte an ihre Tränen, erinnerte mich der Aufmerksamkeit, mit welcher sie mir zugehört hatte.

Das Gewitter war längst vorüber; die Sterne erglänzten, alles war still. Ein mir unbekannter Vogel pfiff in verschiedenen Tonarten ein und dasselbe Lied. Sein einsamer, heller Gesang ertönte eigentümlich in der Stille der Nacht; ich ging noch immer nicht zu Bett.

Am anderen Morgen fand ich mich früher als alle im Salon ein. Vor dem Porträt der Frau Jelzowa stehenbleibend, sagte ich mit einem geheimen Triumph: »Nun habe ich doch noch deiner Tochter eines der von dir verbotenen Bücher vorgelesen!« Plötzlich war es mir... Du hast gewiß bemerkt, daß die Porträts en face den Beschauer gleichmäßig anzublicken scheinen... Diesmal aber kam es mir vor, als richtete Frau Jelzowa ihre Blicke vorwurfsvoll auf mich. Ich wandte mich ab, trat ans Fenster und erblickte Wera. Sie ging, einen Sonnenschirm in der Hand, ein weißes Tuch um den Kopf, im Garten spazieren. Ich eilte zu ihr, und wir begrüßten uns.

»Die ganze Nacht habe ich nicht schlafen können«, sagte sie mir. »Ich habe Kopfweh. Ich wollte frische Luft schöpfen, vielleicht wird es besser.«

»Das wird doch nicht von der gestrigen Vorlesung sein?« fragte ich.

»Doch, doch. Ich bin an so etwas nicht gewöhnt. In Ihrem Buch sind Dinge, die ich nicht loswerden kann. Davon, glaube ich, brennt mir so der Kopf«, fügte sie, die Hand an die Stirn legend, hinzu.

»Das ist ja herrlich!« rief ich. »Nur fürchte ich fast, daß diese schlaflose Nacht und das Kopfweh Ihnen die Lust nehmen, mit dieser Art Lektüre fortzufahren. «

»Meinen Sie?« entgegnete Wera und pflückte im Vorbeigehen einen Zweig vom wilden Jasmin ab. »Gott weiß! Mir scheint, daß, wer diesen Weg einmal eingeschlagen hat, nicht mehr zurück kann.«

Dann warf sie die abgepflückte Blume wieder fort.

»Kommen Sie«, sprach sie weiter, »setzen wir uns ein wenig in diese Laube, und bitte, ehe ich nicht selbst davon zu reden anfange, bringen Sie mich nicht wieder auf... dieses Buch.«

Sie sagte »dieses Buch«, als scheute sie sich, den Namen Faust auszusprechen.

Wir traten in die Laube und setzten uns.

»Meinetwegen«, sagte ich, »ich will nicht mehr vom Faust mit Ihnen reden; aber erlauben Sie mir, Ihnen Glück zu wünschen und Ihnen zu sagen, daß ich Sie beneide.«

»Sie mich beneiden?«

»Ja, weil ich weiß, wie ich Sie jetzt kenne, was Ihnen bei Ihrem Gemüt noch für Genüsse bevorstehen. Es gibt außer Goethe noch große Dichter: einen Shakespeare, Schiller; und auch unseren Puschkin darf ich nennen ... Mit ihm müssen Sie auch bekannt werden.«

Sie schwieg und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms in dem Sand.

Oh, mein teurer Freund, wenn Du sie hättest sehen können, wie holdselig sie in diesem Augenblick war! Fast durchsichtig bleich, sanft vorgebeugt, ein wenig ermüdet, innerlich erschüttert und doch so klar wie der Himmel! Ich sprach lange, dann verstummte ich – und saß so schweigend da und blickte sie an. Sie sah nicht auf, fuhr fort, mit dem Schirm im Sande zu zeichnen und das Gezeichnete wieder zu verwischen.

Plötzlich vernahmen wir den raschen Schritt eines Kindes, und die kleine Natascha sprang in die Laube herein. Ihre Mutter erhob sich hastig, und ich war erstaunt über die lebhafte Zärtlichkeit, mit welcher sie ihre Tochter umarmte. Das ist sonst gar nicht ihre Art. Nun kam auch Priimkow. Herr Schimmel, das gewissenhafte Kind mit grauen Haaren, war schon vor Tagesanbruch abgereist, um keine Lektion zu versäumen.

Wir gingen zum Tee.

Doch ich habe mich müde geschrieben; es ist Zeit, meinen Brief zu schließen. Er muß Dir recht wirr vorkommen. Ich komme mir selbst wirr vor. Mir ist so eigen. Ich weiß nicht, was ich habe. Immer schwebt mir das Gartenzimmer vor mit den nackten Wänden, die brennende Lampe, die offene Tür, durch welche die frische Nachtluft eindringt, und dort an der Tür das lauschende, jugendliche Gesicht, das leichte, weiße Gewand... Jetzt begreife ich, warum ich sie heiraten wollte. Damals, vor meiner Reise nach Berlin, war ich nicht so dumm, wie ich bis jetzt geglaubt hatte.

Ja, mein teurer Simeon, Dein Freund ist in einer seltsamen Geistesverfassung. Ich denke, das geht vorüber, und wenn es nicht vorübergeht... nun, so mag's sein! Ich bin darum doch sehr zufrieden. Erstens habe ich einen wundervollen Abend verlebt, und dann, wenn diese Seele erweckt würde, durch mich, wer kann mir darüber einen Vorwurf machen? Die alte Jelzowa hängt an der Wand und kann nicht reden. Die wunderliche Alte! Mir sind nicht alle Lebensumstände bekannt; aber das eine weiß ich, daß sie aus ihrem väterlichen Hause entfloh. Sie hatte nicht umsonst eine Italienerin zur Mutter. Ei, sie wollte ihre Tochter assekurieren. Laß sehen...

Ich lege die Feder aus der Hand. Unbarmherziger Spötter, denke, was Du willst, aber spotte nicht in Deinen Briefen. Wir sind alte Freunde und müssen gegenseitig Nachsicht haben. Lebe wohl!

Dein P. B.


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