Ivan Sergejevich Turgenev
Faust. Erzählung in neun Briefen
Ivan Sergejevich Turgenev

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M., 16.Juni 1850

Nun, mein Freund, ich bin bei ihr gewesen, ich habe sie gesehen! Vor allem muß ich Dir einen merkwürdigen Umstand mitteilen. Du magst es mir glauben oder nicht,. Wera hat sich fast gar nicht verändert, in ihrem Aussehen wie in ihrer Gestalt. Als sie mir entgegenkam, konnte ich nur mit Mühe mein Erstaunen zurückhalten; ich sah vor mir das junge siebzehnjährige Mädchen, gerade wie ehemals. Nur den Augen fehlte der kindliche Ausdruck, den sie aber auch nie gehabt; sie waren in ihrer Jugend schon zu feurig für Kinderaugen. Sonst ist sie noch ganz wie damals: dieselbe Ruhe in Gang und Haltung, dieselbe Stimme, dieselbe glatte Stirn. Als hätte sie diese ganze Reihe von Jahren irgendwo unter einer Schneedecke zugebracht!... Und sie ist jetzt achtundzwanzig Jahre alt und hat drei Kinder gehabt ... Unbegreiflich! Denke nicht etwa, daß ich aus Voreingenommenheit übertreibe. Im Gegenteil, diese »Wandellosigkeit« gefällt mir an ihr ganz und gar nicht.

Mit achtundzwanzig Jahren soll eine Frau und Mutter nicht mehr wie ein junges Mädchen aussehen; sie hat ja doch nicht umsonst gelebt.

Wera empfing mich sehr freundlich, und vollends ihr Mann war hocherfreut über meinen Besuch. Der gute Kerl scheint sich wirklich nur danach umzusehen, wo er sich an jemand attachieren kann. Sie haben ein recht bequemes und sauberes Wohnhaus. Auch die Toilette Weras war ganz mädchenhaft. Sie trug ein weißes Kleid mit einem blauen Gürtel und eine feine goldene Kette um den Hals. Ihr Töchterchen ist allerliebst, sieht ihr aber nicht ähnlich und erinnert mehr an die Großmutter. Ein wohlgetroffenes Bild dieser seltsamen Frau hängt im Salon über dem Sofa. Es fiel mir gleich in die Augen, als ich eintrat; es schien streng und aufmerksam auf mich zu blicken.

Wera nahm ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa unter dem Bild ein, ich setzte mich ihr gegenüber, und indem wir von der Vergangenheit redeten, konnte ich nicht umhin, oft die Augen zu der düsteren Gestalt der Mutter zu erheben. Du kannst Dir mein Erstaunen denken, wenn ich Dir sage, daß eingedenk der Lehren ihrer Mutter Wera bis jetzt keinen einzigen Roman, kein einziges poetisches oder, wie sie sich ausdrückt, erdichtetes Werk gelesen hat. Eine solche Gleichgültigkeit gegen die edelsten Geistesgenüsse ärgert mich. Bei einer gescheiten und, soweit ich sie beurteilen kann, feinfühligen Frau ist das geradezu unverzeihlich.

»Also«, fragte ich sie, »haben Sie es sich zur Pflicht gemacht, niemals derartige Bücher zu lesen?«

»Nein«, erwiderte sie; »aber ich kam nicht dazu, ich hatte keine Zeit.«

»Keine Zeit? Ich staune. Aber Sie«, wandte ich mich an Priimkow, »warum haben Sie Ihrer Frau nicht Geschmack für Literatur beigebracht?«

»Ich würde es sehr gern getan haben«, versetzte er, »indes...«

Wera fiel ihm ins Wort.

»Stelle Dich doch nicht so an! Du bist selbst kein großer Liebhaber von Versen.«

»Von Versen, das ist richtig«, erwiderte Priimkow, »aber Romane zum Beispiel...«

»Wie verbringen Sie denn Ihre Abende«, fragte ich Wera, »spielen Sie Karten?«

»Zuweilen. Aber an Beschäftigung fehlt es uns ja nicht. Wir lesen auch. Es gibt außer Poesie noch eine ganze Anzahl vortrefflicher Bücher.«

»Was haben Sie nur gegen poetische Werke?«

»Ich habe nichts gegen sie; allein von klein auf ließ ich diese erdichteten Werke ungelesen. Meine Mutter wollte es so, und je älter ich werde, desto mehr überzeuge ich mich, daß alles, was meine Mutter tat und sprach, heilige Wahrheit war.«

»Sehr wohl; aber ich kann Ihnen doch nicht beistimmen. Ich glaube, daß Sie gar keinen Grund haben, sich eines so reinen und berechtigten Genusses zu berauben. Sie verwerfen doch auch nicht die Musik, die Malerei; warum denn nur die Dichtkunst?«

»Ich verwerfe sie gar nicht, ich habe sie bis jetzt nur nicht kennengelernt, das ist alles.«

»Dann lassen Sie das meine Sache sein. Ihre Frau Mutter hat Ihnen doch wohl nicht für alle Zeit verboten, mit der schönen Literatur bekannt zu werden?«

»Durchaus nicht. Bei meiner Verheiratung nahm sie jedes Verbot zurück. Aber mir selbst kam es nicht in den Sinn, diese – wie nannten Sie sie doch gleich? – Romane zu lesen.«

Ich hörte ihr mit Befremden zu; das hatte ich nicht erwartet. Sie sah mich dabei ruhig an, so wie die Vögel blicken, wenn sie furchtlos sind.

»Ich will Ihnen ein Buch bringen«, rief ich. Mir fiel gerade der Faust ein.

Wera stieß einen leisen Seufzer aus und sagte mit einer gewissen Ängstlichkeit:

»Ein Buch... Doch nicht etwa von George Sand?«

»Ah, Sie haben also doch von dieser Dichterin gehört? Nun, und wenn es ein Buch von ihr wäre, was würde das schaden! Doch nein, ich bringe Ihnen einen anderen Autor. Sie haben doch Ihr Deutsch nicht vergessen?«

»Nein.«

»Sie spricht es wie eine Deutsche«, fiel Priimkow ein.

»Vortrefflich, nun, Sie sollen sehen, was ich Ihnen für ein wunderbares Buch mitbringe.«

»Schön, wir wollen sehen. Aber jetzt kommen Sie in den Garten, meine kleine Natascha hält es nicht länger aus.«

Sie setzte einen runden Strohhut auf, einen rechten Kinderhut, ganz wie der ihres Töchterchens, nur etwas größer. Ich ging neben ihr. In der frischen Luft, im Schatten der hohen Linden, kam mir ihr Gesicht noch lieblicher vor, besonders wenn sie das Köpfchen leicht zurückbog, um unter dem Hutrand hervor zu mir aufzublicken. Ging Priimkow nicht hinter uns her und hüpfte das kleine Mädchen nicht voraus, ich hätte mir einbilden können, ich sei noch der zweiundzwanzigjährige junge Mann, im Begriff, nach Berlin zu reisen. So lebhaft fühlte ich mich in jene Zeit zurückversetzt und das um so mehr, als auch der Garten, in dem wir uns jetzt befanden, dem der Frau Jelzowa sehr ähnlich sah. Ich konnte mich nicht enthalten, Wera diesen meinen Eindruck mitzuteilen.

»Alle sagen mir«, erwiderte sie, »daß ich mich äußerlich wenig verändert hätte. Ich bin übrigens auch in meinem Innern dieselbe geblieben.«

Wir näherten uns einem chinesischen Pavillon.

»Ein solches Häuschen«, bemerkte Wera, »hatten wir in Ossipowka nicht. Achten Sie nicht darauf, daß es so verwittert und baufällig aussieht; drinnen ist es recht hübsch und kühl.«

Wir traten ein; ich sah mich um.

»Wissen Sie«, sagte ich zu Wera, »hierher lassen Sie, wenn ich wiederkomme, einen Tisch und einige Stühle bringen. Hier ist es wirklich prächtig. Hier lese ich Ihnen Goethes Faust vor; nichts Geringeres will ich Ihnen vorlesen.«

»Jawohl, hier sind keine Fliegen«, bemerkte sie naiv. »Und wann kommen Sie wieder?«

»Übermorgen.«

Plötzlich sprang die kleine Natascha, die zugleich mit uns eingetreten war, bleich und mit einem Schrei des Entsetzens zurück.

»Was hast du?« fragte Wera.

«Ach, Mama! Sieh, sieh, das schreckliche Tier!« rief das Kind und zeigte auf eine ungeheure Spinne, die an der Wand heraufkroch.

»Warum fürchtest du dich?« fragte Wera. »Sie tut dir nichts.« Und ehe ich sie hindern konnte, nahm sie das widerwärtige Insekt, ließ es einen Augenblick auf ihrer Hand kriechen und warf es dann hinaus.

»Ei«, rief ich, »wie tapfer Sie sind!«

»Wieso tapfer? Das war keine von den giftigen Spinnen.«

»Ich sehe, die Naturgeschichte ist noch immer Ihre Stärke. Aber wahrlich, ich hätte das abscheuliche Insekt nicht angegriffen.«

»Man hat sich nicht davor zu fürchten«, wiederholte Wera. Natascha sah uns beide an und lachte.

»Wie ähnlich das Kind Ihrer Mutter sieht!« sagte ich.

»Jawohl«, entgegnete Wera mit einem Lächeln der Befriedigung, »das freut mich sehr. Gott gebe, daß sie ihr nicht allein vom Gesicht ähnlich sei.«

Wir wurden zu Tisch gerufen, und nach dem Essen ging ich fort. Beiläufig bemerke ich für Dich, Du Feinschmecker, das Essen war sehr gut und schmackhaft. Morgen bringe ich ihnen den Faust. Wenn ich mit dem alten Goethe nur nicht durchfalle! Werde Dir alles ausführlich beschreiben.

Nun, was denkst Du von all diesen Begebenheiten? Gelt, daß sie auf mich einen zu lebhaften Eindruck gemacht hat, daß ich mich in sie verlieben könnte? Possen, Freundchen! Es ist Zeit, vernünftig zu werden. Ich habe genug Torheiten begangen. Und ich bin nicht mehr in den Jahren, wo man das Leben von vorn anfängt. Übrigens sind mir auch solche Frauen nie gefährlich gewesen. Welche Frauen waren mir überhaupt gefährlich?

Mein zitternd Herz beginnt voll Grämen
seiner Idole sich zu schämen.

In jedem Falle freue ich mich über diese Nachbarschaft, freue mich der Gelegenheit, dieses gute, sanfte, kindliche Weib oft zu sehen. Was weiter kommt, erfährst Du seiner Zeit.

Dein P.B.


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