Iwan Turgenjew
Der Duellant
Iwan Turgenjew

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III

Seit jenem Abend waren einige Monate vergangen. Lutschkow hatte die Perekatows kein einziges Mal besucht. Kister besuchte sie dafür recht oft. Nenila Makarjewna hatte ihn liebgewonnen; sie war es aber nicht, die Fjodor Fjodorowitsch anzog. Mascha gefiel ihm. Als unerfahrener Mensch, der noch viel Unausgesprochenes auf dem Herzen hatte, fand er viel Vergnügen am Austausch der Empfindungen und Gedanken und glaubte gutmütig an die Möglichkeit einer erhabenen und ruhigen Freundschaft zwischen einem jungen Mann und einem jungen Mädchen.

Eines Tages brachte ihn ein Dreigespann wohlgenährter und schneller Pferde vor das Haus des Herrn Perekatow. Es war ein schwüler und heißer Sommertag. Kein Wölkchen stand am Himmel. Das Blau war am Horizont so tief, daß das Auge es für eine Gewitterwolke hielt. Das Haus, das Herr Perekatow für den Sommeraufenthalt mit der den Steppenbewohnern eigenen Umsicht erbaut hatte, kehrte die Fenster der Sonne zu. Nenila Makarjewna hatte schon am Morgen befohlen, alle Fensterladen zu schließen.

Kister trat in den kühlen, halbdunklen Salon. Das Licht legte sich auf den Fußboden in langen und auf die Wände in dichten, kurzen Streifen. Die Familie Perekatow empfing Fjodor Fjodorowitsch mit großer Freundlichkeit. Nach dem Mittagessen zog sich Nenila Makarjewna ins Schlafzimmer zurück, um auszuruhen; Herr Perekatow machte es sich im Salon auf dem Sofa bequem; Mascha setzte sich ans Fenster vor den Stickrahmen.

Kister nahm ihr gegenüber Platz. Mascha lehnte sich mit der Brust an den Stickrahmen, den sie gar nicht aufgeklappt hatte, und stützte den Kopf in die Hände. Kister begann ihr etwas zu erzählen; sie hörte ihm ohne Aufmerksamkeit zu, als erwarte sie etwas, blickte ab und zu auf den Vater und streckte plötzlich ihre Hand aus.

»Hören Sie, Fjodor Fjodorowitsch –; sprechen Sie aber leise . . . Papachen ist eingeschlafen.«

Herr Perekatow war in der Tat, wie gewöhnlich auf dem Sofa sitzend, den Kopf zurückgeworfen und den Mund ein wenig geöffnet, eingeschlafen.

»Was wünschen Sie?« fragte Kister neugierig.

»Sie werden mich auslachen.«

»Aber ich bitte Sie! . . .«

Mascha senkte den Kopf, so daß nur die obere Hälfte ihres Gesichtes sichtbar war, und fragte ihn mit gedämpfter Stimme, nicht ohne Verwirrung, warum er niemals Herrn Lutschkow mitbringe. Es war seit jenem Ball nicht das erstemal, daß Mascha seinen Namen erwähnte . . .

Kister schwieg. Mascha blickte ängstlich hinter dem zugeklappten Rahmen hervor.

»Darf ich Ihnen meine aufrichtige Meinung sagen?« fragte Kister.

»Warum denn nicht? Selbstverständlich!«

»Ich glaube, Lutschkow hat einen starken Eindruck auf Sie gemacht!«

»Nein!« antwortete Mascha und beugte sich, als wollte sie das Stickmuster näher betrachten; ein schmaler, goldener Lichtstreif legte sich auf ihr Haar. »Nein . . . aber . . .«

»Was, aber?« versetzte Kister lächelnd.

»Sehen Sie«, sagte Mascha und hob plötzlich den Kopf, so daß der Lichtstreif ihr direkt auf die Augen fiel. »Sehen Sie . . . er . . .«

»Er interessiert Sie . . .«

»Nun . . . ja . . .« sagte Mascha langsam. Sie errötete, wandte den Kopf ein wenig auf die Seite und fuhr in dieser Stellung fort: »An ihm ist etwas . . . Sie lachen mich aber aus . . .« fügte sie plötzlich mit einem schnellen Blick auf Fjodor Fjodorowitsch hinzu.

Fjodor Fjodorowitsch lächelte das sanfteste Lächeln.

»Ich sage Ihnen alles, was mir einfällt«, fuhr Mascha fort. »Ich weiß, Sie sind mein . . . (sie wollte sagen: Freund) guter Bekannter.«

Kister neigte den Kopf. Mascha schwieg eine Weile und reichte ihm schüchtern die Hand; Fjodor Fjodorowitsch drückte ihr respektvoll die Fingerspitzen.

»Er ist wohl ein großer Sonderling«, versetzte Mascha und lehnte sich wieder gegen den Stickrahmen.

»Ein Sonderling!«

»Gewiß. Er interessiert mich ja auch nur als ein Sonderling!« fügte Mascha schelmisch hinzu.

»Lutschkow ist ein edler, ungewöhnlicher Mensch«, entgegnete Kister mit großem Ernst. »In unserm Regiment kennt man ihn gar nicht, man schätzt ihn nicht nach Gebühr, man sieht nur seine Außenseite. Gewiß, er ist verbittert, sonderbar, ungeduldig, aber er hat ein gutes Herz.«

Mascha lauschte gierig den Worten Fjodor Fjodorowitschs.

»Ich will ihn zu Ihnen bringen. Ich werde ihm sagen, daß man Sie nicht zu fürchten braucht, daß seine Menschenscheu lächerlich sei . . . Ich werde ihm sagen . . . Oh, ich weiß schon, was ich ihm sagen werde! . . . Das heißt, glauben Sie nur nicht, daß ich . . .« Kister wurde verlegen; auch Mascha wurde verlegen. »Schließlich gefällt er Ihnen doch nur so . . .«

»Gewiß, wie mir auch viele andere gefallen.«

Kister sah sie schelmisch an.

»Schön, schön«, sagte er mit zufriedener Miene. »Ich will ihn herbringen.«

»Aber nein . . .«

»Ich sage Ihnen ja, daß alles gut sein wird. Ich werde es schon machen.«

»Was sind Sie für ein . . .« versetzte Mascha mit einem Lächeln und drohte ihm mit dem Finger. Herr Perekatow gähnte und schlug die Augen auf.

»Ich glaube, ich habe geschlafen«, murmelte er erstaunt. Diese Frage und dieses Erstaunen wiederholten sich jeden Tag. Mascha und Kister brachten das Gespräch auf Schiller.

Fjodor Fjodorowitsch fühlte sich jedoch nicht recht behaglich; in ihm regte sich gleichsam der Neid . . . und er war voll edler Entrüstung über sich selbst.

Nenila Makarjewna kam in den Salon. Man brachte Tee. Herr Perekatow ließ seinen Hund einigemal über einen Stock springen und erklärte nachher, daß er es ihm selbst beigebracht habe, während der Hund höflich mit dem Schweife wedelte, sich die Schnauze leckte und mit den Augen zwinkerte. Als die Hitze endlich abnahm und ein leiser Abendwind sich erhob, begab sich die ganze Familie Perekatow in das Birkenwäldchen, um ein wenig zu spazieren.

Fjodor Fjodorowitsch blickte Mascha jeden Augenblick an, als wollte er ihr sagen, daß er ihren Auftrag ganz gewiß ausführen werde. Mascha ärgerte sich über sich selbst, und es war ihr zugleich lustig und unheimlich zumute. Kister begann ganz unvermittelt recht hochtrabend über die Liebe im allgemeinen und über die Freundschaft zu sprechen . . . als er aber die beobachtenden heiteren Blicke Nenila Makarjewnas gewahrte, wechselte er plötzlich das Thema.

Das Abendrot leuchtete in grellen, reichen Farben. Vor dem Birkenwäldchen lag eine große ebene Wiese. Mascha bekam plötzlich Lust, »Gorjelki« zu spielen. Man rief Dienstmädchen und Lakaien herbei; Herr Perekatow stellte sich neben seine Gattin, Kister neben Mascha. Die Dienstmädchen liefen mit devoten, leisen Schreien; der Kammerdiener des Herrn Perekatow wagte es, Nenila Makarjewna von ihrem Gatten zu trennen; ein Dienstmädchen ließ sich respektvoll vom gnädigen Herrn fangen; Fjodor Fjodorowitsch blieb unzertrennlich bei Mascha. Sooft er auf seinen Platz zurückkehrte, sagte er ihr einige Worte. Mascha, die vom Laufen ganz rot geworden war, hörte ihm lächelnd zu und strich mit der Hand über die Haare. Kister fuhr nach dem Abendessen heim.

Die Nacht war still und sternhell. Kister nahm sich die Mütze vom Kopf. Er war sehr erregt; etwas preßte ihm die Kehle zusammen. »Ja«, sagte er sich schließlich beinahe laut, »sie liebt ihn, ich bringe sie einander nahe, ich werde ihr Vertrauen rechtfertigen.« Obwohl er gar keine Beweise für eine Neigung Maschas für Lutschkow hatte, obwohl er, nach ihren eigenen Worten, in ihr bloß Neugierde weckte, hatte Kister bereits eine ganze Novelle erfunden und sich seine Pflichten vorgeschrieben. Er hatte sich entschlossen, sein Gefühl zu opfern, um so mehr als er außer einer aufrichtigen Zuneigung für sie vorläufig nichts empfand, meinte er.

Kister war tatsächlich imstande, sich selbst einer Freundschaft, einer anerkannten Pflicht zum Opfer zu bringen. Er hatte viel gelesen und bildete sich ein, erfahren und sogar scharfblickend zu sein. Er zweifelte nicht an der Richtigkeit seiner Vermutungen; und er ahnte nicht, wie vielgestaltig das Leben ist und daß es sich nie wiederholt.

Fjodor Fjodorowitsch geriet allmählich in Verzückung. Er fing an, mit Rührung an seinen Beruf zu denken. Zwischen einem liebenden, scheuen jungen Mädchen und einem Mann zu vermitteln, der vielleicht nur darum so verbittert ist, weil er noch nie im Leben Gelegenheit hatte, zu lieben und geliebt zu werden; sie einander nahe zu bringen; ihnen ihre eigenen Gefühle zu erklären und sich dann so unbemerkt zurückzuziehen, daß keiner von ihnen die Größe seines Opfers merkte – welch eine herrliche Aufgabe! Das Gesicht des gutmütigen Träumers glühte trotz der nächtlichen Kühle.

Am anderen Tag begab er sich früh des Morgens zu Lutschkow.

Awdej Iwanowitsch lag, wie gewöhnlich, auf dem Sofa und rauchte Pfeife. Kister begrüßte ihn.

»Ich war gestern bei den Perekatows«, sagte er ihm mit einer gewissen Feierlichkeit.

»Ah!« entgegnete Lutschkow gleichgültig und gähnte.

»Ja. Sie sind herrliche Menschen.«

»Wirklich?« – »Ich sprach mit ihnen von dir.«

»Ehrt mich sehr; mit wem?«

»Mit den Alten . . . und mit der Tochter.«

»Ach so! Mit dieser . . . dicken?«

»Sie ist ein herrliches Mädchen, Lutschkow.«

»Na ja, sie sind alle herrlich.«

»Nein, Lutschkow, du kennst sie nicht. Ich bin noch nie einem so klugen, guten und gefühlvollen Mädchen begegnet!«

Lutschkow sang durch die Nase: »In dem Blatt aus Hamburg eine Nachricht stand, daß der Feldmarschall Münnich siegt in Feindesland . . .«

»Ich sage dir ja . . .«

»Du bist in sie verliebt, Fedja«, versetzte Lutschkow spöttisch.

»Durchaus nicht. Ich denke gar nicht daran.«

»Fedja, du bist in sie verliebt!«

»Unsinn! Darf man denn nicht . . .«

»Du bist in sie verliebt, mein herzliebster Freund!« sang Awdej Iwanowitsch gedehnt.

»Ach, Awdej, wie, schämst du dich nicht!« sagte Kister geärgert.

Wäre es ein anderer, so hätte Lutschkow noch lauter zu singen angefangen; den Kister aber neckte er nie. »Na, na, sprechen Sie deutsch, Iwan Andrejitsch«, brummte er leise: »Sei mir nicht böse.«

»Hör mal, Awdej«, begann Kister leidenschaftlich, indem er sich neben ihn setzte. »Du weißt, daß ich dich liebe.« (Lutschkow verzog das Gesicht.) »Aber eines mißfällt mir, offen gestanden, an dir . . . daß du mit niemand verkehren willst, immer zu Hause sitzt und jede Bekanntschaft mit guten Menschen meidest. Es gibt doch schließlich gute Menschen! Zugegeben, daß dich das Leben betrogen hat, daß du erbittert bist – was weiß ich? Du brauchst dich gar nicht einem jeden an den Hals zu werfen; warum sollst du aber alle Menschen ablehnen? So wirst du vielleicht auch mich einmal fortjagen.«

Lutschkow rauchte gleichgültig weiter.

»Darum kennt dich auch kein Mensch . . . außer mir . . . ein anderer wird sich vielleicht, Gott weiß, was von dir denken . . . Awdej!« fuhr Kister nach einer kurzen Pause fort. »Du glaubst nicht an die Tugend, Awdej!?«

»Wie sollte ich an sie nicht glauben . . . ich glaube an sie wohl . . .« brummte Lutschkow.

Kister drückte ihm mit Gefühl die Hand.

»Ich möchte dich mit dem Leben aussöhnen«, fuhr er mit Rührung in der Stimme fort. »Du wirst heiterer werden, du wirst aufblühen . . . ja, aufblühen. Wie froh werde ich dann sein! Erlaube mir nur, zuweilen über dich und deine Zeit zu verfügen. Was haben wir heute? Montag . . . morgen ist Dienstag . . . am Mittwoch, ja, am Mittwoch wollen wir beide zu den Perekatows hinüberfahren. Sie werden sich so sehr über deinen Besuch freuen . . . wir werden gut die Zeit verbringen. Jetzt aber gib mir eine Pfeife.«

Awdej Iwanowitsch lag unbeweglich auf dem Sofa und blickte zur Decke hinauf. Kister steckte sich eine Pfeife an, trat ans Fenster und begann mit den Fingern an die Scheibe zu trommeln.

»Sie sprachen also von mir?« fragte plötzlich Awdej.

»Ja, ja«, antwortete Kister bedeutungsvoll.

»Was sagten sie denn?«

»Was sollen sie gesagt haben? Sie wollen dich gern kennenlernen.«

»Wer denn?«

»Wie neugierig du bist!«

Awdej rief den Diener herbei und ließ sich sein Pferd satteln.

»Wo willst du hin?« – »Nach der Reitbahn.«

»Nun, lebe wohl. Also wir fahren zu den Perekatows, nicht wahr?«

»Meinetwegen«, sagte Lutschkow träge und reckte sich.

»Bravo!« rief Kister aus.

Als er auf die Straße trat, wurde er nachdenklich und seufzte tief auf.


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