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Die südrussischen Gutsbesitzer lieben es, Bälle zu geben, die Herren Offiziere einzuladen und sie mit ihren Töchtern zu verheiraten. Zehn Werst vom Dorfe Kirillowo entfernt lebte gerade so ein Gutsbesitzer, ein gewisser Herr Perekatow, der vierhundert leibeigene Seelen und ein recht geräumiges Haus besaß. Er hatte eine etwa achtzehnjährige Tochter, Maschenjka und eine Frau, Nenila Makarjewna. Herr Perekatow diente einst in der Kavallerie, hatte aber aus Liebe zum Landleben und aus Faulheit seinen Abschied genommen und sich einem ruhigen Leben hingegeben, wie es die mittleren Gutsbesitzer führen. Nenila Makarjewna stammte auf eine nicht ganz legitime Weise von einem sehr vornehmen Moskauer Herrn ab.
Ihr Beschützer hatte ihr in seinem Hause, was man so nennt, eine sorgfältige Erziehung gegeben, sich aber ihrer dann auf das erste Angebot hin recht schnell, wie einer unzuverlässigen Ware entledigt. Nenila Makarjewna war nicht hübsch; der vornehme Herr gab ihr nur zehntausend Rubel mit, und sie klammerte sich an den Herrn Perekatow. Dem Herrn Perekatow erschien es recht verführerisch, ein wohlerzogenes, kluges Mädchen zu heiraten – das schließlich auch mit dem vornehmen Würdenträger verwandt war.
Der Würdenträger zeigte dem jungen Paar auch nach der Hochzeit seine Gewogenheit, das heißt, er ließ sich von ihnen gesalzene Wachteln schenken und sprach Perekatow mit: »Du mein Bester«, und zuweilen auch einfach mit »Du« an.
Nenila Makarjewna bekam ihren Gatten ganz in ihre Gewalt und wirtschaftete und verwaltete das Gut durchaus selbständig, übrigens in recht verständiger Weise; jedenfalls viel besser, als es Herr Perekatow verwaltet hätte. Sie bedrückte ihren Ehegenossen nicht zu sehr, hatte ihn aber ganz in ihrer Hand und bestellte ihm sogar seine Kleider, und zwar nach der englischen Mode. Auf ihren Befehl mußte sich Herr Perekatow einen kleinen Kinnbart stehenlassen, der den Zweck hatte, eine große Warze in Gestalt einer überreifen Himbeere, die er am Kinn hatte, zu verdecken. Nenila Makarjewna erzählte aber den Gästen, daß ihr Mann die Flöte blase und daß alle Flötisten sich unter der Unterlippe ein Bärtchen stehenlassen, um das Instrument bequemer halten zu können.
Herr Perekatow war schon früh am Morgen mit einer hohen sauberen Halsbinde angetan, sorgfältig gekämmt und gewaschen. Im übrigen war er mit seinem Los recht zufrieden; er bekam schmackhaftes Essen, tat alles, was er wollte, und schlief, soviel er konnte.
Nenila Makarjewna führte in ihrem Hause, wie es die Nachbarn nannten, »ausländische Sitten« ein: Sie hielt nur wenige Dienstboten und kleidete diese anständig. Der Ehrgeiz plagte sie: Sie wollte wenigstens eine Frau Kreis-Adelsmarschall werden; doch die Edelleute des . . . schen Kreises aßen sich bei ihr zwar satt, wählten jedoch zum Adelsmarschall nicht ihren Gatten, sondern bald den Premier-Major a. D. Burkholz und bald den Seconde-Major a. D. Burundjukow. Herr Perekatow kam ihnen zu großstädtisch vor.
Die Tochter des Herrn Perekatow, Maschenjka glich dem Vater. Nenila Makarjewna widmete ihrer Erziehung viel Sorgfalt. Sie sprach gut französisch und spielte recht anständig Klavier. Sie war von mittlerem Wuchs, ziemlich voll und hatte einen weißen Teint; ihr etwas gar zu rundes Gesicht war von einem gutmütigen, heiteren Lächeln belebt; die dunkelblonden, nicht zu üppigen Haare, die braunen Augen und die angenehme Stimme weckten stilles Wohlgefallen, doch nicht mehr. Dafür mußte man über den Mangel jeder Ziererei und Vorurteile, über die ungewöhnliche Belesenheit dieses in der Steppe aufgewachsenen, jungen Mädchens, über die Freiheit ihrer Ausdrucksweise und ihre einfache und ruhige Art zu sprechen und zu urteilen unwillkürlich staunen. Sie hatte sich ganz frei entwickelt: Nenila Makarjewna legte ihr keine Hindernisse in den Weg.
Eines Morgens gegen zwölf war die ganze Familie Perekatow im Salon versammelt. Der Gatte stand in einem rund zugeschnittenen grünen Frack, einer hohen, karierten Halsbinde, erbsenfarbenen Hosen und Stiefeletten vor dem Fenster und fing mit großem Eifer Fliegen. Die Tochter saß vor dem Stickrahmen; ihr kleines rundliches Händchen im schwarzen Halbhandschuh hob und senkte sich langsam und graziös über dem Kanevas. Nenila Makarjewna saß auf dem Sofa und blickte schweigsam zu Boden.
»Haben Sie eine Einladung an das . . . sche Regiment geschickt, Ssergej Ssergejewitsch?« fragte sie den Mann.
»Für heute abend? Gewiß, ma chère! (Es war ihm untersagt, sie »Mütterchen« zu nennen.) Gewiß!«
»Es sind gar keine Kavaliere da«, fuhr Nenila Makarjewna fort. »Die jungen Mädchen wissen nicht, mit wem zu tanzen.«
Der Gatte seufzte, als ob der Mangel an Kavalieren ihn schwer bedrücke.
»Mamachen«, sagte plötzlich Mascha, »ist auch Monsieur Lutschkow eingeladen?« – »Was für ein Lutschkow?«
»Er ist auch Offizier. Man sagt, er sei sehr interessant.«
»Wieso?«
»Ja. Er ist weder hübsch noch jung, doch alle fürchten ihn. Er ist leidenschaftlicher Duellant. (Mamachen zog etwas die Brauen zusammen.) Ich würde ihn mal gerne sehen . . .«
Ssergej Ssergejewitsch unterbrach seine Tochter: »Was gibt's da zu sehen, Herzchen? Du glaubst wohl, er sieht wie ein Lord Byron aus? (Um jene Zeit fing man bei uns eben an, über Lord Byron zu sprechen.) Unsinn! Auch ich galt einmal als Raufbold, Herzchen!«
Mascha blickte ihren Vater erstaunt an, lachte, sprang dann auf und küßte ihn auf die Wange. Die Gattin lächelte leise . . . und Ssergej Ssergejewitsch hatte nicht gelogen.
»Ich weiß nicht, ob dieser Herr kommen wird«, sagte Nenila Makarjewna. »Vielleicht erweist auch er uns die Ehre.«
Die Tochter seufzte.
»Paß auf, verlieb dich nur nicht in ihn!« bemerkte Ssergej Ssergejewitsch. »Ich weiß, ihr seid jetzt alle so . . . exaltiert . . .«
»Nein«, erwiderte Mascha einfach.
Nenila Makarjewna sah ihren Mann kühl an. Ssergej Ssjergejewitsch spielte etwas verlegen mit seiner Uhrkette, nahm vom Tisch seinen englischen, weitkrempigen Hut und verließ das Haus, um nach der Wirtschaft zu sehen. Sein Hund lief ihm gehorsam und schüchtern nach. Als kluges Tier fühlte er, daß auch sein Herr in diesem Hause keine zu große Gewalt hatte, und er benahm sich daher bescheiden und vorsichtig.
Nenila Makarjewna ging auf die Tochter zu, hob ihr leise den Kopf und blickte ihr freundlich in die Augen. »Wirst du es mir sagen, wenn du dich verliebst?« fragte sie sie.
Mascha küßte der Mutter lächelnd die Hand und nickte einige Male bejahend mit dem Kopfe.
»Also paß auf!« versetzte Nenila Makarjewna, streichelte ihr die Wange und folgte ihrem Mann aus dem Haus. Mascha lehnte sich im Sessel zurück, ließ den Kopf auf die Brust sinken, verschränkte die Finger und blickte lange mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster; seufzend richtete sie sich wieder auf, versuchte zu sticken, ließ aber die Nadel fallen, stützte den Kopf in die Hand, biß sich in die Fingernägel und versank in Gedanken . . . dann warf sie einen Blick auf ihre Schulter und auf ihre ausgestreckte Hand, stand auf, trat vor den Spiegel, lächelte, setzte sich den Hut auf und ging in den Garten.
Am gleichen Abend gegen acht begannen sich die Gäste zu versammeln. Frau Perekatow empfing und »unterhielt« überaus freundlich die verheirateten Damen, Maschenjka die jungen Mädchen, Ssergej Ssergejewitsch sprach mit den Gutsbesitzern von der Wirtschaft und schielte jeden Augenblick nach seiner Frau.
Nun erschienen einer nach dem andern die jungen Stutzer: die Offiziere, die absichtlich etwas später kamen, zuletzt der Herr Oberst in Begleitung seines Adjutanten, Kisters und Lutschkows. Er stellte sie der Dame des Hauses vor. Lutschkow machte eine stumme Verbeugung; Kister murmelte das übliche »Freut mich sehr . . .« Herr Perekatow ging auf den Oberst zu, drückte ihm fest die Hand und blickte ihm mit Gefühl in die Augen. Der Oberst machte sofort ein finsteres Gesicht. Man begann zu tanzen. Kister forderte Maschenjka zum Tanz auf. Um jene Zeit blühte die Écossaise.
»Sagen Sie mir, bitte«, fragte Maschenjka, als sie, nachdem sie an die zwanzigmal bis ans Ende des Saales gehopst waren, sich endlich unter den ersten Paaren aufstellten, »warum tanzt Ihr Freund nicht?«
»Welcher Freund?«
Mascha wies mit dem Ende des Fächers auf Lutschkow.
»Er tanzt niemals«, entgegnete Kister.
»Warum ist er dann hergekommen?«
Kister wurde etwas verlegen. »Er wollte das Vergnügen haben . . .«
Maschenjka unterbrach ihn. »Sie sind, glaube ich, erst vor kurzem in unser Regiment versetzt worden?«
»In Ihr Regiment«, bemerkte Kister mit einem Lächeln. »Ja, vor kurzem.«
»Langweilen Sie sich nicht?«
»Aber bitte . . . Ich fand hier eine so angenehme Gesellschaft . . . und erst die Natur! . . .« Kister begann die Schönheiten der Natur zu schildern. Mascha hörte ihm zu, ohne den Kopf zu heben.
Awdej Iwanowitsch stand in der Ecke und musterte gleichgültig die Tanzenden.
»Wie alt ist Herr Lutschkow?« fragte sie plötzlich.
»Ich glaube . . . so an die fünfunddreißig«, antwortete Kister.
»Man sagt, er sei ein gefährlicher . . . zorniger Mensch«, fuhr Mascha eilig fort.
»Er ist etwas aufbrausend . . . doch im übrigen ein guter Kerl.«
»Man sagt, alle fürchten ihn?«
Kister lachte.
»Und Sie?«
»Wir sind Freunde.«
»Wirklich?«
»Sie, Sie sind jetzt dran!« rief man ihnen von allen Seiten zu. Sie fuhren zusammen und fingen wieder an, seitwärts durch den ganzen Saal zu hopsen.
»Nun, ich gratuliere!« sagte Kister zu Lutschkow nach dem Tanz. »Die Tochter des Hauses hat mich die ganze Zeit über dich ausgefragt.«
»Nein wirklich?« entgegnete Lutschkow verächtlich.
»Mein Ehrenwort! Sie ist aber doch recht hübsch, schau sie dir nur an.«
»Welche ist es denn?«
Kister zeigte ihm Mascha.
»Ah! Nicht übel!« Lutschkow gähnte.
»Du kalter Mensch!« rief Kister aus und lief davon, um ein anderes junges Mädchen zum Tanze aufzufordern.
Die von Kister mitgeteilte Nachricht gefiel Awdej Iwanowitsch recht gut, wenn er auch gähnte, und sogar laut gähnte. Ein Interesse geweckt zu haben, schmeichelte seinem Ehrgeiz; die Liebe verachtete er – in seinen Reden; innerlich aber fühlte er selbst, wie schwer und mühselig es sei, in jemand Liebe zu wecken, doch sehr leicht und einfach, sich gleichgültig, schweigsam und hochmütig zu stellen. Awdej Iwanowitsch war unschön und nicht mehr jung; dafür genoß er einen unheimlichen Ruf, folglich hatte er ein Recht, stolz zu tun. Er war die bitteren und stummen Wonnen der finsteren Einsamkeit gewohnt. Es war nicht das erste Mal, daß er das Interesse von Frauen weckte; manche hatten sich sogar bemüht, ihn intimer kennenzulernen, er stieß sie aber durch erbitterten Trotz zurück. Er wußte, daß Zärtlichkeit ihm nicht zu Gesicht stand (bei einem Stelldichein oder einem Geständnis war er immer erst unbeholfen und banal und wurde dann vor lauter Ärger grob, in einer beinahe abgeschmackten und verletzenden Weise); er erinnerte sich, daß sich die zwei oder drei Frauen, mit denen er einst bekannt gewesen war, schon in den ersten Augenblicken einer näheren Bekanntschaft gegen ihn abkühlten und sich eilig zurückzogen.
Darum entschloß er sich, ein Rätsel zu bleiben und das, was ihm das Schicksal versagt hatte, zu verachten – eine andere Verachtung kennen die Menschen anscheinend gar nicht. Jede aufrichtige, unwillkürliche, das heißt schöne und gute Äußerung der Leidenschaft stand Lutschkow nicht zu Gesicht; er mußte sich ständig beherrschen, selbst in seinem Zorn. Nur Kister allein konnte es ohne Ekel ertragen, wenn Lutschkow in sein schallendes Gelächter ausbrach. In den Augen des gutmütigen Deutschen leuchtete edle Freude der Sympathie, wenn er Awdej seine Lieblingsseiten aus Schiller vorlas; der Kampfhahn saß vor ihm, den Kopf düster gesenkt, wie ein Wolf . . .
Kister tanzte, bis er beinahe umfiel; Lutschkow verließ seine Ecke nicht, runzelte die Brauen, warf ab und zu verstohlene Blicke auf Mascha und nahm, wenn sich ihre Blicke trafen, sofort einen gleichgültigen Ausdruck an.
Mascha tanzte an die dreimal mit Kister. Der begeisterte Jüngling hatte in ihr Vertrauen geweckt. Sie plauderte mit ihm lustig, im Herzen aber hatte sie ein unbehagliches Gefühl: Lutschkow interessierte sie.
Die Töne einer Mazurka dröhnten durch den Saal. Die Offiziere fingen an zu hopsen, mit den Absätzen zu klappern und die Epauletten mit den Schultern emporzuwerfen; auch die Zivilisten klapperten mit den Absätzen.
Lutschkow rührte sich noch immer nicht von seinem Platz und verfolgte langsam mit den Augen die vorbeihuschenden Paare.
Jemand zupfte ihn am Ärmel . . . er sah sich um; sein Nachbar zeigte auf Mascha. Sie stand mit gesenkten Augen vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen.
Lutschkow blickte sie erst verständnislos an, schnallte dann gleichgültig seinen Palasch ab, warf den Federhut auf den Boden, bahnte sich ungeschickt den Weg zwischen den Sesseln, nahm Mascha bei der Hand und machte eine Runde, ohne zu hopsen und zu trampeln, als erfülle er unwillig eine unangenehme Pflicht . . . Mascha hatte heftiges Herzklopfen.
»Warum tanzen Sie nicht?« fragte sie ihn schließlich.
»Ich bin kein Liebhaber vom Tanzen«, antwortete Lutschkow. »Wo ist Ihr Platz?«
»Dort drüben.«
Lutschkow geleitete Mascha zu ihrem Stuhl, verneigte sich ruhig und kehrte ebenso ruhig in seine Ecke zurück . . . doch in ihm regte sich schon lustig die Galle.
Kister forderte Mascha wieder zum Tanz auf.
»Wie sonderbar ist doch Ihr Freund!«
»Er scheint Sie sehr zu interessieren . . .« sagte Fjodor Fjodorowitsch, indem er seine blauen, gutmütigen Augen schelmisch zusammenkniff.
»Ja . . . er ist wohl sehr unglücklich.«
»Er ist unglücklich? Woraus schließen Sie das?« Und Fjodor Fjodorowitsch fing zu lachen an.
»Sie wissen nicht . . . Sie wissen nicht . . .« Mascha schüttelte ernst den Kopf.
»Wie sollte ich es nicht wissen?«
Mascha schüttelte wieder den Kopf und sah Lutschkow an. Awdej Iwanowitsch bemerkte diesen Blick, zuckte unauffällig die Achseln und ging in ein anderes Zimmer.