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Das Testament Lenins

Vor fünf Jahren, als Lenin auf dem Sterbebett lag und nicht mehr sprechen konnte, schrieb er einen Brief, in dem er den unvermeidlichen Kampf zwischen Trotzki und Stalin voraussagte, die Charaktere der beiden Männer analysierte und die Maßnahmen anriet, die die Partei ergreifen müßte, um eine Spaltung zu vermeiden. Der fast unheimliche politische Scharfsinn Lenins zeigt sich nirgendwo klarer, als in diesem kurzen Brief, den man sein Testament an die Partei genannt hat. Der Brief wurde von Stalin und den mit ihm in der Macht Befindlichen in einem Geldschrank verschlossen und für nicht vorhanden erklärt, denn er enthielt eine sehr scharfe Kritik an Stalin und den Rat, ihn von seiner beherrschenden Stellung eines Generalsekretärs der Partei zu entfernen. Trotzdem ist es nicht gelungen, die letzte Meinungsäußerung des toten Führers der russischen Revolution ganz zu unterdrücken. Heimlich wurden Abschriften des Briefes in russischen Kommunistenkreisen verbreitet und vorgelesen, obgleich die Verfolgungen wegen solchen Vorlesens und Verbreitens sehr streng waren. Der hier wiedergegebene Text ist durchaus vollständig genau und zuverlässig.

»Unter einer Festigung des Zentralausschusses, von der ich schon früher sprach, verstehe ich Maßnahmen, die eine Spaltung verhindern sollen, soweit solche Maßnahmen überhaupt getroffen werden können. Denn der Weißgardist in Russkaja Mysl (ich glaube, es war S.E. Oldenburg) hatte natürlich durchaus recht, als er in seinem Spiel gegen Sowjetrußland in erster Linie auf die erhoffte Parteispaltung und in zweiter Linie auf ein Auseinandergehen durch ernstliche Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei setzte.

Unsere Partei stützt sich auf zwei Klassen, deshalb ist ihre Erschütterung möglich, und wenn es zu keiner Einigung zwischen diesen beiden Klassen kommt, ist sogar ihr Zusammenbruch unvermeidlich. In einem solchen Falle wäre es zwecklos, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, oder überhaupt über die Festigung des Zentralausschusses zu debattieren. In einem solchen Falle könnten keine Maßnahmen eine Spaltung verhindern. Aber ich hoffe, daß das ein noch zu weit in der Zukunft liegendes und auch zu unwahrscheinliches Ereignis ist, um jetzt darüber zu reden.

Ich denke heute an eine Festigung als Garantie gegen eine Spaltung in naher Zukunft und will hier eine Reihe von Betrachtungen von rein persönlichem Charakter anstellen.

Ich glaube, daß die Hauptursache zu den gegenwärtigen Gefahren und auch der Schlüssel zu einer neuen Festigung bei solchen Mitgliedern des Zentralausschusses wie Stalin und Trotzki liegen. Die Beziehungen zwischen ihnen enthalten nach meiner Meinung gut die Hälfte der Spaltungsgefahr. Diese Gefahr kann natürlich vermieden werden, und sie könnte nach meiner Ansicht um so leichter vermieden werden, wenn man die Mitgliederzahl des Zentralausschusses von fünfzig auf hundert erhöhte.

Genosse Stalin hat dadurch, daß er Generalsekretär geworden ist, eine gewaltige Macht in seinen Händen vereinigt, und ich bin durchaus nicht sicher, daß er es immer verstehen wird, diese Macht mit genügender Behutsamkeit zu benutzen. Auf der andern Seite besitzt Genosse Trotzki, wie sich in seinem Kampf gegen den Zentralausschuß in der Frage des Volkskommissariats für Straßenbauten zeigte, nicht nur ausgezeichnete Fähigkeiten – persönlich ist er ganz bestimmt der befähigtste Mann im jetzigen Zentralausschuß –, sondern auch ein weitreichendes Selbstbewußtsein und eine Überschätzung der behördlichen Reglung der Wirtschaft.

Diese Verschiedenheiten der beiden begabtesten Führer des jetzigen Zentralausschusses könnten ganz gegen deren Willen zu einer Spaltung führen, und wenn unsere Partei keine Maßnahmen dagegen ergreift, kann diese Spaltung ganz unerwartet eintreten.

Ich will nicht weiter die andern Mitglieder des Zentralausschusses in bezug auf ihre persönlichen Eigenschaften charakterisieren. Ich will nur daran erinnern, daß die Oktoberepisode Sinowjews und Kamenews natürlich kein Zufall war, daß man sie aber ebensowenig wie die frühere Nichtzugehörigkeit Trotzkis zum Bolschewismus zu persönlichen Angriffen ausschlachten darf.

Von den jüngeren Mitgliedern des Zentralausschusses möchte ich einige Worte über Bucharin und Piatakow sagen. Diese sind nach meiner Meinung die befähigtsten Kräfte unter diesen Jüngsten, aber in bezug auf sie darf man folgendes nicht vergessen: Bucharin ist nicht nur der wertvollste und stärkste Theoretiker der Partei, sondern kann auch ganz offen als ihr Favorit betrachtet werden. Trotzdem dürfen seine theoretischen Ansichten nur mit dem größten Zweifel als völlig marxistisch angesehen werden, denn es steckt in ihm ein Stück von einem Scholastiker, und er hat nie die Dialektik gelernt (ich glaube, er hat sie niemals ganz verstanden).

Piatakow hinwieder ist ein zweifellos willensstarker und begabter Mann, aber viel zu sehr dem Verwaltungswesen und der behördlichen Seite der Dinge ergeben, als daß man sich in einer ernsthaften politischen Frage auf ihn verlassen könnte.

Natürlich sind diese Bemerkungen nur in Hinsicht auf die augenblickliche Zeit und für den Fall gemacht worden, daß die beiden befähigten und ehrlichen Mitarbeiter keine Gelegenheit finden, ihr Wissen zu ergänzen und ihre Einseitigkeit zu verbessern. Den 25. Dezember 1922.

Nachschrift: Stalin ist zu rücksichtslos, und wenn dieser Fehler auch in den Beziehungen unter uns Kommunisten erträglich ist, so wird er ganz unerträglich im Geschäftszimmer des Generalsekretärs. Darum schlage ich den Genossen vor, einen Weg zu finden, Stalin von dieser Stellung zu entfernen und sie einem andern Manne zu geben, der sich aber in jeder Beziehung nur dadurch von Stalin unterscheiden darf, daß er besser ist als er – nämlich geduldiger, loyaler, höflicher, aufmerksamer gegen Genossen, nicht so launisch usw. Diese Dinge mögen wie unwichtige Kleinigkeiten erscheinen, aber in Hinsicht auf die Verhinderung einer Spaltung und in Hinsicht auf die oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki sind sie keine Kleinigkeiten, oder sie sind solche Kleinigkeiten, die eine entscheidende Bedeutung gewinnen können.

Lenin.

Den 4. Januar 1923.«

 


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