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Mit Lenin gegen Stalin

Ich will hier nicht Lenins entscheidenden Brief gegen Stalin über die Nationalitätenfrage zitieren. Er ist in den stenographischen Berichten des Plenums vom Juli 1926 gedruckt, und er ist vor allem in Flugblättern verbreitet worden. Es wird nicht gelingen, diesen Brief zu verbergen. Aber es gibt noch andere, der Partei völlig unbekannte Dokumente der gleichen Art. Die Archivare und Historiker der Stalinschen Schule ergreifen jede Maßnahme, um diese Dokumente am Erscheinen zu hindern. Sie werden es auch in Zukunft tun, und sie sind durchaus imstande, sie einfach zu zerstören.

Aus diesem Grunde halte ich es für notwendig, hier die wichtigsten Stellen des frühesten Briefes Lenins über den Aufbau der Sowjetunion mit der Antwort Stalins anzuführen. Lenins Brief, der vom 27. September 1922 datiert war, richtete sich an Genosse Kamenew, doch wurde eine Abschrift an alle Mitglieder des politischen Bureaus gesandt. Hier ist der Beginn des Briefes:

»Sie haben wohl schon von Stalin den Beschluß seiner Kommission über die Zulassung unabhängiger Republiken in die Sowjetunion erhalten.

Wenn Sie ihn noch nicht bekommen haben, dann lassen Sie sich ihn vom Sekretär geben, und bitte lesen Sie ihn sofort. Ich sprach darüber gestern mit Sokolnikow, heute mit Stalin, und morgen will ich Mdiwani sehen (einen georgischen Kommunisten, den man verdächtigt, nach ›Unabhängigkeit‹ zu streben).

Nach meiner Ansicht ist die Frage unendlich wichtig. Stalin zeigt eine leise Neigung, eilig vorzugehen. Sie müssen die Sache wohl überlegen. Sinowjew auch. (Sie wollten doch einmal diese Frage genauer untersuchen und taten es auch in gewisser Hinsicht.)

Stalin hat sich schon zu einer Einschränkung verstanden. Anstatt von einem ›Eintritt‹ in die Sowjetrepublik, spricht er jetzt von einer ›formellen Vereinigung‹ mit uns in einer Union der Sowjetrepubliken von Europa und Asien. Ich denke, der Sinn dieser Einschränkung ist klar. Wir erklären, daß wir auf gleicher Basis mit der ukrainischen und mit andern Republiken stehen, und wir treten mit ihnen in völliger Gleichheit in eine neue Union, in eine neue Föderation, in die Union der Sowjetrepubliken von Europa und Asien.«

Es folgt nun eine ganze Reihe von Verbesserungen Lenins in der gleichen Art. Im Schlußteil seines Briefes sagt Lenin:

»Stalin war damit einverstanden, die Resolution erst nach meiner Ankunft im politischen Bureau vorzulegen. Ich komme am Montag, dem 2. Oktober, und möchte eine Besprechung von einigen Stunden mit Ihnen und Rykow haben – vielleicht des Mittags etwa von eins bis zwei, und dann, wenn es nötig, noch des Abends von fünf bis sieben oder von sechs bis acht.

Hier ist mein einstweiliger Plan. Auf der Grundlage einer Unterredung mit Mdiwani und andern Genossen will ich dafür kämpfen und ihn durchzusetzen suchen. Ich bitte Sie dringend, dasselbe zu tun und mir zu antworten.

Ihr
Lenin.

P.S. Senden Sie Abschriften an alle Mitglieder des politischen Bureaus.«

 

Stalin übersandte seine Antwort an Lenin am selben Tag, am 27. September 1922, an die Mitglieder der politischen Bureaus. Ich zitiere aus dieser Antwort zwei wichtige Stellen:

»Lenins Abänderung zu Paragraph 2, die den Vorschlag macht, zum Zentralausschuß der russischen Republik noch einen Zentralausschuß der Föderation hinzuzufügen, sollte nach meiner Ansicht nicht angenommen werden. Das Bestehen zweier Zentralausschüsse in Moskau, von denen einer offenbar ein ›Unterhaus‹ und der andere ein ›Oberhaus‹ darstellen wird, gibt uns nur unnötige Konflikte und Debatten.«

Und weiter:

»Hinsichtlich des Paragraphen 4 scheint es Genosse Lenin selbst etwas ›eilig‹ zu haben, indem er eine Verschmelzung der Kommissariate der Finanz, der Nahrungsversorgung, der Arbeit und der Volkswirtschaft mit den Kommissariaten der Föderation verlangt. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß diese ›Eile‹ Wasser auf die Suppe der Advokaten der ›Unabhängigkeit‹ zum Schaden des Nationalliberalismus Lenins sein wird.

Lenins Verbesserung zu Paragraph 5 ist nach meiner Meinung überflüssig.

J. Stalin.«

 

Diese außerordentlich bezeichnende Korrespondenz, die man wie so viele andere Dokumente vor der Partei verborgen hält, ging dem berühmten Brief Lenins über die Nationalitätenfrage voraus. In seinen Bemerkungen über Stalins Vorgehen ist Lenin außerordentlich zurückhaltend und sanft in seiner Ausdrucksweise. Lenin hoffte damals noch immer, die Angelegenheit ohne schwere Zusammenstöße beilegen zu können. Darum wirft er Stalin vorsichtig seine »Eile« vor. Stalins gegen Mdiwani erhobene Beschuldigung der »Unabhängigkeit« setzt Lenin in Gänsefüßchen, um so deutlich von dieser Beschuldigung abzurücken. Noch mehr, Lenin betont ausdrücklich, daß er seine Verbesserung auf der Grundlage einer Besprechung mit Mdivani und andern Genossen beantragen wolle.

Stalins Antwort zeichnet sich im Gegensatz dazu durch Grobheit aus. Der Schlußsatz zum vierten Punkt ist einer besonderen Beachtung wert:

»Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese ›Eile‹ Wasser auf die Suppe der Advokaten der ›Unabhängigkeit‹ zum Schaden des Nationalliberalismus(!) Lenins sein wird.« Soweit war es also mit Lenin gekommen, daß man ihn des Nationalliberalismus beschuldigte.

Der weitere Verlauf des Kampfes um die Nationalitätenfrage zeigte Lenin, daß er auf keine Weise Stalin mit innerlichen Gründen und freundlichen Worten beeinflussen konnte, sondern daß es notwendig war, sich an den Kongreß und an die Partei zu wenden. Zu diesem Zwecke schrieb Lenin in einzelnen Abschnitten seinen Brief über die Nationalitätenfrage.

Wladimir Iljitsch maß vor allem der georgischen Frage eine ungeheure Bedeutung zu, nicht nur weil er die Folgen einer falschen nationalen Politik in Georgien fürchtete – eine Furcht, die sich als wohlbegründet erwiesen hat –, sondern auch, weil ihm durch diese Frage die ganze Verkehrtheit der Stalinschen Ansichten im Nationalitätenproblem und in anderen Problemen enthüllt wurde. Den wichtigen, entscheidenden Brief Lenins hat man bis zum heutigen Tag der Partei vorenthalten. Der Vorwand, Lenin habe nicht gewollt, daß der Brief von der Partei gelesen werde, ist durch und durch falsch. Wollte Lenin, daß seine Bemerkungen in Notizbüchern und an den Rändern der von ihm gelesenen Bücher veröffentlicht würden? Die Sache liegt so, daß man alles, was direkt oder indirekt gegen die Opposition gerichtet sein könnte, veröffentlicht, daß man aber den Brief Lenins, der das Wesentliche seines Programms über die Nationalitätenfrage gibt, unterschlägt.

Hier sind zwei Zitate aus diesem Briefe:

»Ich glaube, daß hier die Eile und der Verordnungsdrang Stalins eine unheilvolle Rolle gespielt haben, ebenso aber auch sein Haß gegen den berüchtigten ›Sozialchauvinismus‹. Haß spielt aber im allgemeinen eine höchst üble Rolle in der Politik.« (Aus Lenins Aufzeichnung vom 30. Dezember 1922.)

Und dann in seiner Aufzeichnung vom 31. Dezember 1922 in noch schärferen Ausdrücken:

»Man muß natürlich Stalin und Tscherschinski für diesen wirklich großrussischen nationalistischen Feldzug verantwortlich machen.«

Wladimir Iljitsch sandte mir diesen Brief in einem Augenblick, als er fühlte, daß er wohl kaum imstande sein würde, auf dem zwölften Kongreß zu erscheinen. Hier ist die Mitteilung, die ich von ihm während der beiden letzten Tage seiner Teilnahme am politischen Leben erhielt:

»Streng geheim. Persönlich.

Werter Genosse Trotzki:

Ich bitte Sie dringend, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit im Zentralsausschuß zu übernehmen. Diese Angelegenheit befindet sich in den Händen Stalins und Tscherschinskis zur Aburteilung, und ich kann mich nicht auf ihre Unparteilichkeit verlassen. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie also die Verteidigung übernehmen würden, könnte ich beruhigt sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grunde dazu nicht in der Lage sein, dann schicken Sie mir die gesamten Papiere zurück. Ich werde das als ein Zeichen Ihrer Ablehnung ansehen.

Mit den allerbesten kameradschaftlichen Grüßen
Lenin.
Den 5. März 1923.
Diktiert an M. V.«

 

»An Genossen Trotzki:

Wladimir Iljitsch bittet mich, seinem Ihnen telephonisch gesandten Brief zu Ihrer Information hinzuzufügen, daß Genosse Kamenew Mittwoch nach Georgien geht. Wladimir Iljitsch läßt Sie fragen, ob Sie nicht auch von Ihrer Seite aus jemand dorthin schicken möchten.

Gezeichnet M. Woloditschiwa.
Den 5. März 1923.«

»An die Genossen Mdiwani, Macharatsche und andere (Kopie an die Genossen Trotzki und Kamenew):

Werte Genossen: Ich bemühe mich Ihrethalben aus vollem Herzen und bin entrüstet über die Rücksichtslosigkeit Ordjonikitsches und die Zustimmung Stalins und Tscherschinskis. Ich bereite Briefe und eine Rede für Sie vor.

Mit Achtung
Lenin.

Den 6. März 1923.«

 

»An Genossen Kamenew (Kopie an Genossen Trotzki): Leo Borisowitsch:

Im Anschluß an unsere telephonische Unterredung teile ich Ihnen als Präsidenten des Politbureaus folgendes mit:

Wie ich Ihnen schon am 31. Dezember 1922 erzählte, hat Wladimir Iljitsch einen Artikel über die Nationalitätenfrage diktiert.

Diese Frage hat ihn sehr beunruhigt, und er beabsichtigte, darüber auf der Parteikonferenz eine Rede zu halten. Kurz vor seiner letzten Krankheit teilte er mir mit, er wolle diesen Artikel veröffentlichen, aber erst später. Dann erkrankte er, ohne endgültige Anordnungen zu geben.

Wladimir Iljitsch hielt diesen Artikel für bestimmend und außerordentlich wichtig. Auf seine Anweisung wurde er dem Genossen Trotzki mitgeteilt, den Wladimir Iljitsch beauftragt hatte, seine Ansicht über die vorliegende Frage, da sie mit der Trotzkischen durchaus übereinstimmte, auf der Parteikonferenz zu vertreten.

Die einzige Kopie des Artikels, die ich besitze, wird auf Anordnung Wladimir Iljitschs in seinem Geheimarchiv aufbewahrt.

Ich bringe diese Tatsachen zu Ihrer Kenntnis.

Ich konnte es nicht eher tun, da ich erst heute nach einer Erkrankung wieder zur Arbeit zurückkehren kann.

L. Fotiewa,
Privatsekretärin des Genossen Lenin.

Den 16. März 1923.«

 

Nach all den Verleumdungen, mit denen man Lenins Haltung gegen mich entstellt hat, kann ich nur auf die Unterschrift seines ersten Briefes – »mit den allerbesten kameradschaftlichen Grüßen« – hinweisen. Wer Lenins Wortkargheit und die Art seiner Unterhaltung und Korrespondenz kennt, weiß genau, daß Lenin diese Worte nicht zufällig an das Ende seines Briefes gesetzt hat. Es war auch nicht zufällig, daß Stalin, als er gezwungen war, diese Korrespondenz Juli 1926 auf dem Plenum vorzulesen, für die Worte »mit den allerbesten kameradschaftlichen Grüßen« die gebräuchliche Redewendung »mit kommunistischen Grüßen« unterschob. Auch hier wieder blieb Stalin sich selbst getreu.


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