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Der krieg und meine Ankunft in Petrograd

Ich kam nach Petrograd aus einem kanadischen Gefängnis Anfang Mai 1917, am zweiten Tage nach dem Eintritt der Menschewisten und Sozialrevolutionäre in die Koalitionsregierung.

Die Organe Eures Bureaus, wie so viele andere Publikationen, versuchen, wegen dieses späten Datums, meine Arbeit wegen des Krieges als eine Art »Sozialpatriotismus« zu bezeichnen. Bei diesem Versuch »vergessen« sie aber, das eine Sammlung von Artikeln, die ich im Verlauf des Krieges geschrieben hatte, unter dem Titel »Krieg und Revolution«, zu Lebzeiten Lenins veröffentlicht und in vielen Auflagen verbreitet wurde. Man studierte sie auf den staatlichen Parteischulen, und sie erschien in fremden Übersetzungen unter den Publikationen der kommunistischen Internationale.

Ihr versucht, die jüngere Generation über meine Haltung während des Krieges zu täuschen, obgleich es doch wohlbekannt ist, daß ich wegen meines revolutionären, internationalgesinnten Kämpfens gegen den Krieg schon zu Ende 1914 in Deutschland steckbrieflich verfolgt wurde. Es geschah dies wegen meines deutschen Buches »Der Krieg und die Internationale«. Aus Frankreich, wo ich mit den zukünftigen Gründern der kommunistischen Partei zusammenarbeitete, wurde ich ausgewiesen. In Spanien, wo ich Verbindungen mit den zukünftigen Kommunisten angeknüpft hatte, wurde ich verhaftet. Man deportierte mich nach den Vereinigten Staaten, worauf ich in Neuyork die internationale revolutionäre Arbeit aufnahm, mit Bolschewisten die Zeitung »Novy Mir« leitete und dort in leninistischem Sinne über die ersten Anfänge der Februarrevolution schrieb. Beim Versuch, von Amerika nach Rußland zurückzukehren, wurde ich durch die englischen Behörden von dem Dampfer entfernt, verbrachte einen Monat in einem Konzentrationslager in Kanada, wo ich mit sechs- oder siebenhundert deutschen Matrosen zusammenlebte und sie nach und nach zu den Ansichten Liebknechts und Lenins bekehrte. (Viele von ihnen nahmen nachher an dem Bürgerkrieg in Deutschland teil, und ich bekomme von ihnen bis zum heutigen Tage Briefe.)

Gelegentlich einer Depesche über die Ursache meiner Verhaftung in Kanada schrieb am 16. April 1917 Lenins Prawda folgendes:

»Ist es möglich, auch nur für eine Minute die Behauptung der beim englischen Gesandten eingetroffenen Depesche zu glauben, daß Trotzki, der frühere Präsident der Sowjets der Arbeiterdelegierten in Petrograd im Jahre 1905 – ein Revolutionär, der seit Jahrzehnten dem Dienste der Revolution ergeben war –, daß dieser Mann irgendeine Verbindung mit einem von der deutschen Regierung mit Geld unterstützten Plan hatte? Dies ist offenbar eine ungeheuerliche und freche Verleumdung eines Revolutionärs.«

Wie frisch klingen jetzt solche Worte in einer Epoche verächtlicher Verleumdungen gegen die Opposition, die sich im Grunde in nichts von den Verleumdungen gegen die Bolschewisten vom Jahre 1917 unterscheiden.

In den Anmerkungen zu dem 1921 veröffentlichten Band XIV der Gesammelten Werke Lenins liest man auf S.482:

»Vom Beginn des imperialistischen Krieges an nahm (Trotzki) eine internationale Haltung an.«

Solche Urteile und noch viel entschiedenere könnten in beliebiger Zahl hier aufgeführt werden. Die Mitarbeiter der russischen und ausländischen Parteipresse haben in Hinsicht auf mein Buch »Krieg und Revolution« wohl hundertmal darauf hingewiesen, daß, wenn man meine Arbeit während des Krieges im ganzen betrachtet, man erkennen muß, daß meine Meinungsverschiedenheiten mit Lenin von sehr nebensächlicher Art waren, und ich mich als ein entschiedener Revolutionär immer mehr – und zwar nicht nur in Worten, sondern auch in Taten – zum Bolschewismus hin entwickelt habe. Ich will mir nicht die Mühe geben, in den politischen Biographien meiner jetzigen Ankläger – und vor allem in ihrer Tätigkeit während des Krieges herumzuwühlen.

Sie versuchen nunmehr, ihre Beschuldigungen auf vereinzelte, scharf polemische Äußerungen Lenins gegen mich zu stützen, von denen mehrere auch noch während des Krieges gefallen sind. Lenin konnte niemals halb ausgesprochene Dinge und Unklarheiten vertragen. Mit Recht schlug er zweimal und dreimal zu, wenn ein politischer Gedanke ihm unbestimmt oder unvollständig erschien. Aber eine scharfe politische Bemerkung in einem bestimmten Augenblick hat nichts mit dem Urteil zu tun, das man über die ganze politische Tätigkeit des anderen fällt.

Im Jahre 1918 oder 1919 veröffentlichte ein gewisser F. in Amerika eine Sammlung von Aufsätzen von Lenin und mir aus der Kriegszeit, unter denen sich auch meine Aufsätze über die damals debattierte Frage der Vereinigten Staaten von Europa befanden. Und wie stellte sich Lenin dazu? Er schrieb:

»Der amerikanische Genosse F. tat ganz recht, als er ein dickes Buch mit Artikeln von Trotzki und mir heraus brachte und so eine Übersicht über die Geschichte der russischen Revolution gab.«

Ich will nicht auf die Haltung der Mehrzahl meiner jetzigen Ankläger während des Anfangs der Februarrevolution hinweisen, obgleich man dabei manche interessante Dinge über Skvortzow, Stepanowitsch, Jaroslawski und viele, viele andere erzählen könnte. Ich beschränke mich auf ein paar Worte über den Genossen Melnischanski, der versucht hat, mich in der Presse wegen meiner Haltung in Neuyork im Jahre 1917 zu verleumden. Jeder in Amerika kannte Melnischanski als einen Menschewisten. In dem Kampf der Bolschewisten und internationalen Revolutionäre gegen den kriegsbejahenden Sozialpatriotismus enthielt sich Melnischanski einer Stellungnahme. Er ging allen solchen Fragen aus dem Wege. Dasselbe tat er auch in dem kanadischen Lager, wo er wie viele andere mit mir und Tschudnowski zufällig hingelangte. Man braucht nur zu lesen, was Melnischanski in den Jahren 1924 und 1927 geschrieben hat. Jeder, der Melnischanski in Amerika gekannt hat, würde nur darüber lachen. Aber wozu nach Amerika gehen? An jeder einzelnen Rede Melnischanskis erkennt man den opportunistischen bureaukratischen Streber, dem der bürgerliche Standpunkt Purzells viel näher steht als der Leninismus.

Bei der Ankunft unserer Gruppe in Leningrad begrüßte uns Genosse Fedorow, ein damaliges Mitglied des bolschewistischen Zentralausschusses, an der Bahnstation, und in seiner Willkommensrede berührte er die Frage der weiteren Stufen der Revolution, der proletarischen Diktatur und des sozialistischen Entwicklungsganges. In meiner Antwort stimmte ich durchaus dem von ihm formulierten Programm der Revolution zu. Fedorow erzählte mir nachher, daß er die Hauptpunkte seiner Rede gemeinsam mit Lenin – oder genauer auf Lenins Anweisung – festgelegt hatte. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß Lenin diese Punkte als entscheidend für die Möglichkeit unseres Zusammenarbeitens ansah.

Ich trat nicht unmittelbar nach meiner Ankunft aus Kanada in die bolschewistische Organisation ein. Warum? Etwa, weil Zwistigkeiten vorhanden waren? Man versucht ja jetzt nachträglich solche zu erfinden. Wer aber als ein Mitglied des zentralen Kerns des Bolschewismus das Jahr 1917 durchlebt hat, der weiß, daß es auch nicht den Schatten einer Zwistigkeit zwischen Lenin und mir vom ersten Tage an gegeben hat. Bei meiner Ankunft in Petrograd, oder vielmehr auf der Grenzstation, erfuhr ich von den uns entgegengesandten Genossen, daß in Petersburg eine Organisation von revolutionären Internationalisten (den sog. Meschrajontzi) bestehe, die die Frage einer Vereinigung mit den Bolschewisten erwögen, aber mit ihrer Entscheidung doch bis zu meiner Ankunft warten wollten. In dem Stab der Meschrajontziorganisation, die etwa 3000 Petrograder Arbeiter umfaßte, befanden sich Uritzki, A. A. Joffe, Lunatscharski, Jurenew, Karachan, Wladimirow, Manuilski, Posern, Litwens und andere.

Vielleicht darf ich die nachfolgende Charakteristik der Meschrajontzi anführen, die sich im vierzehnten Band der Werke Lenins befindet:

»In der Kriegsfrage nahmen die Meschrajontzi eine internationale Haltung ein, und in ihrer Taktik waren sie eng mit den Bolschewisten verbunden.«

Von den ersten Tagen meiner Ankunft an habe ich zuerst zum Genossen Kamenew und nachher in Gegenwart von Lenin, Sinowjew und Kamenew zu dem Leiter der Prawda gesagt, ich sei bei dem Fehlen jeder Meinungsverschiedenheit sofort bereit, mich der bolschewistischen Organisation anzuschließen, aber ich hielte es für notwendig, so schnell wie möglich die Frage der Aufnahme der Meschrajontziorganisation in die Partei zu entscheiden. Ich erinnere mich, wie einige der Anwesenden mich fragten, wie ich mir denn die Ausführung dieser Vereinigung dächte, welche Vorstandsmitglieder der Meschrajontzi in die Leitung der Prawda, welche in den Zentralausschuß usw. gehen sollten. Ich antwortete, daß diese Frage bei der Abwesenheit aller Meinungsverschiedenheiten für mich keine politische Bedeutung habe.

Im Vorstand der Meschrajontzi befanden sich aber Elemente, die die Vereinigung hinauszuschieben suchten, indem sie allerlei Bedingungen vorbrachten. Zwischen dem Petersburger Parteiausschuß und den Meschrajontzi hatten sich alter Groll, Mißtrauen und dergleichen aufgetürmt. Dies ganz allein verursachte den Aufschub unserer Vereinigung.


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