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Aus dem vom nächtlichen Regen stark aufgeweichten Boden zog Pommerle das Unkraut. Bisweilen rollte eine Träne über ihre Wangen, die sie hastig fortwischte. Da sie an die beschmutzte Hand nicht dachte, sah das sonst stets saubere Gesicht nicht gerade ansprechend aus. Von Zeit zu Zeit hielt Pommerle in seiner Arbeit inne, schaute mit trüben Augen hinüber zur Villa, um dann, einen tiefen Seufzer ausstoßend, weiter an die Arbeit zu gehen.
Lumpazi, der schwarze Riesenschnauzer, der erst still neben seiner jungen Herrin gelegen hatte, fing an durch den Garten zu gehen. Oft, sehr oft wandte er den Kopf zurück. Lumpazi hatte wieder einmal Übles im Sinn. Die große, gelbe Sonnenblume, die drüben am Wege stand, ärgerte ihn schon lange. Wie oft hatte Pommerle dem Hunde verwehrt, mit der Pfote gegen den Schaft zu schlagen, doch Lumpazi ließ es nicht. Wippte die große Blüte hin und her, so bellte der Hund erregt und versuchte erneut, nach dem Schaft zu schlagen.
Es hatte geraume Zeit gedauert, bis man dahinter kam, daß Lumpazi keine gelben Blumen leiden konnte. Die gelbblühenden Stiefmütterchen kratzte er einfach aus dem Erdreich heraus und scharrte dann solange, bis sie wieder mit Erde bedeckt waren. Auf dem Beet mit den gelben Studentenblumen trampelte das Tier herum, während es sonst so gehorsam nur die Kieswege beging. Aber gelbe Blumen waren Lumpazi nun eben ein Greuel, so mußte Pommerle ihre gelben Lieblinge ganz besonders hüten.
Leise hatte sich Lumpazi wieder an die Sonnenblume herangeschlängelt; Pommerle sah gerade, daß der hohe Schaft wieder heftig geschüttelt wurde.
»Pfui, Lumpazi, schämst du dich nicht? Sollst du das tun?« Mit raschen Schritten eilte Pommerle zu dem Hunde, der aufgerichtete Zeigefinger bewegte sich drohend vor den Augen des Hundes. »Kannst ja nicht dafür, daß dich einst ein Mädchen im gelben Kleide geschlagen hat. Aber meine Blumenkinder tun dir nichts zuleide. – Du willst ein kluger Hund sein, Lumpazi? – Komm, betrachte einmal den schönen Goldball.« – Pommerle bog den hohen Stengel herab und hielt ihn dem Hund vor die Nase. »Du mußt jetzt besonders artig sein, denn du weißt, daß der Arzt bei meinem Mütterchen ist. Vielleicht sagt er, sie ist schwer krank. – Mache mir also keinen Ärger, lasse die Sonnenblume in Ruhe!«
Lumpazi zog den Schwanz ein, trabte gehorsam neben Pommerle einher und legte sich ruhig nieder, als Pommerle die Arbeit des Jätens wieder aufnahm.
Etwa eine Viertelstunde später sah sie den Vater durch den Garten kommen. Erregt eilte sie ihm entgegen.
»Hat der Doktor fertig untersucht? Väterli, was sagte er? Was fehlt meinem Mütterchen?«
»Armes Mädelchen, hast sogar geweint und siehst aus wie ein Schmutzfink! Brauchst nicht zu weinen, Pommerle, es ist wahrscheinlich nichts Schlimmes. Nur verlangt der Arzt, daß die Mutti acht Tage lang zur Beobachtung nach Breslau in die Klinik kommt. Dann weiß man genau, was los ist, und es kann ihr geholfen werden.«
»So soll Mütterchen recht schnell in die Klinik fahren!«
»Ja, Pommerle, das wird auch geschehen. Ich hätte große Lust, die Mutti zu begleiten, um in Breslau einige Besuche zu machen. Aber – können wir unseren kleinen Irrwisch solange allein lassen?«
»Freilich, Väterli! Ihr könnt mich so lange allein lassen, bis Mütterchen wieder gesund heimkommt. Ich bin doch schon fünfzehn Jahre alt. Außerdem haben wir unsere gute Emilie und den Lumpazi.«
»Das habe ich mir auch gesagt, Pommerle. Ich glaube, es ist gar nicht einmal nötig, daß wir Bekannte bitten, ins Haus zu kommen.«
»Nein, Väterli! Emilie ist im vierten Jahre bei uns, ihr seid immer mit ihr zufrieden gewesen, wir beide werden das Haus gut in Ordnung halten. Mütterchen soll recht rasch beobachtet werden und gesund wieder heimkommen.«
»Vor allem dürfen wir ihr keine Aufregungen bereiten. Jeder Ärger, jede Aufregung muß ihr ferngehalten werden – –«
»Väterli, das machen wir immer. – Und wenn ich euch einmal ein wenig Ärger bereite, ist es wirklich nicht schlimm gemeint. Ich werde mich in Zukunft noch mehr zusammennehmen.«
»Ich dachte, Pommerle, daß wir Montag früh nach Breslau fahren; am Sonnabend sind wir hoffentlich wieder zurück.«
»Das könnt ihr ruhig machen! Emilie und ich passen gut auf, und – Lumpazi, laß die Sonnenblume in Ruhe!«
Diesmal bekam der Hund einen leichten Klaps. »Auch du mußt vernünftig und artig sein, denn du bist von Montag an der einzige Herr im Hause, – bist der Hüter. Also, sei vernünftig, sonst habe ich dich nicht mehr lieb!«
Lumpazi wußte ganz genau, daß er gescholten wurde, und versuchte zur Versöhnung Pommerle bald die rechte, bald die linke Pfote zu reichen. Da konnte das junge Mädchen nicht lange widerstehen, und die Freundschaft war erneut geschlossen.
Frau Bender mußte ihre erregte Tochter beruhigen. »Ich hoffe, daß es sich um nichts Schlimmes handelt, mein liebes Kind, ich möchte nur Gewißheit erhalten. So werden wir dich acht Tage allein bei Emilie lassen. Ich weiß ja, du bist ein vernünftiges Mädchen, und Emilie ist eine zuverlässige Kraft. Sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen, kannst du durch den Fernsprecher den Vater oder mich jederzeit erreichen.«
Pommerle erwiderte nichts, doch nahm sie sich vor, die Eltern nicht anzurufen, falls sich etwas ereignen sollte, was der Mutter Aufregung brächte. Sie hatte die Worte des Vaters wohl gehört; er meinte, man müsse in nächster Zeit der guten Mutter allen Ärger, alle Aufregungen fernhalten. – Was sollte auch geschehen? Es kam höchstens ein berühmter Mann zum Vater, den sie einfach nach Breslau schickte oder bis zur nächsten Woche vertröstete. Vielleicht brannte einmal das Mittagessen an, – was machte das? Sonst würde sie gut aufpassen, damit alles in schönster Ordnung bliebe.
Ganz heimlich schloß Pommerle mit Emilie einen Pakt. »Es könnte wohl sein, Emilie, daß manches, wenn wir allein sind, nicht so klappt, aber schreiben werden wir nichts nach Breslau. Mütterchen darf keine Aufregungen haben, sonst kann sie nicht gesund werden.«
»Wo denkst du hin, Pommerle! Wir beide werden es schon schaffen!«
Diese Versicherung gaben Emilie und Pommerle auch am Montag früh ab, als die Eltern nach Breslau abfuhren. Benders hatten keine Bedenken, sie konnten sich auf Emilie verlassen, und Pommerle war auch nicht mehr so klein, um nicht alleinbleiben zu können.
Alles ging sehr gut. Pommerle schloß allabendlich sorgsam Türen und Fenster, schaute nach, ob nirgends das elektrische Licht brannte, die Gashähne geschlossen waren und wartete sehnsüchtig auf Nachricht aus Breslau. Die traf am Mittwoch früh pünktlich ein, doch konnte die Mutter noch nichts Genaues mitteilen. Pommerle schrieb sogleich einen beruhigenden Brief zurück, es gehe in Hirschberg alles gut, auch habe sich nichts ereignet, was der lieben Mutter Unruhe bereiten könnte. Gewissenhaft sorgte sie dafür, daß der Garten in bester Ordnung blieb. Jede freie Stunde benutzte das junge Mädchen, um das Unkraut zu entfernen, Blumen und Gemüse zu betreuen. Auch an diesem Mittwochnachmittag harkte Pommerle die breiten Kieswege, die Lumpazi ein wenig zerkratzt hatte. –
Ganz plötzlich bellte der Hund laut auf. Durch die Gartenpforte kam ein älterer Herr geschritten, der das Grundstück prüfend betrachtete.
Langsam ging ihm Pommerle entgegen. Es war ganz gewiß Besuch für den Vater. Pommerle hatte den Fremden noch nie gesehen. Der grüßte und schaute dann wieder aufmerksam hinüber zur Villa.
»Ein hübscher Besitz. – Wohnt hier Professor Bender?«
»Jawohl, er wohnt hier. Er ist verreist.«
»Und du bist – – eine Verwandte?«
»Ich bin die Tochter des Professors, ich heiße Hanna.«
»So, so – du bist also das Pommerle?«
»Ja, so werde ich genannt.«
»Du kennst mich wohl nicht?«
»Nein!«
»Ich bin der Onkel Arnulf, der Bruder deines Vaters.«
Pommerle zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern; das machte sie immer, wenn sie verlegen war.
»Der Vater hat dir wohl niemals von mir erzählt?«
»Bitte, wollen Sie eintreten oder dort drüben in der Laube Platz nehmen? Vielleicht noch besser oben auf der Veranda.«
»Kannst mich ruhig mit ›Du‹ anreden, du Tochter meines Bruders. Ich weiß zwar nicht, daß er eine Tochter hat. – Aber du bist gewiß das Fischerkind, das er vom Ostseestrand mit heimbrachte?«
»Ja, das bin ich«, sagte Pommerle unsicher, »aber jetzt bin ich schon lange die Tochter des Herrn Professor.«
Der Fremde, der breitspurig in einem der Korbsessel auf der Veranda Platz genommen hatte, lachte ein wenig höhnisch. »Natürlich, fremde Leute holt er sich ins Haus, von den eigenen Verwandten will er nichts wissen, der wackere Sokrates. Dir hat Sokrates niemals von Onkel Arnulf erzählt?«
»Sokrates?«
»Nun ja, so nannten wir deinen Vater schon als Knaben, weil er seine Nase ständig in die Bücher steckte. Es scheint fast, als wüßtest du gar nichts von deines Vaters Verwandtschaft; hast keine Ahnung, daß dein Vater zwei Brüder hatte?«
»O doch, ich weiß von Onkel Theodor, der sehr früh gestorben ist.«
»Und von Onkel Arnulf weißt du nichts, von dem Ältesten der Familie?«
Pommerle schüttelte verlegen den Kopf. Zaghaft betrachtete das junge Mädchen den hageren Mann. Eine Ähnlichkeit mit dem Vater schien vorhanden zu sein, nur wirkte dessen Gesicht viel gütiger, viel durchgeistigter.
»In eurem schönen Hause wird ja wohl ein Plätzchen für Onkel Arnulf frei sein, der die weite Reise machte, um endlich einmal seinen berühmten Bruder zu sehen. Er verdient wohl klotzig viel Geld, der weise Sokrates?«
»Väterli schreibt Bücher, sein Name ist überall bekannt. Berühmte Leute besuchen ihn oft.«
»Hat sich auch einen hübschen Besitz zugelegt, – aber an den Bruder denkt er nicht. – Dein Vater hat wohl wenig übrig für Menschen, die sich mühsam durchs Leben quälen?«
Aus Pommerles blauen Augen brach ein heißer Strahl. – »Mein Väterli hilft überall, wo er nur helfen kann!«
»Dann wundert es mich, daß er sich niemals um seinen Bruder Arnulf und dessen notleidende Familie kümmerte. – Also dein Vater ist verreist? Wann kommt er zurück?«
»Er ist mit Mütterchen in Breslau. Am Sonnabend kommt er wieder heim.«
»Nun gut, so warte ich hier auf ihn. Ein paar Tage der Ruhe in dem schönen Ort werden mir gut tun. Muß mich ohnehin dauernd mit dem Leben herumraufen. Ihr habt doch sicher ein paar nette Fremdenzimmer, von denen eins für Onkel Arnulf hergerichtet werden kann?«
Pommerle stand unschlüssig vor dem Fremden. Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte. Niemals hatte der Vater den Namen dieses Bruders erwähnt; es brauchte also nicht wahr zu sein, daß dieser Mann ein Bruder des Vaters war. – Schwindler gab es in der Welt. – Vielleicht war bekannt geworden, daß der Vater in Breslau weilte. Da kam einer und schlich sich in das Haus des berühmten Mannes, um dort wertvolle Dinge zu entwenden.
»Du glaubst mir wohl nicht? Meinst wohl, ich sei ein Betrüger, der sich einnisten will? Oder hast du Angst, daß ich zuviel wegesse?«
»Ich habe gar keine Angst«, sagte Pommerle, der die Art des Unbekannten mißfiel, »aber ich kenne Sie nicht, und es ist daher besser, wenn Sie bis zum Sonnabend ins Hotel gehen.«
»Willst du die Rechnung bezahlen? Dein Onkel Arnulf ist kein so vermögender Mann wie dein Vater, er muß sich für die paar Groschen, die er verdient, sehr plagen. Da habe ich nun die weite Reise hierher gemacht, mein letztes Geld verfahren, komme hungrig an, und nun läßt mich dieses junge Mädchen, das nicht einmal die rechte Tochter meines Bruders ist, nicht ins Haus!«
»Ich bin die Tochter von Professor Bender!«
»Ja, ja, habe nur keine Angst, daß ich dir etwas streitig mache; hast dich ja ins warme Nest gesetzt. Aber so klug wirst du auch schon sein, daß du das Unrecht einsiehst, das dein Vater an seinen Verwandten beging. Wenn er junges Volk im Hause haben wollte, konnte er meinen Sohn Felix zu sich nehmen. Aber nein, er mußte nach Pommern fahren, mußte sich ein wildfremdes Mädchen ins Haus holen, das nun sein ganzes Vermögen und den schönen Besitz erbt.«
Auf Pommerles Wangen brannten rote Flecke. »Ich werde Emilie fragen, ob sie Ihnen Kaffee bereiten kann. Bitte, warten Sie ein wenig.« Pommerle eilte ins Haus. Sie war froh, aus der Nähe des unangenehmen Mannes zu kommen. Schon im Eßzimmer, das an die Veranda grenzte, traf sie Emilie. Die hatte die Stimme eines fremden Mannes gehört, war herbeigekommen und hatte die ganze Unterhaltung mit angehört.
Pommerle zog Emilie hinaus in die Küche. »Er sagt, er ist – – –«
»Ich habe die Unterhaltung gehört, Pommerle. – Es kann schon wahr sein, – braucht aber auch nicht zu stimmen. Den Onkel Arnulf dürfen wir natürlich nicht ins Haus lassen.«
»Er macht so häßliche Redensarten«, sagte Pommerle kläglich.
»Ich werde rasch Kaffee kochen und ein paar Buttersemmeln fertigmachen, dann mag er wieder gehen.«
»Wenn er doch kein Geld hat?«
»Das kümmert uns nicht. Wir können keinen Fremden ins Haus lassen.«
Pommerle schaute nach der Uhr. »Väterli kann ich durch den Fernsprecher nur vormittags erreichen, und Mütterchen darf keine Aufregungen haben. Weißt du, liebe Emilie, koche du rasch Kaffee, und ich springe hinüber zu Tante Ankorn, die wird mir raten können.«
Dem Hause Professor Benders gegenüber lag die schmucke Villa des Amtsgerichtsrats Ankorn. Die Familien verkehrten miteinander, und Pommerle war häufig drüben im Garten, denn Frau Ankorn, die gar nichts von Blumenzucht verstand, holte gern den Rat des jungen Mädchens ein.
»Onkel Ankorn ist eine Gerichtsperson, Emilie. Auch seine Frau wird sicher wissen, wie wir uns in diesem schwierigen Falle zu verhalten haben. Vielleicht ist Onkel Ankorn daheim, dann haben wir gleich einen juristischen Beirat. – Es ist wirklich ein außerordentlich verzwickter Fall!«
»Hoffentlich bleibt der Fremde auf der Veranda sitzen und verlangt nicht, ins Haus geführt zu werden?«
»Laß ihn, bitte, nicht in Väterlis Arbeitszimmer. Dort liegen immer wertvolle Papiere umher. Warte, ich schließe rasch die Zimmer ab, dann kann er uns nicht schaden.«
»So? – Das ist ja eine reizende Nichte, die vor dem Onkel die Stuben verschließt!«
Weder Emilie noch Pommerle hatten den Eintretenden bemerkt. Wie mit Blut übergossen stand das junge Mädchen da.
»Mein Herr, wir kennen Sie nicht«, sagte Emilie, »Herr und Frau Professor Bender sind nicht daheim, also können wir Sie nicht aufnehmen.«
»Nun, Beherrscherin des Küchenreiches«, höhnte der Gast, »damit Sie meinen Worten glauben, bin ich bereit, Ihnen meine Papiere vorzulegen. Vielleicht haben Sie die Güte, meinen Paß einzusehen. – Bitte!« Er reichte Emilie den Paß. »Darin finden Sie alles!«
Pommerle benutzte die Gelegenheit, fortzuhuschen. Mit schnellen Sprüngen eilte sie zur gegenüberliegenden Villa, klingelte stürmisch und atmete erleichtert auf, als Amtsgerichtsrat Ankorn selbst öffnete.
Mit überstürzten Worten wurde der Fall erzählt. »Bitte, raten Sie mir, denn Emilie und ich wissen wirklich nicht, ob wir den Fremden aufnehmen müssen oder nicht.«
»Das habt ihr nicht nötig, Pommerle. Gehe ruhig wieder heim, ich werde in zehn Minuten, ganz zufällig, einmal hinüberkommen. Ich glaube, ich werde heraushören, ob es sich wirklich um den Bruder deines Vaters handelt.«
»Väterli hat niemals von einem Onkel Arnulf erzählt.«
»Das werde ich schon ergründen, kleines Pommerle.«
»Haben Sie schönen Dank, Onkel Amtsgerichtsrat, ich habe mir gleich gedacht, daß mir nur eine juristische Person in diesem Dilemma raten kann.« Pommerle suchte absichtlich nach Fremdworten.
Arnulf Bender hatte inzwischen, soweit das möglich war, das Haus besehen, doch Emilie machte sich beständig in seiner Nähe zu schaffen und wartete sehnsüchtig auf die Rückkehr Pommerles. Als sie kam, forderte Emilie beide auf, in der Laube im Garten Platz zu nehmen, der Kaffee werde sogleich kommen.
»Nur nicht ins Haus«, höhnte der Gast, »schmeißt den fremden Mann hinaus, er hat hier nichts zu suchen! – Hahaha, für den eigenen Bruder ist im Hause des berühmten Professors Bender kein Platz! – Er muß sich reizend entwickelt haben, der Sokrates!«
Am liebsten hätte Pommerle ein heftiges Wort gesagt, doch das durfte sie nicht. Die Eltern meinten, ein junges Mädchen habe bescheiden zu antworten und Fremden gegenüber zurückhaltend zu sein. So beantwortete Pommerle die gestellten Fragen sehr kurz und knapp und atmete erleichtert auf, als Amtsgerichtsrat Ankorn und Gattin den Garten betraten.
»Wir müssen einmal nachsehen kommen, kleines Pommerle, ob du das vereinsamte Haus gut hütest. Das ist die Pflicht der Nachbarschaft. – Ah, du hast Besuch bekommen?«
Die Bekanntschaft wurde geschlossen, und Pommerle brauchte nicht mehr viel zu sagen, lauschte aber aufmerksam der Unterhaltung, die die drei Erwachsenen führten. Sie erfuhr daraus, daß Arnulf der ältere Bruder des Vaters sei. Lachend berichtete jener, daß er auf der Schule nichts getaugt habe, er sei auch stets vom Unglück verfolgt, und sein Bruder, der weise Sokrates, habe seine Klugheit schon als angehender Gelehrter dadurch bewiesen, daß er seinen älteren Bruder einfach fallen ließ.
»Eigentlich gar nicht die Art des menschenfreundlichen Professors«, warf der Amtsgerichtsrat ein.
»Man macht auch einmal eine Eselei im Leben. Wenn man sich, wie ich, so schwer durchs Leben bringen mußte, läßt man einmal fünfe gerade sein. Aber – wem es immer gut geht, der weiß nichts von den Versuchungen der Welt. – Nun, was ich gefehlt habe, habe ich versucht wieder gutzumachen. Ich bringe meine Frau und meinen Sohn redlich durchs Leben, nur geht es augenblicklich nicht weiter. So dachte ich, es wäre an der Zeit, die Hilfe des Bruders einmal in Anspruch zu nehmen.«
»Aus diesem Grunde sind Sie hergekommen?«
»Von Ostpreußen! Ich habe nicht gewußt, wo mein Bruder sich aufhält. Der Zufall gab mir den Fingerzeig. Mein Sohn Felix hat in Glogau gedient, in seiner Kompagnie stand ein junger Mann mit Namen Julius Kretschmar.«
»Ach, der Jule!« rief Pommerle.
»Durch den Kretschmar hat Felix allerlei erfahren; so haben wir beschlossen, die alten Beziehungen wieder anzuknüpfen. Da mein Bruder ohne Leibeserben ist, der dritte von uns starb als junger Mensch, ist mein Felix derjenige, der als nächster Erbe in Betracht kommt.«
Amtsgerichtsrat Ankorn runzelte unwillig die Stirn. »Zunächst muß ich einen Irrtum berichtigen, Herr Bender, die direkte Erbin des Professors sehen Sie hier in Hanna Bender, seiner Tochter. – Aber wir wollen darüber jetzt nicht länger reden, das ist höchst unerquicklich.«
»Wenn Sie meine Verhältnisse kennen würden, Herr Amtsgerichtsrat, müßten Sie verstehen, daß ich unbedingt ein Recht habe, die Wahrheit zu erfahren. Ein Vater kämpft für seinen Sohn.«
»Die Wahrheit liegt klar auf der Hand, Herr Bender. Der kinderlose Professor adoptierte bereits vor mehreren Jahren unser Pommerle, das somit in alle Rechte einer leiblichen Tochter eingesetzt wurde.«
»So dürfte diese Tochter dem Onkel wahrscheinlich eine Unterkunft im Hause des Vaters gewähren.«
Pommerle blickte verängstigt den Amtsgerichtsrat an.
»Sie werden es dem jungen Mädchen nicht verdenken können«, erwiderte Ankorn ruhig, »wenn es sich zunächst mit den Eltern in Verbindung setzt und deren Antwort abwartet. Sie finden in Hirschberg viele gute und preiswerte Gasthöfe; ich will Sie gern in eines dieser Häuser führen.«
»Ich muß Ihnen die peinliche Eröffnung machen, daß meine Mittel durch die weite Reise erschöpft sind.«
»Ich hole Geld«, rief Pommerle. »Väterli hat genügend hiergelassen!« Nur den Fremden aus dem Hause bringen, für den Pommerle kein wärmeres Gefühl empfand!
»Das wird das beste sein«, meinte Ankorn. »Du versuchst, liebes Pommerle, morgen deinen Vater telephonisch zu erreichen, von dem du dir weitere Anweisungen geben läßt.«
Dann wurde das Gespräch auf andere Dinge gelenkt. – Der Amtsgerichtsrat ließ sich allerdings noch manches aus dem Leben des plötzlich aufgetauchten Bruders Benders erzählen und kam mehr und mehr zu der Überzeugung, daß es sich um einen untüchtigen Mann handle, der mit dem Leben nicht fertig wurde und Gelegenheit suchte, auf Kosten des Bruders ein beschauliches Dasein zu führen. Arnulf Bender hatte sich dem kaufmännischen Berufe zugewandt, in seinen Stellungen aber wenig geleistet. Er heiratete schließlich in ein Geschäft ein, aber auch das glückte nicht, das Geschäft ging in Konkurs. Er fand einen neuen Geldgeber, eröffnete ein zweites Geschäft, das vor einem halben Jahr aber ebenfalls schließen mußte. Vergeblich hatte sich Arnulf Bender nach neuen Geldmitteln umgesehen. Da wurde sein Sohn Felix mit Julius Kretschmar bekannt, und nun raffte der Kaufmann sein letztes Geld zusammen, um zu seinem Bruder zu reisen und von diesem, den er vor Jahrzehnten empfindlich beleidigt hatte, Mittel zu erbitten.
Pommerle atmete erleichtert auf, als eine Stunde später Amtsgerichtsrat Ankorn mit Herrn Bender das Haus verließ. Ankorn wollte für eine geeignete Unterkunft sorgen.
»Ach, Emilie«, seufzte Pommerle, »da dachten wir nun, es wird in den acht Tagen nichts geschehen, und jetzt sind wir beide aus dem Gleichgewicht gebracht. – Morgen früh rufe ich den Väterli an.«
Professor Bender schien recht bestürzt zu sein, von seiner Tochter diese Botschaft zu erhalten. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er heute schon heimreisen solle, doch war für heute abend eine für ihn wertvolle Unterredung angesetzt worden.
»Gewiß, Pommerle, ich habe einen Bruder Arnulf, er wird es wohl auch sein. Es ist mir jedoch lieber, er bleibt im Gasthaus, bis ich heimkomme. Sage ihm das, ich werde die Rechnung bezahlen.«
»Wenn er nun drauflos lebt und vielleicht sogar Sekt trinkt?«
»Es wird alles erledigt werden, kleines Pommerle, mache dir darüber keine Sorgen. Du hast auf jeden Fall richtig gehandelt, daß du bei Onkel Ankorn Rat holtest. Gehe auch weiterhin zu ihm, wenn du etwas nicht weißt.«
Am Donnerstagmittag stellte sich Onkel Arnulf wieder ein. »Na«, fragte er höhnisch, »hast du nun gehört, daß ich dein Onkel bin?«
»Ja, aber Väterli sagte, Sie möchten, bis er heimkommt, ruhig im Hotel bleiben, er werde alles begleichen, so daß Sie keinerlei Unkosten haben. Sie können sich auf mein Väterli fest verlassen.«
»Natürlich, wenn man so reich ist wie mein Bruder. – Einen Betrag für mich hat er wohl nicht angewiesen?«
»Nein.«
»Aber in der Sparkasse des kleinen Fischermädchens klimpert gewiß allerhand Geld?«
Obwohl Pommerle seine Herkunft niemals verleugnet hatte, fühlte sie jedesmal einen leisen Stich am Herzen, wenn dieser Onkel von dem »Fischermädchen« zu reden begann. – Warum sprach er so höhnisch?
»Schon gegessen? Ist für Onkel Arnulf nichts mehr übrig?«
Pommerle wagte nicht nein zu sagen. Zögernd forderte sie den Onkel auf, zu bleiben, in einer halben Stunde werde gegessen. Man habe heute nur ein ganz bescheidenes Mahl gerichtet.
»Setzeier und grüner Salat. – Wenn Sie damit zufrieden sind?«
»Das habt ihr wieder fein eingefädelt! Von Eiern habe ich mich wochenlang ernähren müssen. – Bist eine ganz raffinierte kleine Person, Pommerle! Bringst ja auch das Landhaus und das Vermögen deines Vaters an dich.«
Wieder wußte Pommerle nichts zu erwidern.
»Wirst noch einmal einsehen müssen«, fuhr Onkel Arnulf fort, »daß es ein Unrecht ist, den armen Verwandten alles fortzunehmen. – Was soll aus meinem Felix werden? Er hat keine Stellung, also auch keinen Verdienst. Er könnte sich bei seinem Onkel betätigen, doch da sitzt schon das Pommerle.«
»Warum hat er keine Beschäftigung? Jeder junge Mann muß doch etwas tun?«
»Hast gut reden! Du weißt gar nicht, wie es ist, wenn einem der Groschen für die Briefmarke fehlt, um ein Bewerbungsschreiben loszulassen.«
Das war eine Bemerkung, die Pommerle tief ins Herz fiel. Wenn Onkel Arnulf gar nichts hatte, wenn sein Sohn Felix nicht einmal zwölf Pfennige besaß, um ein Bewerbungsschreiben absenden zu können, mußte große Not herrschen. Hier bei Benders kannte man keine Not. Pommerle bekam so manches Geldstück, das es sorglos ausgeben durfte. Neulich hatte sie sogar die große Summe von fünfzig Mark zur Verschönerung des Gartens erhalten. Der Felix hingegen war nicht in der Lage, ein Bewerbungsschreiben abzusenden. Ganz plötzlich sah Pommerle die Bemerkungen des Onkels in anderem Licht. Das war ein verzweifelter Vater, der für Frau und Sohn kämpfte, der voller Bitterkeit war, weil er gar nichts besaß. – Emilie sollte ihm heute rasch noch ein Schnitzel braten. Später mußte man dem armen Felix helfen, eine Stelle zu finden. Wenn es nur erst Sonnabend wäre, damit man endlich dem armen Onkel helfen konnte!
»Bitte, setzen Sie sich noch ein Weilchen nieder, ich habe zu tun, bin aber sogleich wieder hier.«
Pommerle huschte in die Küche und berichtete Emilie, daß Onkel Arnulf ein kümmerliches Leben führe. Man werde ihm rasch ein Schnitzel braten und eine Büchse Spargel aufmachen. »Soll ich rasch zum Fleischer laufen und ein Schnitzel holen?«
»Ja, Pommerle. Von Eiern und Salat wird er nicht satt werden.«
Pommerle eilte fort, ließ sich ein extragroßes Schnitzel klopfen, brachte es heim und ging wieder in die Laube zurück. – Onkel Arnulf war nicht mehr dort. Sie rief mehrmals seinen Namen, bis von drüben her eine Stimme ertönte:
»Der Herr ist vor wenigen Minuten fortgegangen.«
Das Essen wurde gerichtet, man wartete, – Onkel Arnulf kam nicht wieder.
»Na«, sagte Pommerle, »so müssen wir das Schnitzel und die Spargel aufessen. Ich hätte beides sehr gern dem Onkel gegeben.«
»Der futtert im Hotel auf Kosten des Herrn Professor.«
Pommerle sagte nichts dazu, es dachte nur sorgenvoll an teuren Sekt, den sich Onkel Arnulf wohl auch noch leistete. Aber schließlich war er doch ein mittelloser Mann, dem man eine Flasche Sekt gönnen durfte.