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Die aus der Schule strömenden Schüler hatten schon während der letzten Stunden durch die Fenster geschaut. In dicken Flocken fiel der Schnee. Nun gab es noch einmal, obwohl der März seinem Ende zu ging, Rodelbahn und Skilaufen, dazu die tollsten Schneeballschlachten. Besonders die Tertianerinnen stießen sich verstohlen unter der Bank an.
»Pommerle, wenn's so weiter schneit, können wir heute noch einen Skilauf riskieren!«
»Wird schlecht sein«, erwiderte die vierzehnjährige Schülerin mit dem frischen, ein wenig vollen Gesicht und den strahlenden Blauaugen. »Muß erst sacken!«
»Ach was, wir wachsen tüchtig!«
Der Schnee schien den Kindern Freude machen zu wollen, es schüttete geradezu vom Himmel herunter. So schneite es zwei volle Stunden. Als die Schülerinnen das Schulgebäude verließen, lag über dem ganzen Hirschberger Tal eine dicke Schneeschicht.
Nun stand man in kleinen Gruppen beisammen, um für den heutigen Nachmittag etwas zu verabreden. Bei einem Trupp von sechs Tertianerinnen ging es besonders lebhaft zu. Alles frische Jungmädel, mit langen blonden Zöpfen und hellen Augen.
»Ich kann leider heute nicht mit«, sagte die eine. »Ihr fünf seid schließlich auch genug. Wenn ihr wollt, borge ich einer anderen meine Schneeschuhe. Macht sie mir aber nicht kaputt!«
»Laß nur, Wanda«, erwiderte Ilse Torlege, »wir können auch zu fünft die Skifahrt unternehmen.« Die grauen Augen gingen hastig umher. »Ihr wißt doch, sechs frische Backfische ...«
»Erinnere uns nicht immerzu daran«, sagte eine dritte, »es ist ohnehin ein Skandal!«
Das pausbäckige Pommerle lachte hell auf. »Ist gar kein Skandal – nur ein Spaß! –«
»Nein, eine Verhöhnung, Pommerle.«
»Ach, laß doch die Jungen reden, sie wollen auch ihr Vergnügen haben. Wenn wir sechs immer beisammen sind, wenn wir alle in dem Gasthaus Fisch gegessen haben – – was ist denn da weiter dabei?«
Pommerle hatte kaum zu Ende gesprochen, als drei größere Schüler an der Mädchengruppe vorübergingen. Einer rief laut, indem er mit dem Finger auf die Tertianerinnen wies: »Sechs frische Backfische fressen frischen Fisch – frischen Fisch fressen sechs frische Backfische.«
»Da habt ihr's!« rief Ilse Torlege mit blitzenden Augen. »Diese Dreistigkeit! Dabei verheddert er sich mit der Zunge.«
Pommerle war die einzige, die zu den Worten lachte. Dann rief sie laut zu den Mitschülern hinüber: »Sechs frische Backfische fahren heute Ski – Ski fahren sechs frische Backfische!«
»Ich kann es nicht verstehen, Pommerle, daß du dich über den Spottvers nicht ärgerst. Ich könnte geradezu aus der Haut fahren!«
»Bleibe ruhig in deiner Haut, Karin, wir wollen lieber überlegen, wo wir uns heute nachmittag treffen.«
»Ich komme nicht mit. Wer meine Schneeschuhe haben will, kann sie sich holen!«
»Da wollen wir es der Gisela sagen. Sie hat keine Schneeschuhe, jedoch das größte Talent zum Laufen. Von der können wir alle noch was lernen. Ich finde, wir sind elende Krebser!«
»Erlaube mal, Pommerle, wir sind zwar noch lange keine Weltmeisterinnen, leisten aber schon allerlei! Wenn Gisela mitkommen will, holen wir sie ab.«
Pommerles Augen leuchteten. »Sie wird schon wollen! Sie freut sich immer, wenn wir sie mitnehmen.«
»Dann sind wir wieder sechs«, meinte Karin und zog die Stirn kraus.
»Freilich – dann sind wir wieder sechs frische Backfische, und das ist schön!«
»Ach, Pommerle, du bist gewöhnt, in der Öffentlichkeit zu stehen und von dir reden zu machen; du würdest kein Gliederschlottern haben, wenn etwas von dir in der Zeitung stünde. Das bist du von deinem berühmten Vater her gewöhnt. Jeder kennt den bekannten Geologen, den Professor Bender, der hier in Hirschberg mit seiner Familie ein hübsches Haus und einen noch viel hübscheren Garten hat.«
»Wenn mein Väterchen berühmt ist, bin ich es noch lange nicht! – Sage mir lieber, wann und wo wir uns treffen, denn ich muß heim.«
Rasch wurde alles verabredet. Pommerle erbot sich, Gisela Steiner zu benachrichtigen, damit auch sie an der heutigen Skitour teilnähme, dann wandte sie sich noch einmal um, ein Schelmenlachen um den roten Mund:
»Sechs frische Backfische fressen sich jetzt satt!« und eilte im schnellen Lauf der Wohnung der Eltern zu.
Unterwegs wurde mancher Schneeball auf Hanna Bender abgefeuert; je näher sie dem Elternhause kam, um so häufiger wurden die Geschosse. Alles waren Beweise ihrer großen Beliebtheit, denn das vierzehnjährige Mädchen mochte jeder gut leiden.
So war es immer gewesen. In Hirschberg war bekannt, daß Benders von einem Sommeraufenthalt in Neuendorf an der Ostsee einst das kleine Pommerle mitgebracht hatten, weil gerade in jener Zeit Pommerles Vater ertrank. Die Mutter hatte schon vorher die Erde verlassen, so blieb die kleine Waise allein zurück.
Pommerle war zum Sonnenschein der kinderlosen Benders geworden. Das kleine Fischermädchen entwickelte sich trefflich, wurde ein warmherziges Geschöpfchen, das mit größter Liebe an den Pflegeeltern hing. Mit Bewunderung schaute Pommerle zum Vater auf, der sich durch sein großes Wissen einen berühmten Namen gemacht und in der ganzen Welt geschätzt wurde. Pommerle kannte keinen Hochmut, war bescheiden, suchte überall Freuden zu spenden und Streitigkeiten zu schlichten. Sie fürchtete sich nicht, mittenhinein in einen Haufen streitender Knaben zu gehen und den Schwachen beizustehen. Sie hatte dadurch schon manchen blauen Fleck heimgebracht; aber alles das konnte ihr niemals die frohe Laune rauben.
Noch im Gedanken an vorhin lachte Pommerle über die Mitschülerinnen, die sich seit Wochen über den kleinen Spottvers ärgerten, den die Sekundaner aufgebracht hatten, als sechs Backfische einmal in einem Gasthaus zum Abendbrot gebratene Flundern aßen. Da war der Spottvers entstanden und wurde immer wiederholt, wenn sich zufällig sechs Backfische zusammenfanden.
»Backfisch! – Was ist eigentlich ein Backfisch? – Nun, ein gebackener Fisch. – Warum sollen wir, wenn wir vierzehn Jahre und sieben Wochen alt sind, Backfische sein? – Heute sagt man, wir sind Jungmädel! – Backfische werden wir trotzdem genannt. – Warum sind wir Backfische?«
Pommerles Blondkopf senkte sich tief. Noch immer grübelnd betrat sie den Garten, in dem die Villa der Eltern lag. Ihre Züge hellten sich noch mehr auf. Überall hatten sich bereits Frühlingsblumen gezeigt, nun waren sie wieder mit dickem Schnee bedeckt. Blumen waren Pommerles ganze Freude. Wenn sie im Garten arbeiten konnte, fühlte sie sich unsagbar glücklich.
»Ihr armen Frühlingskinder, nun hat man euch nochmals einen weißen Mantel umgelegt. – Ihr werdet an die Köpfchen frieren. – Aber lange wird der Schnee nicht liegenbleiben.«
Kaum war das Haus betreten, da schmetterte Pommerle eine Tonleiter heraus: »Meine Fanfare«, hatte sie diesen Gesang genannt, der den Eltern kündete, daß sie pünktlich eingetroffen sei; denn auf Pünktlichkeit hielt man im Benderschen Hause, wo allerwärts peinliche Ordnung herrschte.
»Mein Väterchen ist nach jeder Richtung hin etwas Besonderes«, sagte sie oft zu ihren Mitschülerinnen, »kein zerstreuter Professor. Er weiß alles ganz genau – – na, er weiß überhaupt alles.«
Da er alles wußte, wollte sie ihn heute über die Herkunft des Wortes »Backfisch« fragen. Vielleicht war das sogar etwas sehr Nettes und die Freundinnen brauchten sich nicht zu ärgern, wenn dieser oder jener Schüler rief: Sechs frische Backfische fressen frischen Fisch!
Eine Viertelstunde später saß man im Benderschen Hause um den runden Tisch und nahm das Mittagessen ein. Als nach der Suppe gebackener Fisch aufgetragen wurde, kicherte Pommerle vergnügt.
»Väterchen – ein frischer Backfisch frißt frischen Fisch, frischen Fisch frißt ein frischer Backfisch. – Kannst du das sechsmal nacheinander sagen, ohne mit der Zunge zu stolpern? – Bitte, versuche es einmal!«
Professor Bender, ein hochgewachsener schlanker Herr, Mitte der Fünfzig, schmunzelte. »Will es einmal versuchen, Pommerle. – Ein frischer Backfisch frißt frischen Fisch, frischen Frisch fischt ein – –«
»Falsch, Väterchen, schon beim erstenmal falsch! – Muttilein, bitte, versuche du es.«
Aber auch Frau Bender, die lachend den Wunsch des geliebten Töchterchens erfüllte, versprach sich beim zweiten Male, wonach Pommerle die Gelenkigkeit ihrer Zunge zeigte. Sechsmal nacheinander plapperte sie den Vers herunter, ohne auch nur einen Fehler zu machen. Dann berichtete sie von den Schulkameradinnen, die sich darüber ärgerten, daß die Mitschüler ihnen diesen Vers zuriefen und die Schar der Jungmädel als Backfische bezeichneten.
»Was ist Backfisch, Väterchen? Warum heißt ein Jungmädel mit vierzehn Jahren und sieben Wochen ein Backfisch? – Wer prägte das Wort?«
»Ja – –« Professor Bender zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, daß ich dir darüber eine erschöpfende Auskunft geben kann.«
»Ein so berühmter Mann, wie du, muß alles wissen. – Vätilein, gib mir eine Erklärung!«
»Nun, dir am nächsten liegt die folgende: Die Fischer werfen die kleinen Fische, die ihnen zum Verkauf ungeeignet scheinen, wieder über Backbord ins Wasser.«
»Ach, Väti, das hast du dir schnell selbst ausgedacht! – Die Fischer haben die kleinen Fische ganz gewiß auch über Steuerbord hinausgeworfen.«
»Nein, Pommerle, du irrst! Du weißt, alles was zur See fährt, ist abergläubisch. Steuerbord ist von jeher den Fischern und Schiffern als weniger glückliche Seite bekannt. Es wird daher meistens alles auf der Backbordseite erledigt. Da die Fische, die ins Meer zurückgeworfen wurden, sich weiter vermehren sollen, warf man sie auf der Glücksseite ins Wasser zurück. – So hat sich der Ausdruck ›Backfisch‹ entwickelt. Erst auf kleine Fische angewandt, im Laufe der Jahre dann auf junge, flügge werdende Mädchen.«
»Dann wären wir also etwas Gutes. – Seit wann besteht dieser Ausdruck? Hat Goethe schon von Backfischen gesprochen?«
»Goethe wohl nicht, aber seine Mutter, die ›Frau Rat‹, hat bereits in einem Briefe diesen Ausdruck erwähnt.«
»Gut, – bilden wir uns also ein, daß wir diesen Namen von Frau Rat Goethe haben.«
»Oder von einem berühmten Küchenchef, Pommerle«, fiel Frau Bender ein. »Er brachte auf die Tafel der Fürstlichkeiten einen ausgezeichnet schmeckenden kleinen Fisch, den er auf besondere Art zubereitete. Er konnte dafür nur kleine rundliche Fische brauchen. Der Backfisch des Koches Werner war in ganz Europa berühmt.«
»Ich bin durchaus befriedigt«, sagte Pommerle. »Ich werde mich in Zukunft also gern einen Backfisch nennen lassen. Auf jeden Fall ausgesuchte Ware, – Lieblinge der Frau Rat Goethe. – Und dann – es sind meine lieben Fischer, die den Namen geprägt haben. – Danke, ich bin vollauf befriedigt.«
Pommerle beschloß, sogleich heute nachmittag den Freundinnen die gleiche Erklärung zu geben, um in Zukunft das Spottgedicht mit Würde entgegennehmen zu können.
Dann wurde von der beabsichtigten Skifahrt gesprochen.
»Wanda Horgitt kann heute leider nicht mitkommen, so hole ich Gisela Steiner ab. Sie bekommt Wandas Schneeschuhe. Sie kann sich doch keine kaufen lassen. Dabei hat sie fabelhaftes Talent für jeden Sport. Aus der wird bestimmt einmal ganz etwas Großes! Sie müßte nur mehr Geld haben. – Ja ja, alles besitzen ist göttlich, – nichts besitzen ist schrecklich!«
»Pommerle, – Pommerle«, drohte Professor Bender, »verdrehst du wieder die schönsten Zitate?«
»Ach, Väterchen, wir müssen so viele Zitate lernen. Immer neue berühmte Leute kommen aus der Versenkung hervor, die etwas Großes schreiben. Da kann man nicht alles genau wissen. Du hast sicher auch manches gesagt, was als Zitat ausgewertet werden könnte. Es ist doch genug, wenn ich etwa hundert Zitate weiß. Das genügt für ein Leben.«
Zärtlich betrachtete Professor Bender sein Töchterchen. Immer wieder freute er sich an der frischen Art seines Pommerle. Das junge Mädchen wirkte noch heute wie frische Ostseeluft. Da war nichts angekränkeltes, nichts unehrliches; allein schon die Blauaugen spiegelten die ganze harmlose Seele dieses prächtigen Kindes wieder. Schwere Stunden hatte Pommerle den Eltern noch nie bereitet, auch Streiche, die sie unternahm, waren stets harmloser Natur. Niemals würde Pommerle dulden, daß einem Menschen absichtlich Schaden zugefügt werde.
Seit ihrer Anwesenheit in Hirschberg hatte sie einen Freund, – Jule Kretschmar. Ein einstmals fauler Schlingel, der aber Professor Bender so manchen wertvollen Stein, manche seltene Moosart aus dem Riesengebirge herangeholt hatte. Jule Kretschmar war in Hirschberg zu Meister Reichardt gekommen und hatte seine Prüfung als Tischlergeselle schließlich doch bestanden. Zur Zeit weilte Jule in Glogau beim Militär und schrieb manchen sehnsüchtigen Brief an seine einstige Gespielin und Freundin. Noch immer war er der etwas täppische, aber gutmütige Mensch, der innigsten Anteil an Pommerles noch so kleinen Erlebnissen nahm. Alle acht Tage kam von ihm ein Brief und ebenso regelmäßig antwortete Pommerle dem Freunde.
»Ich glaube kaum, daß ihr heute viel Freude am Skilaufen haben werdet«, sagte Professor Bender und schaute zum Fenster hinaus.
»Vätilein, es wird schon gehen, wir wachsen für nassen Schnee. – Kommst du vielleicht mit? Du kannst doch auch Ski laufen?«
»Freilich kann ich! – Welch guter Hirschberger sollte das nicht können?«
»In meinem Ski-Lehrbuch steht, daß jeder Mensch zwischen sechs und sechzig diesen schönen Sport betreiben sollte. – Vätilein, vernachlässige ihn nicht! Ich fühle es an mir, daß man dadurch jung und elastisch bleibt.«
»Na ja«, gab Bender trocken zurück, »mit vierzehn und einem halben Jahre muß man unbedingt dafür sorgen, daß man jung und elastisch bleibt. Doch für heute will ich sechs frische Backfische allein skilaufen lassen. Ich bin nämlich nach wie vor der Meinung, daß es nicht gut gehen wird. – Pommerle, Pommerle, zerbrich nicht wieder den Schneeschuh!«
»Das war im Dezember mein persönliches Pech, Väterchen. Inzwischen habe ich manches hinzugelernt. Ich glaube, es kann heute nicht mehr geschehen, daß mir der Ski zerbricht.«
»Das kann sogar der Weltmeisterin zustoßen!«
»Nein, nein, Vätilein, ich bringe meine Schneeschuhe wieder heil zurück!«
Am Nachmittag eilte Pommerle sogleich zu Gisela Steiner. Das junge Mädchen gehörte nicht zur Tertia, es hatte die Volksschule vor wenigen Tagen verlassen. Der Vater Giselas war seit mehreren Jahren tot, die Mutter betrieb ein kleines Geschäft am Ort, das nur den bescheidenen Lebensunterhalt der Familie abwarf. Trotzdem war Gisela sehr beliebt. Man holte das junge Mädchen öfters zu Veranstaltungen heran, und besonders Pommerle sorgte dafür, daß nach Möglichkeit alle Bekannten zu den Kunden der braven Frau Steiner zählten. Geradezu überraschend war Giselas Begabung für jede Art Sport. Obwohl sie keine eigenen Schneeschuhe besaß, nur hin und wieder auf geliehenen Skiern fuhr, leistete sie weitaus das beste. Man holte Gisela daher gern ab, um von ihrem Können zu lernen.
Gisela Steiner war hocherfreut, daß sie mit den fünf Kameradinnen skilaufen gehen durfte. Sie hatte allerdings gleichfalls Bedenken, daß der Schnee nicht gut sein werde, doch das Verlangen, draußen umhersausen zu dürfen, überwog alles andere. Wanda Horgitt händigte Gisela ihre Schneeschuhe aus, mit der Mahnung, recht vorsichtig zu sein.
»Ich sorge dafür«, sagte Pommerle, »es geschieht ihnen nichts. Ich weiß ja, daß du sehr gute Schneeschuhe hast. Meine Eltern haben mir genau dieselben gekauft. Erstklassig! Außerdem kann Gisela gut laufen.«
Nun ging es im Hirschberger Tal entlang, hinauf zu den ersten Hügeln. Die Laune der sechs jungen Mädchen war eine glänzende, immer fröhlicher ertönte ihr Lachen, Späße aller Art wurden gemacht. Dann ging es mit Feuereifer an die sportliche Betätigung. Gern fügten sich alle den Anordnungen Giselas. In großen Schwüngen sauste man die steilen Hänge hinunter und nur selten geschah es, daß eine in den Schnee fiel. Nahm aber eine der Läuferinnen solch ein Schneebad, so erklang helles Lachen und mit Begeisterung wurde die verspätet nachkommende Gefährtin von zehn Händen abgeklopft.
»Wollen wir es einmal dort drüben versuchen, zwischen den Bäumen hindurch?« schlug die übermütige Karin Rauke vor. »Einen Torlauf! Kinder, prickelt es euch nicht in den Gliedern?«
»Das können wir heute nicht wagen«, sagte Gisela, »dafür ist zu wenig Schnee, die Stümpfe der gefällten Bäume ragen noch hervor.«
»Nicht wagen? – Sind wir Feiglinge? – Dem Mutigen gehört die Welt! Ich will es euch einmal zeigen, wie man es macht. – Wer kommt mit mir?«
»Wir wollen eine bessere Stelle suchen, Karin.«
»Nein, wir machen hier durch die Stämme einen Torlauf! Welch süße Befriedigung wird uns erfüllen, wenn wir es schaffen! – Ich mache den Anfang! Das ist wie ein Slalom!«
»Riskant«, sagte Pommerle. »Gisela weiß am besten, was wir können.«
»Wenn ihr eben Feiglinge seid«, meinte Karin, »versuche ich es allein. – Paßt auf, wie glatt alles geht!«
Die Abfahrt glückte Karin. Mitunter sah es freilich gefährlich aus, wenn sie ganz dicht an den Stämmen vorbeisauste. Doch nun stand sie mit lachenden Augen unten und winkte mit den Stöcken den Kameradinnen zu. »Nun, ihr Bangebüchsen!«
»Ich würde es nicht raten«, sagte Gisela nochmals.
»Man könnte es einmal versuchen.« Es war Elfriede Bauer, die im Skilaufen recht Gutes leistete. Sie war die zweite, die glücklich unten ankam. Eine dritte, eine vierte folgte, nur Pommerle und Gisela standen noch oben am Hang. Unwillige Rufe tönten zu ihnen empor. Da warf Pommerle den Kopf in den Nacken.
»Wir sind keine Feiglinge. – Also los, Gisela, wir wagen es. Du brauchst keine Sorge zu haben. Wenn die anderen gut herunterkamen, kannst du es erst gar.«
»Ich muß daran denken, daß ich Wandas Schneeschuhe habe.«
»Das macht nichts, – komm, Gisela!«
Da sauste Pommerle auch schon davon. Mit lauten Jubelrufen wurde sie unten empfangen. Kurz darauf folgte Gisela. Aber war die Strecke schon zu sehr ausgefahren oder hatte sie das Rufen der Kameradinnen verwirrt, kurzum, beim Reißen eines scharfen Bogens stieß sie mit dem Ski gegen einen Baumstumpf, der Ski zerbrach und Gisela stürzte. Es war als Glück anzusehen, daß sie selbst nicht zu Schaden kam.
Hell lachten die anderen. Sie sahen nur ihre Lehrmeisterin, die als einzige den gefährlichen Lauf nicht bewältigt hatte. Niemand dachte daran, daß Gisela starr vor Schreck auf den zerbrochenen Schneeschuh schaute, auf geliehenes Gut, das zu ersetzen sie nicht in der Lage war.
»Komm doch herunter«, tönte es von unten her.
»Hast du dir etwas getan?« rief Pommerle, denn Gisela erhob sich noch immer nicht. Schon hatte sie ihre Schneeschuhe abgeschnallt, um Gisela entgegenzugehen, doch da erhob die sich und hielt den zerbrochenen Schneeschuh empor.
»Unsere Beste hat den Schneeschuh zerbrochen«, lachte Karin. »Bist eine feine Lehrmeisterin!«
»Es ist Wandas Ski«, murmelte Gisela. Sie war blaß geworden und blickte Pommerle entsetzt an. Am liebsten hätte sie geweint.
Auch Pommerle schwieg betreten. Wanda hatte bei der Übergabe der Schneeschuhe gesagt, man möge sie ihr heil zurückgeben. Pommerle hatte sie beruhigt, später aber Gisela, die durchaus die Abfahrt nicht unternehmen wollte, zu der gefährlichen Strecke überredet. – Und nun?
»Ist doch nicht schlimm«, rief Ilse Torlege, »ein Ski läßt sich flicken. Es kostet nicht viel!«
Doch das war für Gisela kein Trost. Wie konnte sie Wanda Horgitt einen geflickten Ski zurückgeben? Mit geliehenem Eigentum mußte man besonders sorgsam umgehen. Niemals hätte sie mit fremden Schneeschuhen diesen gefährlichen Lauf wagen dürfen. – Nun hatte sie die Strafe erhalten.
»Gisela, sei nicht traurig«, tröstete Pommerle, »ich will es Wanda sagen.«
Gisela konnte ihre innere Erregung nicht länger meistern. Die Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Wollt ihr dort oben anfrieren?« klang es von unten her. »Wir wollen doch weiter!«
»Geht nur«, rief Pommerle, »ich kehre mit Gisela um.«
»Ach, komm doch, Pommerle!«
»Nein, ich gehe mit Gisela heim.«
Die Freundinnen versuchten noch mehrmals Pommerle zum Weiterlaufen zu bewegen, aber Pommerle blieb bei Gisela, drückte ihre Hand und sprach tröstende Worte. Aber Gisela hörte sie kaum. Sie schluchzte mehrfach auf.
»Ich kann ihr doch keine neuen Schneeschuhe kaufen, ich kann sie nur flicken lassen.«
Pommerle suchte nach einem neuen Trost. »Mit einem geflickten soll es mitunter viel besser gehen, als mit einem heilen.«
»Ach nein! – Was wird Wanda sagen? – Was beginne ich nur?«
Drei Schneeschuhe lagen nebeneinander auf dem Waldboden, die Stücke des vierten hielt Wanda in Händen. Pommerle, der das Herz schon wieder weh tat, wegen des vielen Leides das Gisela trug, grübelte angestrengt nach einem Auswege. Die Mutter hatte zwar gesagt, eine Lüge sei etwas sehr häßliches, trotzdem kannte Pommerle eine Begebenheit aus der Mutter Munde, bei der eine fromme Lüge dem anderen viel Leid ersparte.
»Ich glaube wohl, eine fromme Lüge kann mir niemand übelnehmen.« Das ging Pommerle durch den Sinn. Ihre Schneeschuhe und diejenigen Wandas waren aus demselben Geschäft, hatten denselben Preis gekostet, waren zum Verwechseln ähnlich. Pommerle griff nach Wandas zweitem Ski.
»Gisela, sieh her, das ist ja überhaupt mein Ski! Wir haben sie wohl verwechselt. – Weißt du, wir hatten sie doch, als wir uns die Handschuhe anzogen, hingeworfen. Nun habe ich Wandas Schneeschuhe gegriffen und du bist auf meinen gefahren. Sieh her, das ist mein Schneeschuh!«
Gisela konnte zwar keinen Unterschied feststellen, aber Pommerle behauptete mit aller Energie: »Ich kenne meine Schneeschuhe genau. – Wie komisch, daß wir sie verwechselten.«
»So habe ich deinen Schneeschuh zerbrochen – –«
»Ja, doch das ist nicht schlimm. Ich laufe auf einem geflickten Schneeschuh furchtbar gern.«
»Du hast doch neue bekommen, als dir im Dezember einer zerbrach.«
»Der war nicht mehr zu flicken, der ist der Länge nach gespalten. Aber der hier? – 'ne Kleinigkeit! Gisela, ich habe gelesen, daß einer mal mit einem geflickten Schneeschuh einen Preis gewann. – Na, wenn das meine Schneeschuhe sind, brauchst du keine Träne zu vergießen.«
»Dann habe ich deinen Ski zerbrochen.«
Pommerle wurde immer heiterer. Der Gedanke, daß sie die größte Last von Giselas Seele genommen hatte, beglückte sie. Und wirklich, Gisela trocknete die Tränen und ließ sich durch Pommerle beruhigen. So wurden die tadellosen Skier bei Wanda wieder abgegeben und Pommerle kehrte mit den Stücken ins Elternhaus zurück.
Professor Bender, der am Fenster stand, sah seine Tochter kommen. Er beobachtete sie und sah, wie Pommerle die Stücke nachdenklich zusammenhielt. Dabei zeigte ihr Gesicht ein zufriedenes Aussehen. Bender trat hinaus in den Flur. Seine Miene wurde ein wenig strenger. Es war nicht der zerbrochene Schneeschuh, der ließ sich mit geringen Kosten wiederherstellen, es war der Übermut Pommerles, der ihm zu denken gab. Gar nicht schuldbewußt blickte die kleine Sünderin drein.
»Schon wieder zerbrochen«, sagte er ernst.
»Väterchen, jetzt befinde ich mich in einer kritischen Lage.«
»Das sehe ich, denn ich glaube, Pommerle, du wirst so schnell keine neuen Schneeschuhe mehr bekommen.«
»Vätilein, man soll sich nicht rühmen, wenn man eine gute Tat vollbracht hat.«
»Hältst du es für eine gute Tat, wenn du die Skier zerbrichst?«
»Ich sagte dir schon, Vätilein, ich befinde mich in einer kritischen Lage, denn die linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut. Mein liebes Vätilein steht vor mir und zürnt, – aber, er hat diesmal unrecht.«
»Es ist sonst nicht deine Art, Pommerle, dein begangenes Unrecht zu beschönigen. Du hast die Schneeschuhe zerbrochen, bist wahrscheinlich auf unmöglichem Gelände gelaufen oder hast dem Übermut die Zügel schießen lassen. Meintest vielleicht, der Vater wird gleich wieder in den Sack greifen und neue Schneeschuhe kaufen?«
»Es bleibt mir also nichts anderes übrig, Vätilein, ich muß dir alles erzählen.«
»Aber, bitte, ohne jede Beschönigung. Du weißt, das kann ich nicht leiden.«
Pommerles blaue Augen wurden ernst. »Das mache ich nie, Väterchen. So kennst du mich doch! Habe ich was verbockt, sage ich es kurz heraus. Ganz ohne Schuld bin ich heute auch nicht, denn ich habe Gisela zugeredet, den Slalom zu laufen. Doch ich will dir erzählen, wie alles kam; dann magst du sagen, was falsch war und wie ich es hätte anders machen sollen. Aber, wenn ich fertig erzählt habe, Vätilein, denke an das Wort, das du mir einmal sagtest: Wer Tränen trocknen kann, soll sich keine Sekunde überlegen, es zu tun. – So ist es gewesen, Vätilein.«
Pommerle hatte die Schneeschuhe in den Flur gestellt und betrat des Vaters Arbeitszimmer. Dort erzählte sie alles. Nichts wurde verschwiegen.
»Geschwindelt habe ich, Väti, doch du hättest den Jammer der armen Gisela sehen sollen. Jetzt ist sie wieder ruhiger. Ich habe ihr vorgeredet, ich laufe gern auf geflickten Schneeschuhen.«
»Der Wunsch soll dir erfüllt werden«, sagte Bender trocken. Am liebsten hätte er sein Pommerle ans Herz genommen, doch hielt er es für richtiger, ihr nur einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter zu geben.
Pommerle hingegen kannte den Vater viel zu genau, um nicht zu wissen, daß er ihr nicht zürnte. Laut schmetterte sie die Tonleiter heraus, dann plapperte sie fröhlich wohl zehnmal hintereinander:
»Sechs frische Backfische fressen frischen Fisch, frischen Fisch fressen sechs frische Backfische.«