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Das reizendste Mädchen!

Pommerle war von der herrlichen Reise ins Elternhaus zurückgekehrt und konnte nicht genug davon erzählen. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag, der noch in die Ferien fiel, hatten ihr Olferts ein wunderschönes Buch gesandt, mit zahlreichen Abbildungen von herrlichen Gartenanlagen und Parks. Auch der Schwetzinger Park war darunter, und wieder zeigte Pommerle den Eltern, wo sie gegangen, was sie gesehen habe.

»Es war vielleicht mein schrecklichstes Erlebnis, als ich auf der falschen Bank saß und nach dem rechten Ausgang suchte. Ich habe Olferts oft genug gesagt, daß diese Augenblicke für mich unvergeßlich bleiben und niemals von meiner Seele weichen werden.«

»So glaube ich, daß die Widmung, die dir Direktor Olfert in das Buch schrieb, auf diese Äußerung Bezug nimmt.«

»Das Gedicht ist so schön, Mütterchen, daß ich es auswendig lernen und später, wenn ich einmal Gärtnerin bin, immer vor mich hin sagen werde, denn dadurch erleichtere ich mir das Leben.«

Noch am Abend lernte Pommerle die Widmung des schönen Buches auswendig:

»Wer immer nur mit Menschen lebt und handelt,
Mit ihnen denkt, mit ihnen rechnet oder richtet,
Dem ist der kleinste Augenblick so schwer gewichtet,
Als ob in der Minute sich das Weltgeschehen wandelt,
Wo er der Menschen Streit und Händel schlichtet.

Doch, wer mit Bäumen und mit Blumen lebt,
Der sieht die Welt in großem Lebensringen,
Er weiß, wie sich das Jahr aus den Gezeiten webt,
Ihm wird der kleinste Augenblick bedeutungslos und nichtig,
Gesetze Gottes sieht er hinter allen Dingen.«

»Ich werde später auch mit Bäumen und Blumen leben, werde mich in das Werden und Vergehen der Natur versenken, werde an der Natur und an ihrer Kraft das messen, was der Mensch ist und was er sich einbildet zu sein. Das besagt das Gedicht.«

Nicht nur Benders hörten den begeisterten Erzählungen ihrer Tochter gern zu, von allen Seiten wurden Fragen an Pommerle gerichtet, die sie nur zu gerne beantwortete. Seit ihr klargeworden war, daß sie den Beruf einer Gärtnerin wählen würde, strömte eine ganz besondere Naturliebe aus dem jungen Mädchen hervor, und gerade das machte Pommerle so liebenswert.

Bei einer Veranstaltung sagte der Bürgermeister von Hirschberg, daß Pommerle, die Tochter des berühmten Gelehrten Bender, das reizendste Mädchen wäre, das er jemals kennengelernt habe. Gerade weil Pommerle so bescheiden und ehrlich sei, weil sie mit so inniger Liebe an den Eltern hinge, mit so großer Dankbarkeit die kleinen Freuden des Lebens genieße, könne ihr niemand herzliche Zuneigung versagen. Gewiß, man sah in Hirschberg manches junge Mädchen, das äußerlich hübscher war als Pommerle, aber nur wenige hatten den sonnigen Ausdruck, den Pommerles Gesicht zeigte. So fanden die Worte des Stadtoberhauptes allgemeine Anerkennung. Selbstverständlich pflanzte sich seine Äußerung sehr rasch fort, und alle, die Pommerle bisher wenig Aufmerksamkeit gezollt hatten, schauten das junge Mädchen genauer an, um ebenfalls zu der Erkenntnis zu kommen, daß der Bürgermeister nicht zuviel gesagt hätte.

Professor Bender wehrte ab. »Ich möchte nicht, daß meine Tochter über solches Lob eingebildet wird. Sie ist tatsächlich ein prächtiges Mädchen, aber allzuviel Lob ist manchem jungen Menschen nicht dienlich.«

Pommerle erfuhr schon wenige Tage später davon. Einer der Mitschüler, der längst heimlich für Pommerle schwärmte, sagte bei der nächsten Begegnung: »Unser Bürgermeister meinte neulich, du seiest das reizendste Mädchen von ganz Hirschberg.«

Die Worte machten auf Pommerle keinen Eindruck. Anfangs überhörte sie die Bemerkung gänzlich, als aber Albert dies Lob mehrfach wiederholte, meinte sie ärgerlich:

»Laß mich damit in Ruhe, erzähle mir lieber was Vernünftiges!«

»Das reizende Mädchen« ließ aber die Schüler der höheren Klassen nicht mehr los. Für sie gewann Pommerle plötzlich an Bedeutung. In der Schule, die wieder begonnen hatte, beobachteten sie das junge Mädchen genauer und fanden, daß der Bürgermeister recht habe.

»Sie scheint auch die Klügste zu sein«, sagte ein anderer. »Sie war die einzige, die sich über die sechs fischfressenden Backfische nicht ärgerte, sondern dazu lachte.«

Pommerle ging unbekümmert ihren Weg; sie ahnte ja nicht, wie genau sie in letzter Zeit beobachtet wurde. Nur fiel ihr auf, daß sich der lange Anton öfters heranmachte und sein Herbarium zeigte, mit den vielen gepreßten Blumen, die er im Sommer aus Italien mitgebracht hatte.

»In meinem Herbarium sind Blumen aus der Schweiz«, sagte Pommerle, »aus Italien habe ich keine.«

»So will ich dir diese schenken.«

»Dann hast du ja keine.«

»Dir schenke ich sie gern, Pommerle, denn du bist ein reizendes Mädchen.«

»Was willst du dafür haben?«

»Nun – – könnten wir nicht an einem Nachmittag zusammen spazierengehen?«

»Freilich, das könnten wir machen.«

»Wann, Pommerle? Morgen?«

»Nein, Anton, morgen habe ich keine Zeit, – aber am Sonntag, vormittags um neun Uhr. Du kommst mich abholen, dann gehen wir zusammen ein Stück Weges ins Hirschberger Tal.«

Anton drückte seiner Begleiterin stürmisch die Hand und erzählte seinem Freunde Martin im Vertrauen, daß er am Sonntag mit Pommerle einen Spaziergang unternehmen werde. Aber Martin konnte seinen Mund nicht halten, und bald war es in den oberen Klassen bekannt, daß der lange Anton durch seine italienischen Blumen die Gunst Pommerles gewonnen habe.

Am Freitag brachte Max Kabel Pommerle ebenfalls eine gepreßte seltene Blume mit, die er ihr zum Geschenk anbot. Als Pommerle wieder fragte, welche Gegenleistung er verlange, sagte Max: »Nun, ein Spaziergang wäre mir sehr angenehm.«

»Das trifft sich fein, Max! Wollen wir am Sonntag um neun Uhr durchs Hirschberger Tal wandern?«

Max, der keine Ahnung hatte, daß der lange Anton zur gleichen Stunde bestellt war, zeigte sich überglücklich.

»Ich komme die Greifenberger Straße herunter, dort wohnst du. Kurz nach neun gehe ich an eurem Hause vorüber, dann pfeife ich.«

Als Pommerle die Schule verließ, gesellte sich auf dem Heimwege der Primaner Manfred zu ihr. »Ich habe den gleichen Weg wie du und wollte dich einmal fragen, ob du zum Herbst für deinen Garten Blumenzwiebeln brauchen kannst. Wir haben so viele, und ich möchte dir gern etwas schenken.«

Pommerle strahlte. Als Gegenleistung versprach sie Manfred am Sonntag einen Spaziergang, doch lehnte er das Treffen in den Straßen Hirschbergs ab und fragte, ob er Pommerle am Hausberg erwarten dürfe.

»Das paßt herrlich! – Am Sonntag gegen ein viertel zehn Uhr bin ich zur Stelle.«

Am Sonnabend meldeten sich noch zwei Sekundaner. Ludwig kam mit einer wundervollen Rose, und Georg brachte ein wunderschön gepreßtes Blatt. Daß er es bei dem langen Anton für seinen Zirkel »eingetauscht« hatte, sagte er freilich nicht.

Auch diese beiden Schulkameraden wurden von Pommerle zum Spazierengehen eingeladen. Auf dem Hausberge wollte man sich treffen.

Jeder der fünf Schüler hütete sein Geheimnis ängstlich, jeder wartete voller Freude auf den Sonntag, der ihm die Gelegenheit brachte, ganz allein, zwei Stunden lang, mit dem reizendsten Mädchen Hirschbergs spazierengehen zu dürfen.

Pommerle berichtete daheim ahnungslos von den Verabredungen. »Soll ich es nun meinen Freundinnen sagen? Es ist doch langweilig, wenn ich mit fünf großen Jungen herumlaufe. Sie dürften sich sehr freuen, wenn Ilse, Wanda, Karin, Elfriede und Monika auftauchten. Meinst du nicht auch, Väterli, daß das für alle eine Sonntagsfreude wäre?«

»Vielleicht wollen die fünf Jünglinge mit dir allein spazierengehen, Pommerle?«

»Uff, – Väterli, das wäre langweilig! Ich laufe ganz fix zu meinen Freundinnen. Damit es aber eine Überraschung wird, müssen sie sich auf dem Wege zum Hausberg verstecken, und auf einmal kommen sie alle hervor!«

Der Professor lachte in sich hinein. Die fünf Schüler würden sicherlich gar nicht erfreut sein, wenn plötzlich sechs frische Backfische vor ihnen standen. Er ließ seine Tochter jedoch ruhig gewähren und freute sich ihrer Natürlichkeit.

Die Freundinnen waren gern bereit. Wanda war glücklich, einen Spaziergang mit Manfred zu machen, Ilse schwärmte längst für Max, Monika hatte nur Augen für Georg, und Elfriede erklärte, sie wollte längst einmal mit Ludwig abrechnen.

Der lange Anton stellte sich pünktlich um neun Uhr mit Blumen im Benderschen Hause ein. Er reckte sich noch höher, als er mit Pommerle die Villa verließ. Oh, sie sollten ihn alle sehen! Er hatte das Rennen gemacht, er durfte bis Mittag mit dem reizendsten Mädchen der Stadt allein spazierengehen. Hunderte von schönen Redensarten gingen ihm durch den Kopf, alle würde er seiner Begleiterin heute noch sagen. Von Italien würde er erzählen und in Pommerle eine aufmerksame Zuhörerin finden.

Kaum bog man jedoch um die erste Straßenecke, als vor einem Hause Max stand, eine rote Rose in der Hand. Sein Gesicht wurde lang, als er die beiden daherkommen sah, doch hoffte er, den langen Anton bald aus dem Felde schlagen zu können, der sicherlich nur zufällig Pommerle getroffen hatte.

Die Begrüßung machte beide stutzig, doch ehe sie sich von ihrem Ärger erholt hatten, gesellte sich Manfred als dritter hinzu. – Das Sticheln begann und ging hin und her, denn jeder wollte den anderen vergraulen.

»Es geht doch nicht«, sagte Anton, »daß eine junge Dame mit drei Kavalieren spazierengeht. Nur ein Herr und eine Dame gehören zusammen. – Meinst du das nicht auch, Pommerle?«

»Ja, Anton, das meine ich auch«, erwiderte Pommerle. Ihre blauen Augen glitten hin zum Hausberg; es konnte nicht mehr lange dauern, so waren die fünf anderen jungen Mädchen zur Stelle.

»So mag das Los entscheiden«, sagte Max und fetzte aus seinem Taschenbuch einige Seiten.

Pommerle beschleunigte ihren Schritt; immer höher stieg man den Hausberg empor. – Da brachen mit lautem Rufen die fünf Freundinnen hervor.

»Was soll das?« brummte Anton ärgerlich.

»Für jeden Herrn eine Dame«, sagte Pommerle lachend, »es geht doch nicht, daß ich mit euch allein herumlaufe. Jetzt gibt es einen lustigen Spaziergang für uns alle.«

Als man auf dem Hausberg ankam und sich noch Ludwig und Georg, die sich unterwegs schon heftig befehdet hatten, zu den anderen gesellten, klatschte Pommerle vergnügt in die Hände.

»Jetzt sind wir alle beisammen, es wird ein herrlicher Ausflug sein!«

Das junge Mädchen irrte sich. Jeder Schüler wollte an Pommerles Seite bleiben, es fielen scharfe Worte, boshafte Äußerungen flogen hin und her, und vergeblich versuchte Pommerle den Streit zu schlichten. Und da ohnehin ein junges Mädchen zuviel war, dünkte es Pommerle am richtigsten, daß sie sich bei passender Gelegenheit drückte und die Zankenden allein weitergehen ließ.

»Ich merke es, ich bin der Zankapfel, ich werde mich daher beseitigen!« Und wirklich gelang es dem immer fröhlichen Backfisch, ganz heimlich davonzulaufen. Wohl hörte Pommerle ihren Namen rufen, kauerte jedoch regungslos hinter einem Tannenbaum und wartete dort, bis sich die Stimmen der Rufenden mehr und mehr entfernten.

»Jetzt werden sie sich vertragen! Wanda und Ilse haben sich so sehr auf heute gefreut. Ich hätte nur gestört. Ich werde lieber heute vormittag mit meinen Blumen leben und die anderen spazierengehen lassen.«

So verbrachte Pommerle bei Sonnenschein und Vogelsang einen wundervollen Sonntagvormittag und kehrte befriedigt ins Elternhaus zurück.

»Pommerle, Pommerle, hast du nicht Angst, daß dir die gefoppten Jungen einen Schabernack spielen?«

»O nein, sie sind sicher alle froh gewesen, daß sie einen netten Spaziergang machten.«

»Pommerle, Pommerle, ich kenne die Jungen besser! Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, so haben wir uns dergleichen Neckereien nicht gefallen lassen. Du darfst daher nicht ungehalten sein, wenn du in nächster Zeit geärgert wirst.«

Pommerle schüttelte den blonden Kopf. »Väterli, es wird mich niemand ärgern. Wir vertragen uns alle sehr gut. Paß auf, morgen werden sie mir sagen, daß es sehr schön gewesen ist.« –

Am nächsten Morgen erzählten Wanda, Ilse, Karin und Elfriede allerdings, daß es ein herrlicher Gedanke gewesen sei, man habe viel Spaß gehabt. In der Pause wartete Pommerle auf die großen Schüler, um auch von ihnen zu hören, daß ihnen der gestrige Spaziergang gefallen habe. Aber keiner näherte sich ihr. Pommerle glaubte sogar aus Antons und Manfreds Augen bitterböse Blicke aufzufangen, die nichts Gutes verhießen. Doch sie lachte die Kameraden freundlich an, winkte ihnen sogar fröhlich zu und glaubte damit die Angelegenheit erledigt.

»Pommerle«, flüsterte Elfriede auf dem Heimwege, »die Jungen wollen Rache an dir nehmen!«

Silberhell lachte die Angeredete auf: »Oh, das macht Spaß! – Was wollen sie tun?«

»Das weiß ich nicht. Sie haben es geschworen.«

Freudestrahlend berichtete Pommerle daheim, daß die Schulgefährten Rache an ihr nehmen wollten.

»Väterli, was habt ihr gemacht, wenn euch ein Mädel an der Nase herumführte?«

»Ja, Kleines, das ergibt die Stunde. Sei gut auf der Hut und lasse dich nicht zu rasch hereinlegen.«

Am anderen Schultage, als Pommerle auf der Lauer lag, um die Rache abzufangen, wunderte sie sich sehr, als Anton freundlich lächelnd zu ihr kam und ihr wieder eine gepreßte Blume brachte. In der Pause stellten sich nach und nach auch die anderen ein.

Mißtrauisch blickte Pommerle von einem zum anderen. Sie wartete auf die Rache, die noch immer nicht kam. Im Gegenteil, die fünf waren so nett wie noch nie zuvor.

»Du bist und bleibst das reizendste Mädel von ganz Hirschberg«, sagte Anton, »und wenn du uns auch am Sonntag überrumpelt hast, war das doch ein netter Spaß. Zum Dank dafür bekommst du heute von mir diese Blume. Ich bitte mir jedoch eine Gegenleistung aus, Pommerle.«

»Du bist ein guter Mensch, Anton. Ich fürchtete schon, ihr würdet Rache an mir nehmen.«

Aus Manfreds Augen brach ein Strahl triumphierender Freude. Seine Blicke kreuzten sich mit denen der vier Klassenkameraden.

»Würdest du mir eine Locke schenken, Pommerle? Du hast so herrliches Blondhaar. Ich möchte die Locke in mein Herbarium kleben.«

Pommerle holte den langen Zopf, der ihm über den Rücken hing, nach vorn und sagte: »Ich habe keine Locken, Anton, ich habe ganz gerade Haare.«

»Vom Zöpfchen – ein Stückchen«, sagte er. Der Ton seiner Stimme klang höhnisch. »Nur ein kleines Stückchen, als Gegengabe für die Blumen und zum Andenken an den schönen Sonntagvormittag.« Schon hielt Anton eine kleine Schere in der Rechten. Pommerle wollte ihm die Schere abnehmen, um selbst aus dem Zopfende ein Büschel Haare zu schneiden, doch Anton wehrte ab.

»Das Geschenk hat mehr Wert, wenn ich mir selbst die Locke nehme.«

»Sind doch keine Locken«, widersprach Pommerle.

»Was dem Anton recht ist, ist dem Max billig«, sagte der Zweite, indem er Pommerles blonden Zopf nach rückwärts holte.

»Ich bin bis zum Hausberg gelaufen«, erklärte Ludwig, »ich habe daher auch ein Anrecht auf einige Härchen.«

»Und ich bitte um das blaue Zopfband. – Darf ich es lösen?« sagte Georg.

Schon merkte Pommerle, wie er den Zopf zu lösen begann, um das eingeflochtene Band herauszunehmen. – Währenddessen sprachen die Schüler eifrig auf Pommerle ein; einer nach dem anderen trat von rückwärts an Pommerle heran, – einer nach dem anderen entfernte sich lachend, und als Anton, als letzter, sich an Pommerles Haaren zu schaffen machte, sagte sie hastig:

»Ich glaube, ihr schneidet euch zuviel ab. Soviel Haare kann ich euretwegen nicht lassen.«

Aus der Entfernung hatten andere Mitschüler das verabredete Experiment beobachtet und kicherten vergnügt. Als Pommerle, von banger Ahnung erfaßt, den Zopf nach vorn holte, mußte sie erkennen, daß man eine der Strähnen fast bis zum Halswirbel gekürzt hatte und es unmöglich war, einen regelrechten neuen Zopf zu flechten.

»Das ist eine Gemeinheit!« rief Pommerle.

Ein höhnisches Lachen war die Antwort.

»Es ist auch eine Gemeinheit«, rief Anton, »Primaner anzuführen!«

Wanda kam herbei. »Pommerle, wie siehst du jetzt aus? Auf der einen Seite hast du fast einen Bubikopf, die andere Hälfte hängt lang herunter. – Wenn du das dem Direktor sagst, kriegen die fünf was aus der Kriegskasse. – Komm, wir gehen sogleich zu ihm!«

Pommerle schluckte einigemale krampfhaft. Sie sah ein, daß sie in Zukunft mit derart gestutzten Haaren nicht herumlaufen konnte. Es war gewiß eine große Ungezogenheit von den fünf Schülern, aber zum Direktor ging sie deswegen ganz bestimmt nicht.

»Nein, ich petze nicht«, klang es zornig, »jetzt werde ich auf Rache sinnen. – Das lasse ich mir nicht so leicht gefallen!«

In der Klasse angekommen, mußte Pommerle manches Gelächter über sich ergehen lassen.

»Pommerle«, flüsterte Karin, »wenn jetzt der Studienrat hereinkommt und dich sieht, gibt es ein Verhör. Dann bekommt der arme Max Strafe und – ich liebe den Max! – Pommerle, was machen wir nur? Wirst du schweigen, wenn er dich fragt?«

»Was soll ich denn sagen, wenn er fragt?«

Karin zog hastig die Haarnadeln aus dem Haarknoten. »Ich mache dir rasch einen Knoten, dann sieht man es nicht, und mir mache ich einen Zopf. Bitte, halte ganz still, denke an meinen lieben Max!«

»An deinen lieben Max werde ich nicht denken!«

»Pommerle, ich bin sehr unglücklich!« Schon nestelte Karin an Pommerles Haar. »Du bist meine Freundin, ich flehe dich an, erweise mir diesen ersten und letzten Liebesdienst!«

Als der Studienrat in die Klasse kam, saß an Pommerles Hinterkopf ein Haarknoten.

»Rache schwöre ich dem Max trotzdem!« flüsterte Pommerle. – Dann begann der Unterricht.

Mit dem blonden Haarknoten kam Pommerle heim. »Mütterchen, sie haben sich gerächt! – Sieh nur!«

Frau Bender war auf das höchste darüber verärgert, wie man ihre Tochter zugerichtet hatte. Das war ein Scherz, der etwas zu weit ging. Professor Bender beruhigte seine Frau.

»Ich habe mir schon so etwas gedacht. Die Jungen fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt; mit einem harmlosen Spaß lassen sie das nicht bewenden. Nun glauben sie, ihre Rache gekühlt zu haben.«

Pommerle ließ den verstümmelten Zopf durch die Finger gleiten. »Jetzt werden sie mich auslachen. – Die ganze Schule wird über mich lachen. – Mütterchen, sie sollen nicht über mich lachen! Bitte, hilf mir, damit ich nicht ausgelacht werde.«

Professor Bender sah Tränen in den Augen seiner Tochter. »Soll ich dir einen Vorschlag machen, Pommerle? Es heißt: ›Wer zuletzt lacht, lacht am besten.‹ Wir lassen auch noch die zweite Hälfte deines Zopfes abschneiden. Du hast dir im vorigen Jahr kurze Haare gewünscht. Wie wäre das?«

Einen Augenblick lang überlegte Pommerle, dann sagte sie fest und bestimmt: »Ja, Väterli, ich will der letzte sein, der lacht. Morgen bedanke ich mich bei den fünfen dafür, daß ich endlich einen Bubikopf tragen darf. Den Triumph, mich geärgert zu haben, lasse ich ihnen nicht. Euch darf ich es sagen, daß ich lieber den Zopf behalten hätte, aber den Jungen sage ich es nun gerade nicht!«

»Bist du so eine kleine Komödiantin?«

»Ja, Väterli«, erklärte das junge Mädchen mit blitzenden Augen, »auslachen lasse ich mich von den Jungen nicht!«

Der Zopf fiel noch am selben Nachmittag. Pommerle sah mit dem kurzgeschnittenen Haar recht niedlich aus. Sie nahm den verstümmelten Zopf zum Andenken an die Rache der Buben mit heim, wickelte ihn sorgsam in Seidenpapier und legte einen Zettel hinzu: »Sie sollen nicht über mich lachen, – ich lache zuletzt!«

Pommerle hatte selbst nicht gewußt, daß sie so herrlich Komödie spielen konnte. Jedem der fünf schüttelte sie die Hand, jedem erklärte sie: »Du hast mir wirklich einen Freundesdienst erwiesen. Endlich ist der olle Bammelzopf weg. Du mußt mir versprechen, wenn die Haare wieder zu lang sind, ein Büschel abzuschneiden, damit ich meinen geliebten Bubikopf behalten kann.«

Die Gesichter der Primaner wurden immer länger. »Wolltest du denn kurze Haare haben?« fragte einer.

Pommerle verdrehte schwärmerisch die Augen: »Für mein Leben gern! Ich habe es ersehnt, erfleht, und ihr wurdet meine Retter! Wie soll ich euch das danken?«

»Da wollten wir dir einen Schabernack spielen«, sagte Max ärgerlich, »nun hast du den Vorteil davon.«

Pommerle warf den Kopf stolz in den Nacken. »So – –? Ihr wolltet mir einen Schabernack spielen, das glaube ich nicht! Ihr werdet doch das reizendste Mädchen von Hirschberg nicht ärgern.« Dann eilte Pommerle lachend davon und machte Max aus der Entfernung heimlich eine lange Nase.

Die fünf aber, die zuerst wegen des mißlungenen Erfolges ärgerlich waren, erklärten schließlich: »Sie ist wirklich ein fabelhaftes Weib, sie ist nicht nur das reizendste Mädel, auch das anständigste Mädel in Hirschberg. Wenn sie gepetzt hätte, gut wäre es beim Direx nicht ausgegangen! Wir wollen die Streitaxt begraben und uns wieder gut mit ihr stellen.«


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