Friedrich von der Trenck
Des Freiherrn von der Trenck seltsame Lebensgeschichte
Friedrich von der Trenck

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Viertes Kapitel

Nun war ich wieder im Kerker und fand, da ich suchte, auch bald neue Gelegenheit zu einer neuen Unternehmung. Ich lernte die Soldaten kennen, die mich bewachten; an Geld fehlte es mir nicht, und mit diesem, auch durch erregtes Mitleid kann man bei dem mißvergnügten preußischen Soldaten alles ausrichten. Bald hatte ich also ein Komplott von 32 Mann auf meiner Seite, die auf meinen Wink bereit waren, alles zu unternehmen. Keiner wußte vom andern, außer zwei oder drei, folglich konnten sie alle nie verraten werden. Und der Unteroffizier Nikolai war mein gewählter Anführer.

Die Zitadellgarnison bestand damals nur aus 120 Köpfen vom Garnisonregiment, das in der Grafschaft Glatz verteilt war, und vier Offiziere wechselten die Hauptwache ab, wovon drei in meinem Verständnis waren. Alles war veranstaltet, und die scharfen Patronen lagen bereits mit Pistolen und Degen für mich in einem Ofenloch an meinem Kerker versteckt. Wir wollten alle Arrestanten befreien und mit klingendem Spiel nach Böhmen marschieren.

Ein österreichischer Deserteur verriet aber die ganze Sache, und der Gouverneur schickte seinen Adjutanten auf die Zitadelle mit dem Befehl, der wachhabende Offizier sollte sogleich den Unteroffizier Nikolai arretieren und die Kasematten mit seiner Kameradschaft bewahren.

Nikolai war eben auf der Hauptwache, und der Leutnant, der mein Freund war, auch das Geheimnis wußte, gab ihm ein Zeichen, daß alles verraten sei. Er allein kannte das ganze Komplott, einige davon waren mit ihm auf der Wache. Im Augenblicke war dieses braven Mannes Entschluß gefaßt. Er sprang in die Kasematte, rief: »Brüder, zum Gewehr! Wir sind verraten!« Alles folgte ihm nach der Wache des Stockhauses. Der wachhabende Offizier behielt nur acht Mann bei sich, die kein geladenes Gewehr hatten. Meine Anhänger nahmen die scharfen Patronen und drohten alles niederzuschießen, sprengten an meiner eisernen Türe, die aber zu stark, die Zeit hingegen zu kurz war, um länger zu arbeiten, er rief mir zu – ich sollte mir heraushelfen – es war unmöglich. – Und so marschierte der beherzte Mann nebst 19 Köpfen, die ihm folgten, mit geschultertem Gewehr nach dem Feldtore. Der dort mit sechs Mann wachhabende Unteroffizier wurde gezwungen, sich mit ihm zu vereinigen. Und auf diese fast unglaubliche Art kam er glücklich bis nach Braunau in Böhmen. Denn ehe Lärm in der Stadt wurde, und ein starkes Kommando ihn zu verfolgen ausrücken konnte, hatte er gewiß schon den halben Weg gewonnen.

Diesen seltsamen Mann habe ich zwei Jahre später nach dem Vorfalle in Ofen mit unbeschreiblicher Freude entdeckt. Er trat sogleich in meine Dienste, war zugleich mein Freund, starb aber nach etlichen Monaten in Ungarn an einer hitzigen Krankheit in meinem Quartier. Ich habe ihn beweint, und sein Andenken ist mir noch so schätzbar als empfindlich.

Nun schlugen alle Wetter über meinem Kopf zusammen. Man wollte mir als einem Komplottmacher und Verführer der königlichen Soldaten und Offiziere den Kriminalprozeß machen. Ich sollte die Zurückgebliebenen nennen, gab aber auf alle Fragen keine Antwort und blieb standhaft.

Die Wache wurde mir wieder aus dem Zimmer genommen; das größte Uebel aber blieb, daß mein Geld ausgeteilt war, und mir meine Freundin aus Berlin, mit der mir die geheime Korrespondenz nie gehindert werden konnte, schrieb:

»Ich traure mit Ihnen. Ihr Uebel ist aber ohne Hilfe. Dies ist mein letzter Brief. Ich darf weiter nichts mehr für Sie wagen. Retten Sie sich, wo möglich! Ich bin für Sie allezeit und in allen Vorfällen die alte Freundin, wenn es nur möglich ist, Ihnen nützlich zu sein. Leben Sie wohl, unglücklicher Freund! Sie verdienen ein besseres Schicksal.«

Das war der härteste Schlag, der mich noch treffen konnte. Noch war mein Trost, daß man gar keinen Verdacht auf die Offiziere hatte; und da diese laut ihrer Instruktion täglich einigemal zu mir gehen mußten, um zu visitieren, ob ich ruhig sei, – so verlor ich die Hoffnung nicht, mich selbst zu retten.

Da nun alles unmöglich schien, ereignete sich folgender merkwürdige Zufall, der wirklich unter die alten Abenteuer gerechnet werden sollte.

Ein gewisser Leutnant von Bach, ein geborener Däne, der alle vier Tage die Wache bei mir hatte, war der Schrecken der ganzen Garnison und ein Erzhändelmacher, der sich mit allen Kameraden raufen mußte und sie alle zeichnete, weshalb er auch bereits von zwei Regimentern gewechselt und endlich an das Garnisonbataillon nach Glatz zur Strafe versetzt wurde. Dieser saß bei mir auf dem Bette und erzählte, daß er tags zuvor einem gewissen Leutnant von Schell in den Arm gehauen habe. Scherzend gab ich ihm zur Antwort: »Wenn ich frei wäre, würdest du mich doch schwerlich verwunden; ich verstehe meinen Degen auch.« – Gleich stieg ihm das Blut in die Höhe; wir machten in der Geschwindigkeit ein paar Rappiere von einer alten gespaltenen Tür, die mir zum Tisch diente, und ich stieß ihn auf die Brust. – Hier geriet er in Wut; lief hinaus – wie erstaunte ich aber, da er mit zwei Musketiersäbeln unter dem Rocke in mein Gefängnis trat, mir einen übergab und zu mir sprach: »Jetzt zeige, was du kannst, Großsprecher!« – Ich protestierte, wollte ihm seine Gefahr vorstellen – nichts half – er ging mir auf den Leib, und ich verwundete ihn an dem rechten Arm.

Gleich warf er den Säbel weg – fiel mir um den Hals, küßte mich und blieb weinend an mir hängen. Endlich nach einigen recht konvulsivisch fröhlichen Blicken sagte er: »Freund! du bist mein Meister! – und du sollst, du mußt durch mich deine Freiheit erhalten, so wahr ich Bach heiße.« Wir verbanden den Hieb im Arme, der ziemlich tief war; er schlich hinaus, ließ heimlich einen Feldscherer holen, der ihn ordentlich verband, und abends war er wieder bei mir.

Hier machte er mir nun den Vorschlag, es sei kein anderes Mittel in der Welt mich zu retten, als wenn der wachhabende Offizier mit mir ginge. Er selbst wollte gern sein Leben für mich aufopfern, aber einen Schelmenstreich könne er nicht für mich vollziehen und von der Wache desertieren. Indessen gab er mir sein Ehrenwort, mir meinen Mann in wenigen Tagen zu verschaffen, auch zu allem behilflich zu sein.

Abends kam er schon wieder zu mir und brachte den Leutnant von Schell mit. – Das erste Wort war: »Hier ist dein Mann!«

Schell umarmte mich, gab mir sein Wort; der Handel war also abgeschlossen, und hiermit war ich meiner Freiheit versichert.

Nun kam es nur auf Abrede und Anstalten an. Schell war erst aus der Garnison von Habelschwert nach Glatz gekommen und sollte in ein paar Tagen die erste Wache in Glatz bei mir auf der Zitadelle verrichten. Bis dahin ward alles verschoben. Weil ich aber, wie oben erwähnt, kein Geld mehr von meiner Freundin erhielt und meine heimliche Kasse nur etwa noch in sechs Pistolen bestand, so ward beschlossen, daß Bach nach Schweidnitz fahren und mir von einem gewissen Freunde daselbst etwas bringen sollte.

Schell war ein Mensch von ganz außerordentlichen Talenten, sprach und schrieb sechs Sprachen und besaß den Kern aller schönen Wissenschaften. Er hatte bei dem Fouquéschen Regimente gestanden. Sein Oberst, der ein Pommer war, hatte ihn schikaniert. Fouqué konnte keinen gelehrten Offizier leiden und hatte ihn zum Garnisonregimente versetzt. Er forderte zweimal den Abschied, und der König drohte ihm mit Festungsarrest. Deshalb allein beschloß er zu desertieren und sich zu rächen, wenn er mich, Fouqué zum Trotze, aus dem Gefängnisse befreite.

Wir verabredeten, daß bei seiner nächsten Wache alles veranstaltet werden sollte, um sodann bei der folgenden den Anschlag auszuführen. Alle vier Tage zog er auf die Wache, folglich sollte die Flucht binnen acht Tagen bewerkstelligt werden.

Nun war indessen wegen des einen und anderen Verdachts, daß die Offiziere zu vertraulich mit mir umgingen, ein Befehl ergangen, laut welchem meine Tür allezeit verschlossen blieb, und mir das Essen durch ein Fenster in der Mitte derselben hereingebracht wurde. Den Schlüssel hatte der Major, und bei Kassation war verboten, mit mir zu essen.

Die Offiziere hatten aber einen Nachschlüssel machen lassen und saßen den halben Tag und Nächte bei mir.

Mir gegenüber war das Gefängnis eines gewissen Kapitäns von Damnitz. Dieser schlechte Mensch, der dennoch durch Protektion nach zweijährigem Arrest nicht nur die Freiheit erhielt, sondern sogar bei seines Vetters Regiment Oberstleutnant wurde, war nun damals der vom Platzmajor aufgestellte heimliche Kundschafter über die Arrestanten und hatte berichtet, daß, ungeachtet des scharfen Verbots, die wachhabenden Offiziere die meiste Zeit bei mir zubrachten.

Nun zog Schell den 24. Dezember auf die Wache, kam gleich zu mir hinein, blieb lange bei mir, und alles sollte an diesem Tage verabredet werden, wie wir bei seiner nächsten Wache entfliehen wollten.

Der Leutnant von Schröder war an eben diesem Tage bei dem Kommandanten zum Essen eingeladen, und hörte zufällig vom Adjutanten desselben, er habe Order, den Leutnant Schell von der Wache ablösen zu lassen und sogleich zu arretieren.

Schröder, der von unserm Geheimnis wußte, glaubte nicht anders, als daß wir verraten wären; ungeachtet es nicht anders war, wie ich nachher erfahren habe, als daß der Spion Damnitz gemeldet hatte, daß Schell eben bei mir im Zimmer sitze.

Schröder läuft mit vollem Schrecken auf die Zitadelle zu Schell und sagt: »Freund! rette dich, alles ist verraten, du wirst sogleich arretiert werden«.

Schell hätte sich allein ohne Gefahr in Sicherheit setzen können, denn Schröder trug ihm an, sogleich mit ihm Pferde zu nehmen und nach Böhmen zu reiten.

Was tut aber der rechtschaffene Mann in diesem Falle für seinen Freund?

Auf einmal tritt er in mein Gefängnis, zieht einen Unteroffiziersäbel unter dem Rocke hervor und sagt: »Freund! wir sind verraten. – Folge mir, und laß mich nur nicht lebendig in die Hände meiner Feinde fallen.«

Ich wollte mit ihm sprechen – er nahm mich eilfertig bei der Hand und sagte: »Folg! es ist keine Minute zu verlieren.« – Gleich warf ich meinen Rock über die Schultern, zog die Stiefel an und hatte nicht einmal Zeit, mein noch weniges verborgenes Geld mitzunehmen.

Wir gingen heraus. Und er sagte zur Schildwache: »Dein Arrestant geht mit mir in die Offizierstube. Bleibe hier stehen.«

Wir gingen auch wirklich hinein; gleich aber seitwärts hinaus; und mein Freund war willens, mit mir unter dem Zeughaus vorbei bis an die äußersten Außenwerke zu gehen, dann über die Pallisaden zu steigen und uns weiter zu retten, wie wir könnten.

Kaum hatten wir hundert Schritt gemacht, als uns Major Quadt nebst dem Adjutanten begegnete.

Schell erschrak, stieg auf die Brustwehr und sprang vom Wall hinunter, der dort eben nicht so sehr hoch ist. – Ich folgte, sprang nach und kam glücklich hinunter, außer daß ich mir die Schulter an der Abdachung abgeschunden hatte. Mein Freund hatte aber das Unglück, den Fuß am Knöchel aus dem Gelenke zu fallen. – Sogleich zog er seinen Degen und bat mich, ihn zu durchbohren und mir zu helfen, wie ich könnte. Er war ein kleiner schwacher Mensch, ich nahm ihn um den Leib, half ihm über die Pallisaden, dann auf meinen Rücken, und lief geradezu mit ihm davon, ohne zu wissen, wohin.

Die Sonne war eben untergegangen, da wir entflohen; dabei war die Luft nebelig und Glatteis. Niemand wollte nachspringen. – Der Lärm hinter uns her war gewaltig – jedermann kannte uns – ehe aber jemand aus der Zitadelle in die Stadt und von da das Tor erreichen und uns verfolgen konnte, hatte wir eine gute halbe Stunde voraus.

Die Alarmkanonen wurden, wie bei Desertion gewöhnlich, schon abgefeuert, ehe wir hundert Schritt entfernt waren. Dieses schreckte meinen Freund noch mehr, weil er wußte, daß von Glatz fast kein Gemeiner glücklich durchgekommen war, der nicht wenigstens zwei Stunden voraus hatte, ehe die Kanonen brummten, indem die sogleich alle möglichen Passagen besetzenden Bauern und Husaren viel zu geübt, auch zu wachsam waren.

Unter den zum Nachsetzen kommandierten Offizieren war der Leutnant Bach, mein Freund; und dem Hauptmann von Zerbst, vom Fouquéschen Regiment, der mich allezeit brüderlich liebte, begegneten wir unweit der böhmischen Grenze, wo er mir zurief: »Bruder mach', daß du weiter links gegen das dort liegende einzelne Haus kommst; dort ist die Grenze, – die Husaren sind soeben rechts geritten.« Er ritt seitwärts, als ob er uns nicht gesehen hätte. Von den Offizieren hatten wir demnach nichts zu besorgen: ein jeder half gewiß durch, wie er konnte. Denn damals war im preußischen Dienste die Bruder- und Kameradenliebe noch so groß und das Ehrenwort galt noch so viel, daß ich wirklich im Glatzer Gefängnisse nebst zwei Offizieren auf der Jagd und 36 Stunden abwesend war. Leutnant von Lunitz war indessen an meiner Stelle im Bette Arrestant, auch der Major wußte davon. So verließ sich damals einer auf des andern Ehrenwort; und so gut kannte man den Trenck in Glatz, daß man ihn aus dem Kerker auf die böhmische Grenze mit auf die Jagd nahm.

Ich hatte meinen Freund kaum 300 Schritte getragen, so setzte ich ihn auf die Erde, sah mich um und konnte Stadt und Zitadelle nicht mehr sehen, die Luft war zu trübe, folglich konnten wir auch nicht mehr gesehen werden.

Ich fragte also meinen Freund: »Wo sind wir, Schell? Wo liegt Böhmen? Wo fließt die Neiße?« – Der gute Mann konnte sich nicht fassen; wußte sich nicht zu besinnen und verzweifelte an aller Rettung, bat nur, ich sollte ihn nicht lebendig zurücklassen, – zur Flucht sei keine Möglichkeit.

Nachdem ich ihm heiligst versprochen, ihn vom schimpflichen Tode am Galgen zu retten, – falls kein Mittel übrig wäre – und ihn durch meinen Mut aufgemuntert hatte, sah er sich um und erkannte an einigen Bäumen, daß wir unweit des Feldtores waren. – Nun fragte ich: »Wo ist die Neiße?« Er wies sie seitwärts. – »Freund!« sagte ich, »alles hat uns gesehen gegen das böhmische Gebirge laufen; dort ist es unmöglich durchzukommen; dort ist der Kordon gezogen, und alles von Husaren und nachsetzenden Feinden folgt uns dorthin.« Ich nahm ihn hiermit auf den Rücken und trug ihn rückwärts an die Neiße. Hier hörten wir nun schon in allen Dörfern Sturm läuten; auch die Bauern, die den Desertionskordon ziehen, auf allen Seiten laufen und Lärm machen.

Ich kam also an die Neiße; sie war nur wenig gefroren. Ich nahm meinen Freund, führte ihn durch, so weit als ich waten konnte. – Bei der Tiefe, die eben nicht drei Klafter breit war, mußte er sich an meinem Haarzopfe festhalten, und so kamen wir glücklich an das andere Ufer.

Man urteile, wie wohl es tat – am 24. Dezember zu schwimmen und dann noch 18 Stunden unter freiem Himmel zu bleiben! Nebel und Glatteis hörten gegen sieben Uhr abends auf, dann folgte Mondlicht und Frost. Ich hatte meinen Freund zu tragen und ward warm, aber müde. Er hingegen litt alles, was ein Mensch leiden kann, – Kälte, Schmerzen am verrenkten Fuße, an dem ich viel vergebens arbeitete, um ihn in die Junktur zu bringen, und dabei Gefahr und Tod bei jedem Schritte vor Augen hatte.

Sobald wir das andere Ufer der Neiße erreichten, waren wir außer Gefahr der Verfolgung, weil uns niemand auf dem Wege nach Schlesien suchte. Ich ging also eine gute halbe Stunde neben dem Ufer fort; sobald ich aber die ersten Dörfer im Rücken hatte, wo der Alarmkordon gezogen wird, fanden wir zufälligerweise einen Fischerkahn am Ufer, sprengten das Schloß los, fuhren hinüber und gewannen in kurzer Zeit das Gebirge. Hier setzten wir uns in den Schnee. Der Mut wuchs, wir hielten Rat, was weiter zu tun wäre, schnitten einen Stock ab, womit Schell sich zuweilen, um mich rasten zu lassen, auf einem Fuße vorwärts half, das aber der tiefe Schnee im Gebirge mit seiner harten einbrechenden Rinde desto beschwerlicher machte.

So verfloß die Nacht, wo wir im Schnee bis an den Bauch herumwühlten, ohne viel vorwärts zu kommen. Das unwegsame Gebirge war mir hin und wieder unübersteiglich. – Der Tag brach an. Wir glaubten schon nahe an der Grenze zu sein, die vier Meilen von Glatz entfernt ist, und hörten mit größtem Schrecken noch die Glatzer Uhr schlagen.

Müdigkeit und Kälte waren bei mir, und bei meinem Freunde waren die Schmerzen unausstehlich. Den Tag hindurch war es nicht möglich auszuhalten, der Hunger nagte zugleich schon gewaltig. – Nach gemachter Ueberlegung und etwa einem halbstündigen Vorwärtsarbeiten kamen wir an ein Dorf, das am Fuße des Berges lag. – Etwa 300 Schritt diesseits des Dorfes sahen wir aber zwei abgesonderte Häuser. Wir nahmen folgende Verabredung und führten sie auch glücklich aus:

Die Hüte hatten wir beide beim Herunterspringen vom Wall zu Glatz verloren. Schell hatte aber seine Schärpe und seinen Ringkragen als wachhabender Offizier am Leibe, was ihm bei Bauern noch Ansehen geben konnte.

Nun schnitt ich mich in den Finger, bestrich Gesicht, Hemd und Rock mit Blut, wie ein schwer Verwundeter, und verband mir den Kopf.

So trug ich den Schell bis an das Ende des Gesträuches unweit der Häuser. Hier band er mir die Hände auf den Rücken, doch so, daß ich sie gleich frei machen konnte, tat sich Gewalt an, hüpfte mit seinem Stocke hinter mir her und schrie um Hilfe.

Zwei alte Bauern kamen herausgelaufen.

Gleich rief Schell: »Lauft in das Dorf, der Richter soll im Augenblicke einen Wagen anspannen – ich habe den Spitzbuben eingeholt – er hat mir das Pferd erstochen, wodurch ich ein Bein verrenkt. – Ich habe ihn dennoch zusammengehauen und gefangen – geschwinde einen Wagen, damit er noch gehenkt werde, ehe er krepiert.«

So ließ ich mich halb tot in das Zimmer schleppen. Ein Bauer lief ins Dorf. Ein altes Mütterchen und ein hübsches Mädchen hatten großes Mitleid mit mir, gaben uns Milch und Brot – wie erstaunten wir aber, da der alte Bauer den Schell beim Namen nannte, auch versicherte, daß er wüßte, wir wären selbst die Deserteure, weil schon abends vorher ein nachsetzender Offizier im Wirtshause gewesen, uns genannt, unsere Kleidung beschrieben, auch die ganze Geschichte der Flucht erzählt hatte. – Dieser Bauer kannte den Schell, weil sein Sohn unter der Kompagnie diente, und er öfters mit ihm in Habelschwert, wo er im Quartier lag, gesprochen hatte.

Hier war also nichts anders übrig als schleuniger Entschluß und Geistesgegenwart. Gleich sprang ich hinaus, lief in den Stall und Schell hielt den alten Bauer im Zimmer zurück, der aber ein ehrlicher Mann war und ihm sogar den Weg sagte, den wir zu nehmen hätten, um Böhmen zu erreichen. Wir waren nur einundeinehalbe Meile von Glatz weg und waren vielleicht sechs Meilen rückwärts und vorwärts im Gebirge herumgeirrt. Das Mädchen folgte mir, ich fand drei Pferde im Stalle, aber keinen Zaum. – Ich bat sie beweglich, mir zu helfen; sie war gerührt, und wäre mir vielleicht auf der Stelle gefolgt. Gleich gab sie mir zwei Zäume. Ich führte die Pferde hinaus – rief den Schell; er erschien mit seinem lahmen Fuße, ich half ihm hinauf. – Der alte Bauer weinte und bat um seine Pferde, hatte aber zum Glück keinen Mut, vielleicht auch keinen Willen, uns zu hindern, denn mit einer Mistgabel hätte er uns, die wir fast wehrlos waren, wenigstens so lange aufhalten können, bis das Dorf herbeigeeilt wäre.

So ritten wir ohne Sattel noch Hut auf dem Kopfe davon. Schell in Uniform mit Schärpe und Ringkragen, ich aber in meinem roten Garde du Corps-Rocke.

Unser Glück war der Feiertag – alles war in der Kirche, und der von uns abgeschickte Bauer hatte sie erst rufen müssen. Es war etwa neun Uhr früh. Denn wenn die Leute zu Hause gewesen wären, so waren wir ohne Rettung verloren. Ich war müde und Schell lahm; wir hätten auch nicht davonlaufen können.

Unser Weg ging gerade nach Wünschelburg. Hier war kein Mittel, als durch die Stadt zu reiten. Schell hatte noch vier Wochen vorher dort in Quartier gelegen; jedermann kannte ihn, unsere Equipage stellte ohne Sattel noch Hut nichts anderes als Deserteure vor; die Pferde liefen aber ziemlich gut, und wir kamen glücklich durch, obgleich in der Stadt 80 Mann Infanterie und 12 Husaren zum Verfolgen der Deserteure in Garnison lagen. Schell kannte aber dort alles, folglich ritten wir um die Stadt herum durch die Vorstadt, und da er von da den Weg nach Bummern kannte, so kamen wir daselbst gegen 11 Uhr vormittags glücklich an, nachdem wir vorher dem Kapitän Zerbst, wie ich bereits erzählte, begegnet waren. Welche Wonne unsere Seele an diesem Tage empfand, kann nur der denken, aber nicht schildern, der sie wirklich empfunden hat.

Und doch – wäre damals mein künftiges grausames Schicksal vor meinen Augen aufgedeckt gewesen, ich hätte die Flucht aus Glatz gewiß nicht als ein Glück angesehen. Ein Jahr Geduld würde den aufgebrachten König besänftigt haben, und wenn ich alles mit gegenwärtig aufgeklärter Einsicht betrachte, so wäre es besser für mich, auch für den ehrlichen Schell gewesen, wenn wir uns nie gekannt hätten.



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