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Der Schnee mochte einen noch so schönen, fröhlichen, weißen Schleier über alle Dinge breiten, er mochte das Dach, die Vortreppe, den Hof des Gefängnisses damit schmücken; dieses behielt mit seinen beiden roten Laternen, seiner Schildwache, trotzdem sein düsteres Aussehen.
Der Direktor mit der imposanten Miene empfing die Besucher selbst am Eingang des Thores. Beim Scheine der Laterne las er aufmerksam den Paß, den der Gouverneur Nechludoff, als sie von der Tafel aufgestanden waren, übergeben hatte; dann beschränkte er sich darauf, zum Zeichen der Ergebung in die Laune seines Vorgesetzten die Achseln zu zucken und forderte die Besucher auf, ihm in sein Bureau zu folgen. Als sie hier angelangt waren, fragte er sie, was sie eigentlich sehen wollten.
Nechludoff erklärte ihm, vor allem wünsche er eine Unterredung mit der Maslow, dann fügte er hinzu, sein Begleiter wünsche einige Fragen über das Gefängnissystem zu stellen, um die Säle dann mit größerem Nutzen besichtigen zu können.
Der Direktor befahl einem Aufseher, die Maslow zu holen und sie in das Bureau zu führen.
»Wieviel Personen kann das Gefängnis fassen?« fragte der Engländer, für den Nechludoff den Dolmetsch spielte. »Wieviel Personen enthält es augenblicklich? Wieviel Männer? wieviel Weiber? wieviel Kinder? Wieviel Sträflinge, wieviel Verschickte und wieviel freie Begleiter? und wieviel Kranke?«
Nechludoff übersetzte die Fragen des Engländers und die Antworten des Direktors; doch er hätte kaum sagen können, was diese Fragen und Antworten für einen Wert hatten, denn die Aussicht auf seine Unterredung mit Katuscha hatte ihn ganz außer sich gebracht. Und als er mitten in einem Satze, den er übersetzte, ein Geräusch von Schritten auf dem Korridor vernahm, als sich die Thür öffnete und er – wie es schon so oft seit drei Monaten passiert war – diesmal aber zweifellos zum letztenmale – einen Aufseher eintreten sah, der die weißgekleidete Katuscha mit ihrem Tuch auf dem Kopfe hereinführte, und er Katuscha erblickte, da war es ihm, als stocke ihm plötzlich alles Blut in den Adern.
»Ich will leben, ich will eine Familie und Kinder haben; ich will am Glück teilnehmen,« murmelte eine Stimme in seinem Herzen, die er schon lange nicht mehr gehört hatte.
* * *
Er stand auf und ging Katuscha einige Schritte entgegen. Diese hatte noch nichts gesprochen; doch sie war ganz rot, aufgeregt, und betrachtete ihn mit einer Miene, von der er sich verletzt fühlte. Es war eine Miene, wie er sie an ihr noch nicht bemerkt, ein Gemisch von kühler Entschlossenheit und glühender Leidenschaft. Sie wurde rot und blaß; ihre Finger strichen am Saume ihrer Jacke auf und nieder, und bald sah sie ihm fest ins Gesicht, bald schlug sie schüchtern die Augen nieder.
»So weißt du die Neuigkeit schon?« fragte Nechludoff.
»Ja, ich habe sie schon erfahren . . . doch ich habe mich nun entschlossen; ich werde mich mit Wladimir Iwanowitsch verheiraten.«
Sie sprach sehr schnell, ohne innezuhalten. Offenbar hatte sie sich die Worte, die sie sprach, vorher zurechtgelegt.
»Wie? mit Wladimir Iwanowitsch?« begann Nechludoff; doch sie unterbrach ihn:
»Nun, was? Da er es so will, daß ich bei ihm leben soll . . .«
Sie hielt, wie entsetzt, inne und fuhr dann fort: »Da er es so will, daß ich bei ihm leben soll! Was könnte ich mir Besseres wünschen? Vielleicht werde ich ihm Freude machen . . . Vielleicht werde ich mich nützlich machen können . . . Was kann ich . . .«
Von zwei Dingen war nur eins möglich: entweder hatte sie sich in diesen Simonson verliebt und bedurfte Nechludoffs Opfer wirklich nicht mehr; oder sie liebte Nechludoff noch immer, und vereinigte ihr Leben mit dem Simonsons, um ihn von dieser Last zu befreien.
Darüber war sich Nechludoff vollständig im Klaren. Er schämte sich und fühlte, wie er rot wurde.
»Wenn du ihn liebst . . .« sagte er.
»Ich? Nie habe ich derlei Menschen gekannt! – Wie sollte ich ihn nicht lieben? Und dann ist Wladimir Iwanowitsch auch so ganz anders, als die übrigen!«
»Gewiß,« versetzte Nechludoff mit zitternder Stimme. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch, und ich glaube . . .«
Doch sie unterbrach ihn von neuem, als fürchte sie, ihn das aussprechen zu hören, was er sagen wollte. Oder vielleicht wollte sie ihm alles sagen.
»Nein, nein, Sie müssen uns verzeihen, daß wir nicht thun, was Sie wollen,« murmelte sie, »Denn Sie, Sie müssen leben!«
Was er sich gesagt, was er sich bereits im Kinderzimmer beim Gouverneur gesagt, das wiederholte ihm jetzt Katuscha!
Doch schon hatte er diesen Gedanken von sich gewiesen. Von alledem blieb nichts mehr in ihm zurück; er hatte wieder ganz andere Gedanken und ganz andere Gefühle. Er schämte sich, er hatte Furcht, und die Angst peinigte ihn.
»So ist also alles zwischen uns aus?« fragte er.
»Gewiß, gewiß!« versetzte sie mit seltsamem Lächeln.
»Ich wäre doch aber glücklich, dir dienlich zu sein.«
»Wir brauchen nichts!« (Sie sah Nechludoff fest ins Auge, als sie dieses »wir« aussprach,) »Ich schulde Ihnen so schon genug! . . . Ohne Sie . . .«
Sie wollte noch etwas hinzufügen; doch plötzlich erstarb ihre Stimme; sie senkte den Kopf und sagte nichts weiter.
»Ich weiß nicht, wer von uns beiden dem andern am meisten schuldet, Gott wird zwischen uns abrechnen,« fuhr Nechludoff fort.
»Ja, ja, so ist's! Gott sieht uns,« murmelte sie.
»Are you ready?« (Sind Sie bereit?) fragte der Engländer.
»Sofort!« versetzte Nechludoff und fragte Katuscha, indem er sich bemühte, seine Angst zu verbergen, nach Krülzoffs Gesundheit.
Auch Katuscha hatte sich gefaßt. Mit fast ruhigem Tone sagte sie, was sie wußte: daß Krülzoff auf der Fahrt viel hatte leiden müssen und gleich bei der Ankunft ins Lazarett gebracht worden war. Maria Pawlona hatte um die Erlaubnis gebeten, ihn pflegen zu dürfen, doch man hatte ihr erklärt, das wäre unmöglich.
»Und jetzt will ich dorthin zurückkehren,« sagte sie, als sie sah, daß der Engländer ungeduldig wurde.
»Sagen wir uns noch nicht Lebewohl; ich werde Sie wiedersehen,« sagte Nechludoff und reichte ihr die Hand.
»Nein, nein, adieu, adieu!« antwortete ihm Katuscha in entschlossenem Tone.
Nun begegneten sich ihre Augen, und in dem Blick ihrer etwas schielenden Augen, in ihrem traurigen Lächeln, in der Art, wie sie das Wort »Adieu« aussprach, sah Nechludoff klar und deutlich, daß von den beiden für ihr Verhalten maßgebenden Erklärungen die zweite die allein richtige war. Er erkannte, daß sie ihn liebte, daß sie ihn von ganzem Herzen liebte, wie an dem Abend, da er sie, als sie aus der Kirche kam, umarmt. Er begriff, daß sie sich gesagt: wenn sie sich mit ihm verheirate, so erlege sie ihm ein Opfer auf und richte ihn zu Grunde; wenn sie sich dagegen mit Simonson verheiratete, so befreie sie ihn.
Sie schüttelte die Hand, die er ihm reichte, wandte sich plötzlich um und verließ das Zimmer.
* * *
Der Engländer wollte die Besichtigung der Säle sofort vornehmen, doch als er sah, daß Nechludoffs Hände vor Erregung zitterten, kam ihn ein Bedenken an und er schickte sich an, sich zunächst verschiedene Einzelheiten in seinem Notizbuch zu notieren, Nechludoff setzte sich in einiger Entfernung auf eine Holzbank. Verzweiflung und Scham erfüllte sein Herz, und hier blieb er einige Minuten wie betäubt sitzen.
»Nun, meine Herren, wollen wir jetzt die Stuben besichtigen?« fragte der Direktor.
Nechludoff sprang schnell empor, der Engländer klappte sein Notizbuch zu, und man machte sich auf den Weg.