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Nechludoff stand am Rande der Fähre und hielt die Augen starr auf das schnellfließende Wasser des Stromes gerichtet. Seine Phantasie führte ihn abwechselnd zwei Bilder vor; das Bild Krülzoffs, der auf dem Stroh des Wagens im Sterben lag, und seinen zornigen Blick, und das Bild Katuschas, die in Begleitung Wladimir Simonsons mit behendem Schritt über die Landstraße wanderte.
Eins dieser Bilder, das Krülzoffs, der sich nicht in den Tod fügen wollte, war schrecklich und kläglich; das andere Bild aber, daß Katuschas, die einen Mann in Simonson gefunden, der sie liebte, und auf dem Wege des Guten ebenso flink einherschritt, wie sie über die Landstraße wanderte, dieses Bild wirkte nur fröhlich und stärkend auf ihn. Und doch waren diese beiden Bilder gleich grausam für Nechludoff; es gelang ihm nicht, sie aus seinem Geiste zu verscheuchen, und sie vermischten sich in seinem Gemüt, um schließlich einen Eindruck vollständiger dumpfer Traurigkeit hervorzubringen.
Von der Stadt her trug der Wind den silbernen Klang einer Glocke, die einen Gottesdienst verkündete. Nechludoffs Kutscher und alle anderen Passagiere entblößten das Haupt und machten das Zeichen des Kreuzes. Nur ein kleiner Greis in Lumpen nahm nicht die Mütze ab und blieb mit den Händen auf dem Rücken unbeweglich stehen.
»Nun, und du, Alter, du betest nicht?« fragte Nechludoffs Kutscher, nachdem er seine Mütze wieder aufgesetzt. »Du bist wohl nicht getauft?«
»Beten? Zu wem sollte ich beten?« versetzte der zerlumpte Greis, indem er auf den Kutscher zutrat und ihm fest in die Augen schaute.
»Ist das eine Frage! Du glaubst also nicht an Gott?«
»Kennst du ihn? Weißt du, wo er ist?«
Es lag etwas so Ernstes und Hartes in dem Gesichtsausdruck des alten Mannes, daß der Kutscher sich offenbar etwas eingeschüchtert fühlte. Doch es hatte sich ein Kreis um ihn gebildet, so daß er die Unterhaltung fortsetzte, um das letzte Wort zu behalten.
»Wo Gott ist? Du Dummkopf, jeder weiß, daß er im Himmel ist!«
»Hast du ihn etwa gesehen? Bist du im Himmel gewesen?«
»Wenn ich auch nicht dagewesen bin, so weiß ich es doch! Jeder weiß, daß man zu Gott beten muß!«
»Niemand hat Gott je gesehen! Sein einziger Sohn, der beim Vater thront, hat es gesagt!« fuhr der Greis mit seiner strengen Stimme fort, indem er die Stirn kraus zog.
»Dann bist du also kein Christ? Du bist ein Götzendiener?« fragte der Kutscher, wandte sich ab und spuckte zum Zeichen der Verachtung aus.
»Welcher Religion gehörst du denn an, Väterchen?« fragte ein anderer Kutscher, der neben seinem Pferde stand, den Greis.
»Eine Religion habe ich überhaupt nicht,« entgegnete der Greis mit seinem zornigen Blick, »ich glaube nur an mich!«
»Und wie kann man an sich selbst glauben?« fragte Nechludoff, den die merkwürdige Persönlichkeit immer mehr interessierte.
»Das ist der einzige Weg, sich nicht zu täuschen!«
»Aber woher kommt es denn, daß es so viel verschiedene Religionen giebt?«
»Das kommt daher, daß man an die anderen glaubt! Auch ich habe an die anderen geglaubt und bin wie in einem Walde herumgeirrt; ich habe mich so verirrt, daß ich glaubte, ich würde meinen Weg nie wiederfinden. Altgläubige und Neugläubige, Sabbatisten, Nihlisten, Popovisten, Nonpopovisten und Skoptsen; alle habe ich kennen gelernt, alle möglichen Sorten! Und eine jede Religion behauptet, die einzig gute zu sein! Religionen giebt es viele, aber nur einen Geist! Es ist derselbe in mir und in dir, und in allen! Und das heißt, jeder muß an den Geist glauben, der in ihm lebt, dann wird die ganze Welt vereinigt werden!«
Der Greis sprach fortwährend mit lauterer Stimme, indem er seinen Blick umherschweifen ließ, als wolle er sich einer möglichst großen Zahl von Personen verständlich machen.
»Predigen Sie das schon lange?« fragte ihn Nechludoff.
»Ich, o, sehr lange! Seit dreiundzwanzig Jahren verfolgt man mich!«
»Wie?«
»Nun, wie man Christus verfolgt hat, so verfolgt man mich! Man verhaftet mich, schleppt mich vor die Richter, die Priester, die Schreiber und Pharisäer; man sperrt mich in Irrenhäuser. Doch man kann mir nichts thun, weil ich frei bin! – ›Wie heißest du?‹ fragt man mich. Man bildet sich ein, ich führe einen Namen, aber ich führe keinen; ich habe auf alles verzichtet. Ich habe weder Namen, noch Heimat, noch Vaterland; ich habe nichts, ich habe nur mich! – Wie man mich nennt? Einen Menschen! – ›Und wie alt bist du?‹ – Ich antworte: ich zähle mein Alter nicht, und außerdem habe ich kein Alter, weil der Geist, der in mir lebt, stets existiert hat und stets existieren wird. – ›Und dein Vater,‹ sagt man mir, ›und deine Mutter?‹ – Nein, nein, sage ich ihnen, bei mir giebt es weder Vater noch Mutter, nur Gott und die Erde. Gott ist mein Vater; die Erde ist meine Mutter. – ›Und der Zar,‹ hat man mich gefragt, ›erkennst du den nicht an?‹ – Warum sollte ich ihn nicht anerkennen? Er herrscht auf seiner Seite und ich auf der meinen. – ›Ach,‹ hat man mir gesagt, ›es ist unmöglich, mit dir zu sprechen!‹ Aber, antworte ich ihnen, ich verlange ja gar nicht, daß ihr mit mir sprecht. Dann fangen sie an, mich zu quälen.«
»Aber wo gehst du jetzt hin?« fragte Nechludoff.
»Ich gehe, wohin Gott mich führt. Ich arbeite; und wenn ich nichts zu arbeiten finde, so bettle ich!« versetzte der Greis und ließ gleichzeitig einen Blick des Triumphes umherschweifen.
Schon legte die Fährte am anderen Ufer an. Nechludoff zog sein Portemonnaie und bot dem Greise ein Silberstückchen, doch dieser weigerte sich, es zu nehmen.
»So etwas nehme ich nicht! Ich nehme nur Brot!« sagte er.
»Entschuldige!«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast mich nicht beleidigt,« sagte der Greis und hob den Reisesack auf, den er zu seinen Füßen niedergelegt.
In der Menge auf der Fährte wurde es von neuem lebendig. Man zog die Wagen heran und schirrte die Pferde an.
»Sie sind übrigens recht gütig, Barin,« sagte der Kutscher zu Nechludoff, als sie die Fähre verließen, »daß Sie sich mit solchen Leuten unterhalten. Wenn man auf alle diese Vagabunden hören wollte!«