Leo N. Tolstoi
Auferstehung - 4. Band
Leo N. Tolstoi

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Neunzehntes Kapitel

Als der Wagen am Ufer hielt, wandte sich der Kutscher wieder zu Nechludoff und sagte:

»Nach welchem Gasthofe wollen Sie?«

»Ich weiß nicht. Welches ist das beste Hotel?«

»Das beste ist ›Sibirien‹. Aber bei Dukoff wohnt man auch gut.«

»Fahre mich, wohin du willst!«

Der Kutscher peitschte auf die Pferde los, und der Wagen fuhr durch die Straßen der Stadt. Diese Stadt war allen Städten gleich; man sah darin dieselben Häuser mit den flachen Dächern, dieselbe große Kirche, dieselben Läden, die in der eleganten Straße zu Magazinen wurden, dieselben Passanten und dieselben Polizisten. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die meisten Häuser aus Holz gebaut und die Straßen nicht gepflastert waren.

In der belebtesten aller dieser Straßen ließ der Kutscher seine Troika vor der Freitreppe eines Hotels halten. Doch das Hotel war überfüllt, und man mußte sich wieder auf den Weg machen, um ein anderes zu suchen.

Endlich fand Nechludoff ein Unterkommen. Zum erstenmal seit zwei Monaten fand er die altgewohnte Sauberkeit und Behaglichkeit wieder. Nicht, daß das Zimmer, das er in Dukoffs Gasthof mietete, besonders luxuriös eingerichtet gewesen wäre, aber es war wenigstens wohnlich; und sein Anblick verursachte ihm eine wahre Erleichterung, als er es mit den Gasthofszimmern verglich, die er in den vorigen Nächten bewohnt hatte. Bevor er an etwas anderes dachte, hatte er Eile, sich von den Läusen zu befreien, die ihn während seiner ganzen Reise von Etappe zu Etappe mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit verfolgt hatten. Daher ließ er sich schnell, nachdem er seine Sachen untergebracht, in eine Badeanstalt fahren, wo er über eine Stunde brauchte, um sich zu reinigen. Als er dann ins Hotel zurückgekehrt war, zog er sein Stadtkostüm wieder an, ein gestärktes Oberhemd, eine graue Hose, einen Gehrock und Ueberzieher, um sich zum Gouverneur zu begeben.

Ein mit einem kräftigen, kleinen kirgisischen Pferde bespannter Wagen führte ihn in schnellem Trabe in den Hof eines schönen, großen Hauses, vor dem zwei Schildwachen und Polizisten standen. Das Haus war mit einem Garten umgeben, in welchem das dunkle Grün der Fichten die kahlen Stämme der Birken und Pappeln durchbrach.

Der Gouverneur war leidend und empfing nicht. Doch Nechludoff bat den Diener, ihm seine Karte zu bringen, und der Diener kehrte mit einem liebenswürdigen Lächeln zurück, um ihm mitzuteilen, seine Exzellenz bäte ihn, einzutreten.

Das Vorzimmer, der Diener, die Treppe, der Salon mit dem gebohnerten Parkettboden, das alles glich den Häusern in St. Petersburg, doch es war größer und nicht so sauber. Nechludoff brauchte übrigens in dem ungeheuren Salon nicht lange zu warten; kaum hatte er sich gesetzt, als man ihn bat, zu dem Gouverneur hineinzukommen.

Dieser Beamte, der einen gelben Schlafrock trug und eine Cigarette in der Hand hielt, war eben im Begriff, aus einem silberbeschlagenen Glase Thee zu trinken. Es war ein dicker, kahlköpfiger, vollblütiger Mann mit roter Nase und hervortretenden Adern auf der Stirn.

»Entschuldigen Sie, Fürst, daß ich Sie im Schlafrock empfange; aber es ist wohl besser, Sie in diesem Kostüm zu empfangen, als gar nicht,« sagte er lächelnd, während er sich in seinen großen Fauteuil zurücklehnte. »Ich bin leidend und muß das Zimmer hüten. Was verschafft uns das Vergnügen, Sie in unserem fernen Reiche zu sehen?«

»Ich begleite einen Zug Gefangener, in dem sich eine mir sehr nahestehende Person befindet,« versetzte Nechludoff; »und gerade auf diese Person bezieht sich eins der beiden Gesuche, die ich Ew. Exzellenz unterbreiten möchte.«

Der Gouverneur streckte die Beine aus, trank einen Schluck Thee und strich die Asche seiner Cigarette in einem Malachit-Aschbecher ab; dann richtete er seine kleinen, feuchten und glänzenden Augen auf Nechludoff und begann, ihm mit der größten Aufmerksamkeit zuzuhören. Nur zweimal unterbrach er ihn, um ihm ein Glas Thee anzubieten und ihn zum Rauchen aufzufordern.

Dieser Gouverneur gehörte der Art jener intelligenten Beamten an, die von Natur aus geneigt sind, ein bischen Menschlichkeit und Toleranz in ihren Beruf hinüberzunehmen. Doch da die Natur ihm auch einen großen Fonds Güte und Weisheit verliehen, und er bald gemerkt hatte, wie nutzlos seine Bemühungen in diesem Sinne geblieben waren, so hatte er, um dem Bewußtsein des inneren Widerspruches, in dem er sich befand, zu entgehen, immer mehr die Gewohnheit angenommen, Schnaps zu trinken. Dies Gewohnheit war bei ihm so stark geworden, daß er in fünfunddreißigjähriger Dienstzeit im Heere und in der Verwaltung das geworden war, was die Aerzte einen »Alkoholiker« nennen. Er war mit Branntwein vollständig imprägniert, so daß ein kleines Gläschen Alkohol oder Wein hinreichte, ihn in den Zustand des Rausches zu versehen. Uebrigens konnte er das Trinken auch nicht mehr lassen, und so war er jeden Tag seines Lebens, sobald der Abend nahte, vollständig berauscht.

Indessen hatte er sich dieser Situation so gut angepaßt, das man ihn nie schwanken sah, und ihn auch nie zusammenhangloses Zeug reden hörte; auch hätte das infolge der hohen Stellung, die er einnahm, niemand bemerken dürfen, selbst wenn er so etwas gesprochen hätte. Nur morgens, zu der Stunde, in der sich Nechludoff ihm vorgestellt, nur zu dieser Stunde glich er einem vernünftigen Menschen und war im Stande, das richtig zu begreifen, was man mit ihm sprach.

Die vorgesetzten Behörden, von denen er abhängig war, kannten seine unmäßigen Gewohnheiten ganz genau. Doch sie wußten auch, daß er intelligenter, als die Mehrzahl seiner Kollegen, und gebildeter war, obwohl seine Bildung mit dem Tage aufgehört hatte, an dem die Trunksucht über ihn gekommen war. Man wußte, daß er kühn, gewandt war, und zu repräsentieren verstand; man wußte, daß er selbst im betrunkenen Zustande fähig war, seine Würde zu wahren, und aus Grund alles dessen hatte man ihn von Grad zu Grad bis zum Posten des Gouverneurs, den er jetzt inne hatte, avancieren lassen.


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