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Als Nechludoff nach seiner Unterredung mit Katuscha in den großen Saal zurückkehrte, fand er die ganze Gesellschaft in Aufregung. Nabatoff, der überall hinging, alles beobachtete, sich nach allem erkundigte, hatte eben eine für seine Gefährten im höchsten Grade interessante Entdeckung gemacht. Er hatte an einer Wand eine von dem Revolutionär Petlin stammende Inschrift entdeckt, der vor zwei Jahren zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war. Man glaubte, dieser Petlin wäre schon längst in Sibirien; und nun bewies die von ihm an der Wand zurückgelassene Inschrift, daß er einem ganz kürzlich hier durchpassierenden Zuge angehört hatte.
Die Inschrift lautete:
»Ich bin am 17. August 18.. mit einem Zuge gemeiner Verbrecher hier durchgekommen. Newjeroff sollte mit mir reisen; doch er hat sich in Kasan in einem Wahnsinnsanfall erhängt. Mir geht's körperlich und geistig gut, und ich bin voller Hoffnung auf die Zukunft unserer Sache.
Petlin.«
Man tauschte Vermutungen über die Ursache der Verzögerung von Petlins Abreise aus, vor allem aber sprach man über die Gründe von Newjeroffs Selbstmord. Nur Krülzoff schwieg mit ernster Miene und blickte mit seinen silberglänzenden Augen vor sich hin ins Leere.
»Mein Mann hat mir gesagt, Newjeroff hätte schon in der Festung Gespenster gesehen,« sagte Rontzeff.
»Ja, ein Poet, ein Phantast! Solche Leute ertragen die Einsamkeit nicht,« erklärte Nowodworoff in verächtlichem Tone. »Als man mich in die Zelle gesperrt hat, habe ich es mir streng untersagt, meine Phantasie arbeiten zu lassen. Ich habe mir einen bestimmten Plan für meine Zeit festgesetzt, dem ich mit pünktlicher Genauigkeit gefolgt bin. Daher habe ich die Einzelhaft auch sehr gut ertragen.«
»Die Einzelhaft ertragen! Das ist nicht einmal wert, daß man sich dessen rühmt! Ich habe mich sehr oft glücklich gefühlt, wenn man mich in die Zelle gesperrt hat,« rief Nabatoff mit gutmütigem Lächeln, indem er sich offenbar bemühte, das Gespräch abzulenken, und den Hauch der Traurigkeit, der sich ringsumher verbreitet hatte, zu verscheuchen. »In der Freiheit kümmert man sich um alles, fragt sich, ob man nicht den andern schaden und den Erfolg des Werkes in Frage stellen wird; sitzt man dagegen einmal in der Zelle, so fühlt man sich für nichts mehr verantwortlich: man kann frei atmen. Man braucht nur sitzen zu bleiben und Cigaretten zu rauchen.«
»Du hast Newjeroff genau gekannt?« fragte Maria Pawlowna Krülzoff, dessen Gesicht sich von neuem verzerrt hatte und dessen Hände seit Nowodworoffs Worten wieder zu zittern angefangen hatten.
»Newjeroff ein Phantast?« fragte Krülzoff, indem er seine erloschene Stimme so viel wie möglich erhob. »Siehst du, Nejweroff war einer der Männer, von denen man sagt, die Erde bringe nur wenige ihresgleichen hervor! Er war ein wunderbarer Mensch, ein Mensch, den ich seiner Aufrichtigkeit wegen als durchsichtig bezeichnen möchte! Er war nicht allein unfähig zu lügen, sondern auch außer stande, seine geringsten Gedanken geheim zu halten. Und eine so feine Haut hatte er, daß die geringste Schramme ihn bis auf die Seele verwundete. Alle seine Nerven waren so feinfühlig . . . Ja, eine zarte, weiche Natur, eine schöne Natur! Ach, der war nicht wie . . . Doch, wozu darüber sprechen!«
Er schwieg einen Augenblick, doch man sah, daß der Zorn in ihm grollte.
»Leute von Newjeroffs Art,« fuhr er in bitterem und gequältem Tone fort, »fragen sich ängstlich, was besser sei: ob es besser sei, das Volk erst aufzuklären und dann erst die Lebensformen zu ändern, oder ob es vorteilhafter sei, erst die Lebensformen zu ändern; sie fragen sich, mit welchen Mitteln sie kämpfen sollen, ob mit der friedlichen Propaganda oder mit dem Terrorismus. Und darum nennt man sie Phantasten! – Die dagegen, die sie so nennen, fragen sich nichts, sie bestreiten nichts, sie kümmern sich nicht darum, ob ihr Wirken nicht zehn, Hunderten von Männern, und was für Männern, das Leben kosten wird! Im Gegenteil, es ist ihr Wunsch, daß die Besten umkommen mögen! Und die Besten kommen in der That um! Herzen sagte, die Proskription der Dekabristen hätte die Wirkung gehabt, das soziale Niveau Rußlands herunterzudrücken. Und daraufhin hat man Herzen und seine Mitstreiter proskribiert. Jetzt werden die Newjeroffs exkommuniziert!«
»Es wird aber doch nicht gelingen, alle Welt zu unterdrücken,« sagte Nabatoff. »Einige werden zur Schlußabrechnung doch noch dasein.«
»Nein, nicht ein einziger wird übrig bleiben, wenn wir diese Leute gewähren lassen,« rief Krülzoff, der immer wütender wurde, – »Emilia, gieb mir eine Cigarette.«
»Dir ist heute Abend nicht wohl,« sagte Maria Pawlowna, »ich bitte dich, laß das Rauchen.«
»Laß mich!« sagte er zornig, und zündete sich eine Cigarette an; doch schon bei dem ersten Zuge begann er wieder zu husten und zu ersticken. Einige Augenblicke blieb er liegen, um Atem zu schöpfen, dann wurde er von neuem lebhafter und sagte:
»Nein, so haben wir das Werk nicht aufgefaßt, so haben wir es gewiß nicht aufgefaßt. Wir überlegten, wir suchten nach den besten Methoden, während . . .«
»Aber sie sind doch auch Menschen,« warf die Rantzeff ein.
»Nein, das sind keine Menschen, die so handeln und denken können . . . man sollte sie ausrotten, wie die Wanzen, sie in die Luft sprengen; ja, das sollte man, weil . . .«
* * *
Er begann einen neuen Satz, als sein Gesicht plötzlich blutrot wurde und ein heftiger Hustenanfall ihn gleichzeitig auf das Kopfkissen zurückwarf; dann sah man einen Blutstrom aus seinem Munde fließen.
Nabatoff stürzte auf den Korridor, um Schnee zu holen.
Maria Pawlowna trat auf Krülzoff zu und reichte ihm ein Fläschchen mit Baldriantropfen; er aber stieß mit geschlossenen Augen das Fläschchen mit seiner fleischlosen Hand zurück und blieb lange Zeit unbeweglich, ohne wieder zu Atem kommen zu können.
Als der Schnee und kalte Wasserkompressen ihn schließlich so weit hergestellt hatten, daß seine Gefährten ihn entkleiden und zu Bett bringen konnten, nahm Nechludoff Abschied und ging in den Korridor, wo der Oberaufseher seit längerer Zeit auf ihn wartete.
* * *
Die gemeinen Kriminalverbrecher hatten jetzt ihren Lärm eingestellt, und die meisten schliefen. Sie schliefen nicht allein auf den Betten und unter den Betten, auf der Diele und vor den Thüren, sondern viele von ihnen, die im Innern der Säle keinen Platz hatten finden können, hatten sich nackt, mit ihren Reisetaschen unter den Köpfen, und, an Stelle der Betten mit ihren Kleidern zugedeckt, im Korridor hingelegt.
Die Säle und der Korridor hallten vom Schnarchen förmlich wieder, und überall lagen auf dem Erdboden seltsame menschliche Gestalten, die halb unter großen Mänteln verborgen waren. Nur einzelne Sträflinge, die in einer Ecke des Korridors beim Scheine einer Kerze Karten spielten, schliefen nicht. Nechludoff sah noch einen andern, der auch nicht schlief, einen alten Sträfling, der vollständig nackt unter der Lampe saß, und in seinen Kleidungsstücken nach Läusen suchte. Im Vergleich zu dem pestartigen Gestank dieses Korridors hatte Nechludoff die Empfindung, er habe in dem für die politischen Gefangenen reservierten Zimmer die reinste Luft geatmet.
Schließlich bahnte er sich doch einen Weg bis zum äußersten Ende des Korridors, indem er vorsichtig weiter ging, um die Schläfer nicht zu treten, die den Weg versperrten. Drei Gefangene, die zweifellos in dem Korridor selbst keinen Platz hatten finden können, hatten sich vor dem Eingang unter dem Unrateimer niedergelegt. Der eine von ihnen war ein Idiot, dem Nechludoff schon oft begegnet war; ein anderer war ein kleiner Junge von zehn Jahren; er schlief, wie die Kinder schlafen, die beiden Hände flach unter die Wange gelegt, während die verpestete Flüssigkeit des mit Exkrementen angefüllten Unrateimers langsam auf ihn herniedersickerte.
Im Hofe des Rastgebäudes blieb Nechludoff stehen, holte tief Atem und sog mit Behagen die eisige Nachtluft ein.