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Einer der beiden Gefangenen, die eben eingetreten waren, war ein noch junger, kleiner und trockener Mann mit kurzem Pelz und hohen Stiefeln. Er ging mit leichtem und raschem Schritte, trug in jeder Hand eine große Kanne mit kochendem Wasser und hielt unter jedem Arm ein in eine Serviette gewickeltes Brot.
»Ah, da ist ja auch wieder unser Fürst,« sagte er und setzte die Theekannen zu den Tassen, die die Rantzeff sorgfältig ausgewaschen hatte. »Wir haben ganz großartige Sachen gekauft,« fuhr er fort, nachdem er seinen Pelz ausgezogen und über die Köpfe der andern hinweg in einen Winkel des Zimmers geworfen hatte, in welchem sein Bett stand. »Markel bringt euch Milch und Eier mit. Ein wahres Festmahl, was! Und Emilja wird uns das alles servieren und es mit ihrer ästhetischen Sauberkeit noch verschönen,« fügte er mit einem an die Rantzeff gerichteten Lächeln hinzu.
Die ganze äußere Erscheinung dieses Mannes, seine Bewegungen, der Ton seiner Stimme, sein Blick, alles drückte bei ihm ein Gemisch von Mut und Fröhlichkeit aus. Dagegen hatte sein Gefährte ein düsteres und trauriges Aussehen. Auch er war ein Mann von kleiner Gestalt, doch knochig, mit einem grauen Gesicht und vorstehenden Kiefern. Er trug einen alten wattierten Mantel und Galoschen über den Stiefeln. Als er den Korb und den Topf abgesetzt, den er in der Hand hielt, begrüßte er Nechludoff sehr kühl mit einem Kopfnicken, indem er seine großen grünen Augen auf ihn richtete.
Diese beiden politischen Gefangenen stammten aus dem Volke. Der erste, ein gewisser Nabatoff, war ein Bauer; der andere, der Markel hieß, ein Fabrikarbeiter. Doch während ersterer seit fünf Jahren Revolutionär geworden war, war es Nabatoff schon fast seit seiner Kindheit. In der Schule seines Dorfes hatte er solche Anlagen gezeigt, daß man ihn aufs Gymnasium geschickt hatte; und auch hier hatte er wieder die ersten Plätze eingenommen. Er hatte es mit einer goldenen Medaille verlassen; doch anstatt dann die Universität zu besuchen, hatte er sich entschlossen, zum Volke zurückzukehren, denn er hielt es für seine Pflicht, das, was er gelernt, mit seinen Brüdern zu teilen. Er hatte sich in seinem Dorfe zum Schreiber ernennen lassen, hatte den Bauern allerlei Bücher geliehen oder ihnen vorgelesen, eine Art gegenseitiger Unterstützungskasse unter ihnen gegründet, und war bald verhaftet worden. Man hatte ihn, nachdem er acht Monate im Gefängnis gesessen, wieder freigelassen, doch von nun an hatte die Polizei ein Auge auf ihn. Kaum war er indessen in Freiheit gesetzt, als er in ein anderes Gouvernement gezogen war, wo er sich in einem Dorfe zum Schulmeister ernennen lassen und sein Apostolat von neuem begonnen hatte. Er wurde von neuem verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; doch diese Strafe hatte ihn in seiner Ueberzeugung nur bestärkt.
Als er seine zweite Strafe verbüßt, war er in das Gouvernement Perm verschickt worden. Hier war er sieben Monate geblieben und war dann, weil er sich geweigert, dem neuen Zaren den Eid der Treue zu leisten, von neuem ins Gefängnis geworfen und zur Deportation nach dem Gouvernement Irkutsk, tief nach Sibirien, verurteilt worden. So hatte er die Hälfte seines Lebens in den Gefängnissen oder in der Verbannung zugebracht. Doch alle diese Prüfungen hatten ihm, anstatt ihn zu verbittern, mehr Lebenslust und Energie verliehen. Er war ein Mann von höchster Widerstandskraft, körperlich und moralisch durch und durch gesund. Wo er sich auch befand, stets war er gleich thätig, kraftvoll und heiter. Nie bereute er das Vergangene, nie suchte er die Zukunft vorherzusehen; alle Kräfte seines Verstandes, seiner Geschicklichkeit, seines politischen Sinnes wandte er im augenblicklichen Zeitpunkt an. Wenn er in Freiheit war, bemühte er sich, die Sache zu verfolgen, die er sich zum Ziele gesetzt, das heißt, die Bildung und Aufklärung der Bauern. Wurde ihm die Freiheit geraubt, so bemühte er sich, die Lebensbedingungen in den Grenzen der Möglichkeit, sowohl für sich wie für seine Umgebung zu verbessern.
Für andere zu leben war bei ihm übrigens eine natürliche Notwendigkeit. Da er für sich selbst kein Bedürfnis hatte, und das Essen ebenso gut wie den Schlaf entbehren konnte, so verwandte er instinktiv seine kräftige Bauernthätigkeit zum Wohle der andern. In allem war er ein richtiger Bauer geblieben; gewandt mit seinen Händen, leichtlebig, unermüdlich, rechtschaffen ohne Anstrengung, aufmerksam und bedacht auf die Gefühle und Gedanken eines jeden.
Seine alte Mutter, eine ungebildete und abergläubische Bäuerin, lebte noch; und jedesmal, wenn Nabatoff in Freiheit gesetzt wurde, besuchte er sie. Er half ihr in allen ihren häuslichen Sorgen, ging mit seinen früheren Mitschülern im Dorfe in die Schenke, begleitete sie auf die Felder, rauchte mit ihnen Cigaretten und schlug sich mit ihnen herum, um ihnen zu beweisen, welchen Schaden ihnen ihre Dummheit und ihre Schwäche verursachte.
Während er von ganzer Seele eine Revolution zum Nutzen des Volkes erträumte, wollte er doch nicht, daß diese Revolution das Volk in etwas anderes verwandele, als was es war, noch daß es seine Lebensbedingungen allzu stark verändere, würde sie Bauern zu Herren des Bodens machen und sie von den Gutsbesitzern und Beamten befreien. Die Revolution sollte – nach seiner Ansicht – und darin war er ganz anderer Ansicht als Nowodworoff – nicht vollständig mit der Vergangenheit brechen und die Sitten und Gewohnheiten von Grund auf erneuern, sondern nur den verehrungswürdigen und kostbaren Schatz der nationalen Tradition zur besseren Verteilung bringen.
Er war sogar in seinem Verhalten der Religion gegenüber Bauer. Nie kümmerte er sich um das metaphysische Problem, die ersten Grundlagen, das künftige Leben. Er wiederholte gern, Gott wäre für ihn, wie für Laplace, eine Hypothese, deren Notwendigkeit er nicht einsehe. Es kümmerte ihn wenig, wie das Weltall begonnen hatte; und der Darwinismus, den die meisten seiner Gefährten sehr ernsthaft auffaßten, war in seinen Augen nur eine ebenso müßige Spielerei wie die Erschaffung der Welt in sechs Tagen.
Was das künftige Leben betraf, so dachte er nie daran; doch im Grunde seines Herzens glaubte er, er trage einen Glauben in sich, den er von seinen Vätern ererbt, einen allen Menschen, die in der Berührung mit der Erde leben, gemeinsamen Glauben. Ebenso glaubte er, daß in der Tier- und Pflanzenwelt nichts umkommt und alles sich umwandelt, ebenso daß der Mensch nicht umkommt; er wechsle nur das Leben. Er glaubte das, und deshalb betrachtete er den Tod ohne Furcht oder Zorn. Doch er dachte nicht gern über diese Glaubensanschauung nach, und noch weniger sprach er gern darüber. Nur die Arbeiter waren ihm lieb, und stets beschäftigte er sich mit praktischen Fragen und bemühte sich, seine Gefährten dazu ebenfalls zu veranlassen.
* * *
Ganz anders geartet war sein Gefährte, der Arbeiter Markel. Dieser war mit fünfzehn Jahren in eine Fabrik eingetreten, und im Alter von fünfzehn Jahren hatte er zu rauchen und zu trinken angefangen, um das Gefühl der Demütigung, das in ihm lebte, zu ersticken. Dieses Gefühl war an einem Weihnachtsabend in ihm erwacht, als die Frau des Fabrikbesitzers ihn zu einem Feste eingeladen, das sie für die Kinder der Arbeiter veranstaltet hatte. Markel und seine Kameraden hatten als Geschenk, der eine eine Pfeife, der andere einen Apfel, der dritte eine vergoldete Nuß bekommen, während man den Kindern des Fabrikbesitzers wunderbares Spielzeug geschenkt hatte, das für jeden wenigstens fünfzig Rubel gekostet hatte.
Trotzdem hatte Markel noch zwanzig Jahre lang das gewöhnliche Leben des Arbeiters weitergeführt. Er zählte fünfunddreißig Jahre, als er mit einer revolutionären Studentin Bekanntschaft angeknüpft, die Arbeiterin geworden war, um Propaganda zu treiben. Diese junge Person hatte ihm Broschüren und Bücher geliehen, mit ihm zu diskutieren angefangen und ihm über seine Lage, die Ursachen dieser Lage und die Mittel, sie zu verbessern, die Augen geöffnet.
Als Markel die Möglichkeit gesehen hatte, sich und die andern von der grausamen Bedrückung, unter der er seit seiner Kindheit litt, zu befreien, war ihm die Ungerechtigkeit dieser Bedrückung noch klarer vor Augen getreten, und seinem Wunsch nach Befreiung hatte sich ein tiefer Wunsch nach Rache gegen diejenigen, die ihn ungerechterweise unterdrückt hatten, zugesellt.
Die Möglichkeit der Befreiung für sich selbst und die andern käme von der Wissenschaft – so hatte man ihm versichert, und Markel hatte sich mit Leidenschaft darauf geworfen, Wissen zu erwerben. Hatte ihm die Wissenschaft nicht schon die Ungerechtigkeit der Lage, in der er sich befand, vor Augen geführt? Offenbar konnte nur sie dazu beitragen dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Und außerdem hatte die Wissenschaft in seinen Augen den Vorteil, ihn über die andern Menschen zu erheben, was stets sein geheimer Ehrgeiz gewesen war. Deshalb hatte er zu trinken und zu rauchen aufgehört, um alle seine freien Augenblicke dem Studium zu widmen.
Die Revolutionärin fuhr fort, mit ihm zu korrespondieren, und bewunderte mehr und mehr den erstaunlichen Eifer, mit dem er sich die verschiedenartigsten Kenntnisse zu eigen machte. Thatsächlich hatte Markel in kaum zwei Jahren Geometrie, Algebra, Geschichte gelernt, und alle möglichen kritischen und philosophischen Werke gelesen und vor allem die ganze moderne socialistische Litteratur in sich aufgenommen.
Dann war die Revolutionärin verhaftet worden; man hatte Briefe von Markel bei ihr gefunden, und dieser war ebenfalls verhaftet worden. In dem Gouvernement Wologda, wohin man ihn verschickt, hatte er die Bekanntschaft Nowodworoffs gemacht, hatte wieder eine Menge Bücher gelesen, eine Menge Dinge gelernt, die er nach und nach vergessen, und war in seinem Socialismus immer eifriger geworden. Als man ihm nach einigen Monaten erlaubte, in seine Heimat zurückzukehren, hatte er sich einen Streik in den Kopf gesetzt, der zum Brande der Fabrik und zur Ermordung des Direktors geführt hatte. Von neuem hatte man ihn verhaftet, und jetzt zog er, für den Rest seines Lebens zur Verschickung verurteilt, nach Sibirien. In Sachen der Religion zeigte er sich ebenso radikal, wie in Sachen der Wirtschaftspolitik. Da er von der Falschheit der Glaubensanschauungen, in denen er erzogen war, überzeugt war und sich davon freigemacht hatte, zuerst mit Furcht, dann mit Begeisterung, so empfand er gleichsam ein Verlangen, sich an allen denen zu rächen, die ihn im Irrtum erhalten hatten. Er sprach stets mit Haß von den Popen und verspottete die religiösen Dogmen auf das bitterste.
Er hatte die Gewohnheiten eines Asketen; und wie alle, die seit ihrer Kindheit zur Arbeit herangezogen werden, war er bei körperlichen Anstrengungen gewandt und unermüdlich. Noch im Gegensatz zu Nabatoff verachtete er die Anstrengungen und die Handarbeit unter allen Formen. Im Rasthause wie im Gefängnisse suchte er sich möglichst viele freie Zeit zu schaffen, um sich weiter zu unterrichten, was ihm stets mehr als die einzige ehrenhafte und nützliche Beschäftigung erschien. Er war im Begriff, in diesem Augenblick den ersten Band des Marxschen »Kapitals« zu studieren; er versteckte das Buch in seiner Reisetasche und bewachte es wie den allerkostbarsten Schatz.
Gegen seine Genossen zeigte er sich gleichgültig und zurückhaltend, bis auf Nowodworoff, an den er sich leidenschaftlich angeschlossen hatte und dessen Ansicht über alle Gegenstände er stets für die Quintessenz der Wahrheit selbst hielt.
Das Weib erschien ihm als das hauptsächliche Hindernis des sozialen Emancipationswerkes und der freien Entwicklung des Verstandes; daher empfand er für die Frauen eine absolute Verachtung. Nur bei der Maslow machte er eine Ausnahme, denn in ihr sah er ein typisches Beispiel der Ausbeutung der niedrigen Klassen von seiten der Begüterten. Er bezeugte ihr bei jeder Gelegenheit viel Rücksichten; und aus demselben Grunde verabsäumte er nie eine Gelegenheit, Nechludoff die ganze Abneigung, die er gegen ihn hegte, zu erkennen zu geben.