Alexander von Tilly
Die Memoiren des Grafen von Tilly - Zweiter Band
Alexander von Tilly

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Zwanzigstes Kapitel.

The cloudcapt towers, the gorgeous palaces,
The solemn temples, the great globe itself,
Yea, all which it inherent, shall dissolve!
And, like the baseless fabric of a vision
Leave not a wreck behind. – We are such stuff
As dreams are made on, and our little life
Is rounded with a sleep.         (Shakespeare.)

Postquam res Asiae, Priamique evertere gentem
Immeritam visum Superis.         (Virgil.)

Fern von uns der eitle Stolz des Geschichtsschreibers, der sich mit seiner Wissenschaft bläht, und ebenso wenig die Grenzen derselben als des Weltalls, der Zeit und des Raums anerkennt, obschon alles ihm zuruft:

the great globe itself shall dissolve!

begnügen wir uns, das zu berichten, was wir mit Augen sehen, mit Händen fühlen und mit unserm Verstand erreichen können. Seien wir bescheiden, wie es sich für beschränkte Wesen, für Blinde, für Nachtwandler geziemt, deren ganzes Leben ein Traum ist, und denen es überall an mathematischer Gewißheit fehlt, besonders in der Geschichte, welche selbst nicht mehr als eine für wahr angenommene Fabel ist. Beschränken wir uns auf kurze Betrachtungen, unterwerfen wir sie einem lobenswerten Zweifel, lassen wir das Schauspiel dieses Lebens vor uns vorübergleiten, sammeln und berichten wir einige Tatsachen, die uns Tatsachen zu sein scheinen, weil wir Zuschauer oder Mithandelnde gewesen sind!


Vergniaud, dessen ich schon Erwähnung getan habe, Vergniaud, der größte Redner unter den Volksrepräsentanten, wenn man unter Beredsamkeit die Gabe versteht, auf das Gemüt einzuwirken, die verhandelten Fragen zu beleben, die Leidenschaften zu erregen – Vergniaud hegte eine tiefe Verachtung gegen alles, was Faktion hieß, und gewiß die allergrößte gegen die, zu welcher er selbst gehörte. Aber seine Eitelkeit, seine Sucht, als Redner zu glänzen, und sein erster Impuls fesselten ihn an die einmal getroffene Wahl. Gern hätte er ein ehrenvolles Mittel ergriffen, sich loszumachen (als wenn es eines ehrenvollen Vorwandes bedurft hätte, aus einem Verein auszutreten, der ohne alle Ehre war)! Er machte kein Hehl daraus. »Die Ruhe und zwanzigtausend Livres jährlicher RentenIch habe von Herrn Laporte den Auftrag und die Berechtigung gehabt, ihm noch mehr anzubieten. wären mir weit lieber als das Lärmen in der Versammlung und das Blut auf den Straßen.« So sprach er, so dachte er gewiß auch; gleichwohl fehlte es ihm an Entschlossenheit, eine Bahn zu verlassen, die ihn mit Ekel und Widerwillen erfüllte.

Er hat mir mehr als einmal wiederholt: »Ich halte den König für einen Biedermann, aber er ist nicht zu retten;Il est insauvable – je le crois honnête homme. er danke ab, er begebe sich mit der Königin wohin er wolle, er lasse uns seinen Sohn. Noch ist es Zeit. Ich habe es übernommen, auf seine Suspension anzutragen; lassen Sie ihm eine Warnung zukommen, wenn Sie wollen; er läuft die größte Gefahr und hat nur das eine Mittel, ihr zu entgehen, und nur einen Augenblick, sich zu entschließen.Am 11. August erinnerte ich ihn an diese Worte, die er vor nicht ganz acht Tagen zu mir gesprochen hatte. Ich bat ihn, die Abdankung des Königs zur Sprache zu bringen, und ein Dekret zu veranlassen, welches Ihre Majestäten ermächtigte, mit einem angemessenen Jahrgeld aus Frankreich zu scheiden usw. Er gab mir zur Antwort: »Es hängt nicht mehr von mir ab; der günstige Augenblick ist vorüber.«

Als in London ein Herr Abbé von M..., ein Herr Chevalier von P... und andere zwar zugaben, mein Schreiben an den König vom 27. Juli 1792Man findet es in den Oeuvres mêlées du Comte Alexandre de Tilly. Berlin 1803. S. 158–181. Es ist mit Anmerkungen und folgendem Motto versehen:
Ploravere suis non respondere favorem
Speratum meritis.

sei gut gedacht und gut verfaßt, mir aber das Recht absprachen, es geschrieben zu haben – sagten die Herren (mit ihrer gütigen Erlaubnis) eine Sottise und eine Armseligkeit. In einem so feierlich wichtigen Zeitpunkte, wie dieser war, hatte jeder Franzose das Recht und einen Beruf, an den König zu schreiben und ihm nützliche Wahrheiten zu sagen. Vor allen anderen konnten diejenigen, die durch ihre Verbindungen, ihre bekannte Ergebenheit, und durch eigenes Interesse über allen Verdacht und Zweifel in Hinsicht der Lauterkeit ihrer Absichten erhaben waren, nicht des Mangels an Ehrerbietung beschuldigt werden, selbst wenn sie in dem Feuer ihres Eifers zu weit gingen. Dem sei, wie ihm wolle, dieses Schreiben, welches so oft angeführt, in fremde Zeitschriften aufgenommenZ. B. in die englischen Zeitungen. (Uebers.) und in mehrere Sprachen übersetzt worden ist, war mit einer prophetischen Dreistigkeit abgefaßt. Es enthielt Wahrheit und Weissagung; es war ein Todesurteil, sobald man die Mittel verwarf, die es zur Abwendung des Streichs vorschlug. Der König dachte anders darüber als der Herr Abbé von M... und der Herr Chevalier von P... Er ließ mir durch Herrn de la Porte danken. Er tat noch mehr, und die schriftliche Antwort, die Se. Majestät mir zustellen ließ, und die ich an sicherem Orte aufbewahre,Sie hat sich unter den Papieren des Grafen von Tilly nicht gefunden. (Uebers.) wäre hinreichend, den Neid und die Bosheit zum Schweigen zu bringen; sie reicht wenigstens zur vollständigen Beruhigung meines Gewissens hin und ist in meinen Augen der schönste Lohn der Treue und der Pflichten, die ich mir damals so feierlich und heilig auferlegen zu müssen glaubte.

Noch rauchte und glimmte die Asche in den Tuilerien. Ich irrte auf den Straßen von Paris umher, angetan mit den Lumpen des Elends und der Dürftigkeit, im schmutzigsten Aufzuge, – denn das war für den Augenblick die beste und einzige Sicherheitskarte. Ich mischte mich unter die furchtbaren Pöbelhaufen, von denen sich meine Blicke mit Abscheu wenden mußten, und die ich mich gleichwohl nicht entschließen durfte zu verlassen. Ich tat Fragen, auf welche oft abscheuliche, oft verständige Antworten erfolgten, worin aber jederzeit der Blutdurst und die Zerstörungswut vorherrschend waren. Keiner dieser Mordsüchtigen wollte sich erinnern, daß er unter einem König geboren sei, daß er diesen König als eine sichtbare Gottheit verehrt habe; keiner erinnerte sich an die angeborene Ehrfurcht für privilegierte Stände. Alle hatten die unsichtbare, aber heilige Kette gesprengt, welche sich in einem Staate um die gesamten Bürger wie um eine einzige Familie schlingt. Während die wildesten Horden sich ihren Gesetzen fügen, schien es, als wenn in Paris nur ein Gesetz herrschte und Gehorsam erheische: das Gesetz des Blutbades, der Zerstörung; der Tigerinstinkt, der, ohne gereizt zu sein, würgt, um zu würgen. Keine persönliche Furcht – ich darf es behaupten – drang in mein Herz, desto tiefer fühlte ich ein unüberwindliches Entsetzen beim Anblick der Ströme Blutes, die mit kannibalischer Barbarei auf Befehl einer Regierung vergossen wurden, welche damals die einzige in Frankreich war.

So kann man gegen sein eignes Leben gleichgültig werden, dasselbe vergessen, dasselbe geringschätzen, und doch vor Greueln zurückschaudern, die die Allgemeinheit betreffen.

Die Verhaftungen vervielfältigten sich, alles schwebte in Furcht und Schrecken; nur Exzesse und Frevel blieben unbestraft. Auf der einen Seite dumpfes Hinbrüten der Bestürzung und Angst, auf der andern ungebundene Frechheit; hier Entsetzen ohne Hoffnung, dort losgelassene Wut; nirgends unbefangene Ruhe auf den Zügen und in der Haltung. Schon mehr als einmal waren die Trabanten und Söldner des Mordes und der Anarchie bei mir eingedrungen, bald mit offener Gewalt, bald mit verstellter List. Schon hatte ich aus Vorsicht auf vierundzwanzig Stunden meine Wohnung verlassen – aber was tut nicht die Liebe zur Heimat – ich schwankte noch immer, ob ich sie mit dem Rücken ansehen sollte. Seine Mutter fliehen, selbst wenn sie die Kinder, die sie erzeugt hat, mit unmenschlicher Härte von sich stößt, sie enterbt oder wie Medea ermordet – welches Kind vermag es ohne langen Kampf mit sich selbst?

Der Abbé d' Espagnac, den ich bei einem Freunde antraf, gab mir den Rat, zu Danton zu gehen, und bot sich mir als Begleiter an. Danton empfing mich mit Anstand und Teilnahme. Er sagte mir zwar gleich im Eingange: »Ihre Grundsätze und Denkungsart sind mir wohl bekannt, Sie haben sie nie verleugnet; Ihr Verhalten war immer offen, folgerecht und von der Art, daß ich es dem verstellten Jakobinismus der Leute von Ihrer Kaste vorziehe. Ich werde Ihnen Beweise meiner Achtung geben; Ihr Freimut ist tausendmal mehr wert als ein erheuchelter Patriotismus und gewisser Menschen vorgegebene Liebe zu einer Revolution, welche sie im Herzen verwünschen und verabscheuen, vielleicht in ihrer Lage mit Grund. Kann ich nicht mehr für Sie tun, so verspreche ich Ihnen wenigstens das Leben.« – Im Augenblick meinte er es so, wie er sagte.il était de bonne foi.

Aber zu jeder Zeit haben die Triumvirn bei Staatsumwälzungen mit ihren Schlachtopfern Schacher getrieben. Schon am folgenden Tage erfuhr ich durch Manuel (und ohne Zweifel durch diesen von Danton selbst), daß ich dem verruchten Fahre d'Eglantine überlassen und preisgegeben und mein Kopf der Gegenstand eines heftigen Kampfes und eines langen Widerstandes gewesen sei!... Manche Witzköpfe werden hier vielleicht sagen, mein Kopf wäre keines langen Kampfes, keines heftigen Widerstandes wert gewesen, aber es hat Leute gegeben, deren Kopf noch weniger galt, und die doch alles getan haben, ihn auf den Schultern zu behalten.

Es kann mir kein Zweifel über Condorcet bleiben. Er hatte seine Hand im Spiele. Er gehörte zu meinen Verfolgern, zu denen, welche die geheime Rache an mir zu üben gedachten, die sie längst bei sich herumtrugen.

Kundschafter, deren mehr als verdächtiges Ansehen sie verriet, wurden in meiner Nachbarschaft bemerkt. Ihr Auflauern, und noch mehr als dieses, ihr Forschen, ihre versteckten Fragen, öffneten meinem Diener, der auf sie acht gab, die Augen. Er hielt sich zu ihnen, gab ihnen zum Schein falsche Aufschlüsse, tat seinerseits Fragen, und erfuhr bestimmt, nachdem er sie treuherzig gemacht, wer sie abgeschickt hatte. Sechs Wochen später, und als ich glücklich in London angelangt war, gab ich ein Schreiben heraus),S. das Schreiben des Grafen von Tilly an Condorcet vom 5. Nov. 1792, in den Oeuvres mêlées du Comte Alexandre de Tilly. Berlin 1803. welches ziemliches Aufsehen machte und hinreichend war, den heimlichen Verschwörer gegen meine Freiheit und mein Leben zu entlarven und zu brandmarken.

Ein berühmter Arzt, dessen Eitelkeit ich verletzt haben mochte und der in der Revolution einigen Einfluß gewonnen hatte, verfolgte mich ebenfalls mit Erbitterung; er wollte mich wie einen seiner Kranken behandeln.

Bei so vielen und guten Gründen und Beweggründen war es mir wohl vergönnt, nicht länger unschlüssig zu bleiben. Und so widerstand ich denn auch nicht länger den dringenden Vorstellungen und Bitten einer Freundin, welche mehr über mich vermochte und mich schneller zu dem Entschluß brachte, Frankreich zu verlassen, als alle Ratschläge, Reflexionen und vorschwebende Gefahren. Sie verschaffte mir einen Paß, den ich selbst mit einem falschen Namen ausfüllte, nachdem ich auf einer Fensterscheibe, so gut es sich tun ließ, die Namen der beiden Munizipalbeamten Da... und Ta... kopiert und eingetragen hatte. Dieser Paß, der mich hundertmal hätte verraten müssen, wenn die Beschauer ein paar Augen im Kopf gehabt hätten, half mir überall die ganze Reise durch und brachte mich glücklich an die Küste. In Saint Denis, wo ich ihn zuerst keck vorzeigte, erhielt er die erste Sanktion, und nun ging's, wie mit der Göttin Fama, vires acquirit eundo: von Stadt zu Stadt gewann das Papier an Ansehen und Wert, denn war es nicht zuerst in Saint Denis von den Zivil- und Militärbehörden visiert und unterzeichnet worden? Nur in Abbeville hätte es mir übel ergehen können. Ich hatte den Fehler begangen, bei hellem Tage in einer Postchaise, die ich auf der vorigen Station gemietet hatte, einzufahren. Ich wurde nun auf das Stadthaus gebracht – und zwar während einer Sitzung der Notabeln (zu Deutsch, der Honoratioren). Diese Herren waren die ausgemachtesten Demagogen, die es damals in einer Provinzialstadt geben konnte; die ärgsten Wichte, die von ihren Mitbürgern an die Spitze der Verwaltung gestellt waren, fünf oder sechs Rasende, die sich einbildeten, sich auf den Gipfel ihres neuen Berufs geschwungen und die Höhe der Revolutionsprinzipien und der Zeit erreicht zu haben. Sie müßten – so erklärten sie sich – an ihre Brüder, an die Munizipalität von Paris, schreiben. – Ich gab einen wichtigen, geheimen Auftrag vor und machte sie für jeden Verzug verantwortlich, den ihr patriotischer Eifer meiner Eile in den Weg legen würde. Mein Gesicht, einige Spuren älterer Toilette und eines nicht ganz abgelegten Anstandes wollten ihnen nicht behagen, obschon ich mich anstrengte, meinen Worten den ganzen Ton des Sansculottismus zu geben, und sie von den Maßregeln unterhielt, welche wir nach dem Fall des letzten Tyrannen in Paris getroffen hätten. Endlich stimmte der Mindestbesessene der Bande für ein »Laissez-le aller!« und sein Wort ging durch. Hier nun, wo ich das meiste zu befürchten hatte, erhielt ich die größte Sicherheit für die übrige Reise, denn auf meinen Wisch von Paß hatte ich die Freude, den schützenden Zusatz zu erhalten: »Vu passer en Conseil permanent dans le lieu de nos séances, le présent passeport dûment examiné et vérifié, et y ayant à ces causes apposé nos signatures etc. etc.«

Bevor ich Paris verließ, hatte ich meinem Freunde Champcenetz den Schlüssel zu meinem Sekretär zugestellt und ihn ersucht, unmittelbar nach meiner Abreise, sobald es sich wenigstens in voller Sicherheit tun ließe, sich in meine Wohnung zu begeben und daselbst zwei Bündel Briefe, mit der Nummer 5 versehen und grün versiegelt, zu verbrennen. Ich hatte ihm ferner angelegentlich empfohlen, mit allen nur möglichen Mitteln zu versuchen, mir ein Bildnis zukommen zu lassen, auf welches ich einen unendlichen Wert legte. Allem Anschein nach ist es ihm unmöglich gewesen, beide Teile meiner Bitte zu erfüllen, denn nicht nur habe ich nie das gewünschte Porträt erhalten, sondern von jemandem, der sehr wider Willen damals angestellt war, erfahren, daß meine beiden Briefpakete nach der Munizipalität gebracht, dort gelesen worden wären und die gestrengen Herren überaus belustigt hätten.

Das war an sich zwar lustig genug, weniger lustig aber war es, daß durch dieses öffentliche Vorlesen eine Person, deren Achtung mir teuer ist, in den Augen des Mannes, den sie vor allen anderen Ursache zu schonen hatte, verlor und kompromittiert wurde. Sollten diese Memoiren bis zu ihr gelangen, so würde sie ohne Zweifel bedauern, den Brief geschrieben zu haben, den ich 1797 in Hamburg von ihr erhielt. Sie würde einsehen, daß mir weiter nichts zuschulden kommt, als daß ich zu lange gesäumt hatte, die Beweise eines Gefühls zu vernichten, welches sie in ihrem Briefe so ganz vergessen zu haben vorgibt.

Was aber den unglücklichen Champcenetz betrifft, was habe ich nicht getan, ihn den Henkern zu entreißen, die ihn gemordet haben? Es war nicht schwer vorauszusehen, daß ein Mann, der über alles gespöttelt hatte, auf das Blutgerüst kommen würde, um dort ernsthafter bespöttelt zu werden. Ich bewies ihm klar und bündig, es würde für ihn kein Wunder geschehen, und ein wahres Wunder würde es sein, wenn er einer so allgemeinen Verdammnis entginge, von welcher man sich nicht anders als durch die Nacht der Vergessenheit und des Schweigens retten könne. Ein Mann wie er, der sein ganzes Leben darauf verwendet, Geräusch und Aufsehen zu machen, heute ein Bonmot zu sagen, damit es morgen überall nachgesprochen würde, andere zum Lachen zu bringen oder über sie und über sich selbst ein schallendes Gelächter zu erheben – ein solcher war freilich weit von dem Verdachte entfernt, ein Verschwörer zu sein. Um so mehr aber war es vorauszusehen, daß er ein auffallender Visierpunkt sein und zu einer Zeit nicht verfehlt werden würde, wo man gewohnt war, die Schlachtopfer in derselben Rangordnung aufs Schafott zu bringen, als sie bisher in der Welt aufgetreten waren, und wo das einzige Mittel, sein Leben nicht zu verlieren, darin bestand, für tot zu gelten. Sein Verstand ging auf meine Gründe ein, aber seine Trägheit begriff mich nicht. Ja, noch mehr, er tat, was er konnte, mich selbst in sein Unglück hineinzuziehen, versuchte alles, mich in Frankreich zurückzuhalten, bot mir ein Bett und die Hälfte seiner Wohnung an. Er ging noch weiter und wollte mir bange damit machen, daß jeder Versuch zur Flucht zu spät komme, die Barrieren von Paris seien verschlossen, aller Augen geöffnet, alles, was reisen wolle, verdächtig, jeder Ausweg versperrt, alles unter den Waffen; ich würde, wenn ich auch wirklich durchkäme, auf freiem Felde ergriffen, als der wahre Tilly erkannt und entweder zurückgebracht oder jämmerlich ermordet werden.

Es lag nicht in meinem Verhängnis, dem Unglückspropheten zu glauben. Ich bestand auf meinem Entschluß und sagte ihm das letzte Lebewohl auf Erden. Später suchte ich mit Herzensbangigkeit seinen Namen auf jedem Totenverzeichnis und fand ihn später, als ich es vermutete, auf jenen Mordblättern, welche ganz Europa mit Entsetzen und Unwillen erfüllten und die Namen der Opfer enthielten, die wie Herden schutzloser Lämmer von blutgierigen Tigern in ihre Höhlen geschleppt, nacheinander von ihnen zerfleischt wurden.

Die Freundin, welche mich zur Abreise überredet hatte, war zugleich auf das rechte Mittel bedacht gewesen, meine Flucht zu sichern. Sie hatte einen Begleiter für mich gefunden, auf den sie wie auf sich selbst zählen konnte. Als ich von Champcenetz zu ihr kam, fand ich diesen Mann bei ihr, der schon auf mich wartete. Er setzte mir einen Bortenhut auf, knöpfte mich in einen Kutscherüberrock und ließ mich in diesem Aufzuge hinten auf sein Kabriolett steigen. So gelangten wir in der Nähe von St. Denis an ein abgelegenes Haus, wo ich die Nacht im einem Zimmer zubrachte, welchem ich, wenn ich es mit einer Bodenkammer vergleichen wollte, viel Ehre antun würde. Sowie der Morgen anbrach, trennte ich mich von meinem Führer, um, wie ich oben erzählt habe, mich von Stadt zu Stadt durchzuschleichen und den nächsten Hafen zu gewinnen. Meistenteils reiste ich des Nachts, bald zu Fuß, bald auf Mietswagen, hielt mich am Tage verborgen, war dreimal nahe daran, mich unterwegs zu verraten oder erkannt zu werden, und erreichte so am 25. August 1792 um 10 Uhr in der Nacht Boulogne.

Mein Signalement war vor mir eingetroffen.

Ich hatte mich schon unterwegs entschlossen, mich einer Engländerin, der Eigentümerin des British-Hotel, anzuvertrauen. Wie oft war ich in diesem Gasthof abgestiegen, in einer ganz anderen Lage, unter ganz anderen Umständen, zu einer ganz anderen Zeit als in dieser nächtlichen Stunde. Ich schaute im Hofe durch die Fenster, welche erleuchtet waren, ob ich nicht Mistreß Knouth entdecken würde. Zum Glücke fand ich sie; ich trat ins Zimmer, sie war zu meinem noch größeren Glücke allein. Meine schmutzige, bestäubte Kleidung, mein verzerrtes, von der Reise angegriffenes Gesicht, mein leises Auftreten und die dringenden Bitten um Verschwiegenheit bewirkten, daß sie ein paar Schritte zurückwich und mich, den sie nicht gleich wiedererkennen konnte, für eine der Gespenstergestalten hielt, welche ihre Landsmännin, Mistreß Radcliffe, mit so verschwenderischen Händen in ihre Romane einstreut, die sie ohne Zweifel auf Gottesäckern entworfen und zu Papier gebracht hat. Ich nannte mich, und noch bedurfte es einiger Zeit und Besinnung, ehe sie mich zu einem der Bewohner dieser schlimmsten Welt rechnen mochte. Ich fragte sie endlich, als sie sich meiner erinnert hatte, ob sie entschlossen sei, mein Zutrauen zu verdienen und zu rechtfertigen, oder ob sie mich anzugeben gedenke. Ich bat nur um eins: »Lassen Sie mich nicht lange in Zweifel.« Sie bedachte sich keinen Augenblick, führte mich selbst auf mein Zimmer, schloß hinter mir die Türe ab, kam bald wieder, brachte mir zu essen und wünschte mir eine gute Nacht. Ich schlief fünfzehn Stunden hintereinander und vergaß die ganze Zeit über, daß es eine Revolution, daß es Munizipalbeamte, daß es Räuber und Mörder und Tyrannen in Frankreich gab. So ruhig mein Schlaf, so ruhig und angenehm waren meine Träume.

Als ich erwachte, meldete sich ein Herr Parker, Gehilfe der guten Mistreß, und schlug mir vor, mich der Gelegenheit eines Fahrzeugs zu bedienen, welches soeben die Leute und Pferde des Lords Gower nach England brächte. Als er mich sehr geneigt fand, das Anerbieten anzunehmen, beeilte er sich, den Schiffskapitän zu, holen, um Verabredung zu treffen. Der uneigennützige Engländer versprach mir, gegen Erlegung von fünfundzwanzig Louisdor mir am Bord eine Schütte Stroh zu geben und mich mitzunehmen. Ich würde das Opfer gebracht haben, wenn er mir die gehörige Sicherheit hätte geben können, daß sein Schilf vor der Abreise nicht von den Douane- und übrigen Beamten visitiert werden würde. Doch hiervon konnte mich seine ganze Beredsamkeit nicht überzeugen, und somit zerschlug sich das Geschäft, nachdem ich mit einem bedeutenden Geschenk sein Schweigen erkauft hatte.

Nach einiger Zeit ließ sich Parker von neuem in meinem Versteck sehen und brachte einen Mann mit sich, eine wahre Galgen- und Spitzbuben-Physiognomie. Er sei, sagte er mir, ein grundehrlicher Schmuggler, der die heiligste Versicherung und seinen Kopf zum Pfände gäbe, daß er mich heil und gesund in Dover einschwärzen wolle. Er war noch uneigennütziger als der Kapitän und verlangte nicht mehr als vierzig Louis.

Wer war mir aber gut dafür, daß dieser Mensch, der von Betrug lebte, mich nicht verraten oder, um sein Boot zu erleichtern, mich nicht über Bord werfen würde? Ich hatte nicht Zeit, alle diese Betrachtungen anzustellen, und überließ mich ihm mit Leib und Seele. Jetzt mußte ich eine Jagdtasche umhängen, eine Flinte auf die Schulter nehmen und ihm folgen. In diesem Kostüm erreichte ich mit ihm das Ufer, bis wohin vom Hotel d'Angleterre bekanntlich nur wenige Schritte sind. Es war Flut, und wir mußten längs der Küste bis an die Knie im Wasser waten. Mein Kompagnon schoß von Zeit zu Zeit; ich tat dasselbe auf sein Geheiß. Wir verfehlten die Seemöwen, die nicht einmal in Schußweite bei uns vorbei oder über uns weg flogen. Er zielte so wenig als ich, denn uns war nur um den Lärm zu tun, nicht um den Vogel. So ging's zwei Stundein lang fort, immer die See entlang, bis wir eine letzte Anstrengung machten und, bis an die Brust im Wasser, uns endlich einem Boote, einem Kahne näherten, der an dem kleinen Mastbaume kein Segel, wohl aber ein altes, durchlöchertes Laken zu hängen hatte. Ich fand in diesem respektablen Fahrzeuge, womit ich das Meer durchschiffen sollte, zwei Matrosen, deren Sprache und Aeußeres nicht gerade dazu angetan waren, um mir Mut einzuflößen. Mein Führer sprach einige Worte mit ihnen, die ich nicht verstand, packte mich um den Gürtel, hob oder vielmehr schwenkte und schleuderte mich in den Kahn wie einen, von dem man bezahlt worden ist, um dessen Arme und Beine man sich aber nicht weiter bekümmert. Meine Lage war nichts weniger als glänzend und erfreulich. Ich übersah sie in ihrem ganzen möglichen Umfang und entschloß mich schnell zu Maßregeln, wodurch ich sie verbessern könnte. Ich setzte mich an dem einen Ende des Kahns nieder, und indem ich meine Pistolen hervorzog und den Hahn spannte, redete ich die beiden Bootsknechte an: »Seht her und hört mich an: sowie einer von euch mir um einen Schritt näher kommt, ist er des Todes. Dagegen aber, bringt ihr mich vor neun Uhr abends nach Dover oder einen andern englischen Hafen, so sind meine letzten zehn Louisdor euer.« – Meine Anrede schien sie zu befremden und Eindruck zu machen; sie erwiderten kein Wort, und ohne während einer zehnstündigen Ueberfahrt von beiden Seiten einen Laut von uns zu geben, ging es vorwärts, bis wir noch vor sieben Uhr abends in Stockport einliefen, naß wie die Katzen und nasser als der Opernsänger, der dem Schiffbruch entkommen ist.

Der Pfarrer des Orts und der Friedensrichter fanden sich bald nachher bei mir ein und machten mir die zuvorkommendsten gastfreundlichen Anerbietungen. Mit ihrer Menschenliebe, mit ihrem patriotischen Eifer verband sich ein guter Teil Neugierde und der Wunsch, von der wahren Lage der Dinge in Frankreich so viel als möglich zu erfahren. Ich befriedigte die Fragelustigen in der Kürze, und sobald vorgefahren war, beurlaubte ich mich mit Worten und Gefühlen der Dankbarkeit, stieg in die Postchaise und schlug die Straße nach Dover ein, welches ich in zwei Stunden erreichte.

Hier angekommen, atmete ich frei und dankte Gott, der mir gegen alle Wahrscheinlichkeit zu dem Glücke verholfen hatte, meinen Feinden und ihren Verfolgungen und Schlingen zu entgehen, und mit dessen Hilfe und Beistand ich in ein schützendes Land gelangt war; der tröstende Anblick desselben konnte mich aber nicht die Heimat vergessen lassen, aus der ich so sehr wider meinen Willen und allen meinen Wünschen und Neigungen zuwider mich verbannt sah.

Ich brachte zwei Tage in Dover zu. Unaufhörlich und unwillkürlich irrte ich an dem Gestade umher; in meiner Unruhe, in der Verwirrung meiner Gedanken fragte ich die See nach den Ursachen des schnellen Wechsels, von Stürmen zur Ruhe, von Ruhe zu Stürmen; ich fragte sie, wie sie so plötzlich ihre Wellen gegen die Wolken schleudere und ebenso plötzlich eine spiegelglatte Oberfläche zeigen könne; ich fragte sie nach der Hand, welche Ihre Wogen aus der Tiefe hervorwühle und sie in ihren Kerker zurückdränge. Eine hohle, tosende Stimme schien zu antworten: der Gott der Stürme sei auch der Gott der Revolutionen; alles im Meere und auf Erden sei Wechsel und Unbeständigkeit; nichts geschehe, was nicht eine Folge der ewigen Ordnung, der Ratschläge, der Weisheit des höchsten Wesens sei; alles liege im allgemeinen Plan einer festen, auf berechneten Grundsätzen ruhenden Bestimmung.

Jetzt warf ich einen Blick des Bedauerns auf Erde und Meer und hob ihn gen Himmel. Nur im Himmel war mein Hoffen, weil alles, dieses einzige, letzte, unbekannte Asyl ausgenommen, wo die Hoffnung ihren Sitz hat, den Menschen verläßt und verrät.

In Dover fand ich den Lord Cholmondley, dessen Bekanntschaft ich in Frankreich gemacht hatte, und seine liebenswürdige Gemahlin. Sie standen wie ich am Ufer und betrachteten die See, nur aus anderen Beweggründen als ich. Sie waren glücklich, sie hatten ein Vaterland, sie besaßen alles, was der Heimat Wert geben kann; sie lebten im Genuß eines unermeßlichen Vermögens. Lady Cholmondley liebte das Leben, nicht wie eine ihres Geschlechts überhaupt – denn, dieses Geschlecht hängt weniger daran als unseres und achtet es gering, wenn eine große Leidenschaft im weiblichen Herzen vorwaltet – aber wie eine glückliche und im Glück gleichgültig gewordene Frau. Im Begriff, sich nach Neapel einzuschiffen, um zu ihrer sterbenden Mutter, der Herzogin von Ru... zu eilen, stand sie am Rande des Meeres, zitternd und zagend, und hätte es gern befragt, ob es sie sicher zu Italiens Küste tragen werde. Sie schien die Wellen zu beschwören, fand sie aber nicht heiter und ruhig genug, und ihr Gemahl, der ihr vergebens Mut einsprach, teilte ihre Besorgnisse und suchte den Augenblick der Trennung so lange als möglich zu verschieben. Ach, sie bedachten nicht in ihrer Hoffnung auf Meeresstille, daß das falsche Element nie gefährlicher ist, als wenn es seine Gefahren im tiefen Schoße verbirgt, und daß die Stunde des Sturmes gleich nach der wolkenlosen Stunde schlägt. Frankreich war ja auch still, ruhig und sonnig gewesen.

Nachdem ich einige Geschäfte mit dem Bankhause Minet & Factor, auf welches ich Wechsel hatte, in Ordnung gebracht, machte ich mich nach London auf den Weg und erreichte es noch vor Nacht.

Zur Steuer der Wahrheit muß ich sagen, daß ich alle Klassen der Nation über die Unruhen, Trübsale und Aussichten von Frankreich bestürzt und niedergeschlagen fand. Die Schicksale meines Vaterlandes erregten eine allgemeine Teilnahme von den ersten Klassen der Gesellschaft bis zu den letzten. Der Mann, der die Zügel der Politik Englands in Händen hielt und seine Leitung über ganz Europa ausdehnte, der Mann, den Frankreich mit Recht den Urheber und das Werkzeug seines Umsturzes und seiner Leiden nennen kann; – dieser Mann, Pitt, verabscheute sicherlich als Mensch die Grundsätze, die er als britischer Minister befolgte. Ich will hoffen, er werde mit hinreichenden Gründen vor den Richterstuhl des Allerhöchsten getreten sein, um Rechenschaft abzulegen, warum er die Flamme angeschürt hat, welche Frankreich verzehren sollte – welche es langsam verzehrte, bis durch eine rettende Hand hier der Brand gelöscht worden ist, während er seinem Vaterlande ein Vermächtnis künftigen, in Frage stellenden Unglücks hinterlassen hat, dessen Ahnung ihm auf dem Totenbette Worte erpreßte, welche seine letzten waren: »Oh the times! Oh my country!« – Diese letzten Worte des Sohnes des großen Chatham sind auch die meinigen!!!

Ich lege hier die Feder nieder; aber ehe ich sie wieder aufnehme, um den zweiten und interessantesten Teil meiner Lebensgeschichte (einen Zeitraum von fünfzehnjährigen Irrsalen in den Hauptstaaten von Europa und in der Neuen Welt)Von 1792 bis 1807. zu schreiben und zu beischreiben, will ich das Urteil eines Richterstuhls abwarten, dem ich diesen ersten unterwerfe. Dieser Richterstuhl, der nie täuscht, wenn man ihn bescheiden, gelehrig und ohne Vorurteil befragt – dieser Richterstuhl ist – Zeit und Ueberlegung. Beide sollen mich bestimmen. Vor allem aber will ich, daß dieses mein Werk – mein, mindestens gesprochen, nicht gewöhnliches Werk – ohne Gefahr, ohne Galle, ohne Gift zu erregen, erscheinen und weder dem Verfasser noch denen Schaden soll, die darin erwähnt und aufgeführt sind. Das sicherste Mittel, diesen heilsamen und moralischen Zweck zu erreichen, ist – nach reiflicher Ueberlegung – daß es nur dann hervortrete, wenn beide – Verfasser und Beteiligte – nicht mehr sind.


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