Alexander von Tilly
Die Memoiren des Grafen von Tilly - Zweiter Band
Alexander von Tilly

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Achtzehntes Kapitel.

Γη̃ρας ανθρώπων τὰ βαλαυει̃α
Senectus hominum balnea calida.
                                  (Lucian.)

Hebe führte mich in Hygieens Arme zurück. Meiner Jugend verdankte ich meine Genesung. Um sie zu vollenden, reiste ich auf den Rat meines Arztes nach Aachen ins Bad. Die heilsamen Quellen dieser alten Kaiserstadt zeichnen sich vor allen übrigen dadurch aus, daß sie nie beträchtlich nachteilig sind und dagegen, wenn sie anschlagen, die heilsamsten Wirkungen hervorbringen. Man kann sich ihrer mit der vollsten Zuversicht bedienen, da sie höchst selten und nur wenig schaden, fast immer und im höchsten Grade helfen oder wohltun. Ich kann die Bäder von Aachen nicht genug empfehlen. Der Ort selbst hat nichts Anziehendes, aber es ist ein wahrer Heilort; er läßt sich mit einer soliden Schönen vergleichen, die ihre Toilette vernachlässigt. Es gibt andre Bäder genug, die man besuchen kann, um sich die Zeit zu vertreiben, die aber, wenn man sie gegen wirkliche Uebel anwenden will und der unerfahrene Arzt, der sie uns angepriesen, sich geirrt hat, so nachteilig wirken, daß man den Irrtum nicht selten mit einem lebenslänglichen Siechtum bezahlen muß.

Aachen, Karls des Großen Wiege und Grab und die Krönungsstadt so vieler Kaiser, hat zwar seinen alten Glanz verloren, doch fand ich gute Gesellschaft in seinen Mauern. Ich machte sie mir zunutze. Um in meinen eigenen Augen die Schande auszulöschen, die ich mir durch eine schlechte Wahl und besonders durch die üblen Folgen derselben zugezogen hatte, beschloß ich – eine bessere zu treffen. Sie fiel auf die Gattin eines fremden Generals, der die Bäder gebrauchte. Ohne mich mit Frau von A... in ein förmliches Liebesverhältnis einzulassen, fand ich Geschmack an ihrem Umgange und eine angenehme Beschäftigung, zu einer Zeit, wo ich mich mit nichts Ernstem beschäftigen durfte. Die Dame war keine vollkommene Schönheit, auch nicht mehr in den jüngeren Jahren; was ihr noch an Reizen blieb, bewies, daß sie einst größere besessen hatte und noch jetzt gefallen konnte. Ebenso verhielt es sich mit ihrem Geiste; ohne außerordentlich gebildet oder weitumfassend zu sein, fehlte es ihm nicht an Lebhaftigkeit und Witz. Von ihr ist ein Bonmot, welches ich mit Unrecht anderen habe zuschreiben hören.Kann sie es nicht jenen anderen nachgesprochen haben? Die Anekdote erinnert übrigens an eine ähnliche. In einem Kaffeehause lehnte sich, bei einer Whistpartie, einem der Spieler ein unbekannter Zuschauer über die Schulter und sah ihm in die Karten. Um ihn los zu werden, zog jener sein Taschentuch hervor, kniff den Lästigen in die Nase und entschuldigte sich mit den Worten: »«Bitte, um Verzeihung, ich habe mich vergriffen und Ihre Nase für die meinige gehalten.«
(Uebers.)
Auf einer Redoute wurde sie beharrlich von jemandem verfolgt, dessen Person und Wesen ihr zuwider waren. Der lästige, unausstehliche Mensch nahm sich's besonders heraus, als sie mit drei Masken Whist spielte, sich hinter ihrem Stuhl aufzupflanzen. Endlich riß ihr die Geduld, und als sie eben im Verlust war, brach sie aus: »Mein Herr, ich bin nicht reich genug, um Sie immer in meiner Nähe zu haben.«

Eine zärtliche AnnäherungUn doux nenni, avec un doux sourire,
Est tant honnête.
(Marot.)
an sie würde mir nicht schwer gefallen sein, um so mehr, da wir beide wenig dabei zu wagen hatten. Sie schien sogar darüber verwundert, daß ich die Badezeit und die Badefreiheit so wenig zu benutzen suchte. Als sie mich aber in einer so wichtigen Angelegenheit ganz über die Maßen vernünftig fand, folgte sie meinem Beispiel und legte nicht größeren Wert auf die Sache als ich. Nur ging sie doch etwas weiter und gab mir zum Gehilfenadjoint. einen Abbé, welcher kurz vorher Militär und Hofmann gewesen war. Ich nenne ihn mit Recht meinen Gehilfen, er selbst zeigte sich als solchen. Bis dahin war der Mann höflich, artig, bescheiden gegen mich gewesen, plötzlich wandelte er sich um, zeigte Laune und Uebermut, bewies mir, daß er der Glückliche sei. So kam es denn zwischen uns zu einem heftigen Auftritt, wobei ich (nach so vielen Jahren) nicht entscheiden will, auf welcher Seite das Recht war. Nur so viel ist mir erinnerlich und klar, er brach mit beleidigendem Ungestüm aus, ich blieb nicht zurück und überbot ihn. Zugegen waren der Baron von Batz und der Graf von D...

Wäre mein Gegner, Herr von La C..., ein Dorfpfarrer gewesen, so würde ich mich ganz anders bei der Sache benommen haben, so aber hatte ich mit einem Manne seines Namens, seiner Familie, seines Ranges, und der im Begriff gewesen war, es bis zum Dragonerobersten zu bringen, andre Rücksichten zu beobachten; ich durfte die Schicklichkeit nicht aus den Augen setzen.

Der Generalleutnant und Ritter des Goldnen Vlieses Graf von Egmont war damals in Aachen; ein Mann, dessen Loyalität als Muster angeführt wurde, ein Mann, dessen ganzes Leben die schönsten, kräftigsten Eigenschaften bewiesen hatte, der aber in eine Schwachheit verfallen war, welche so vielen Helden und Nichthelden gemein ist. Er war nämlich mit einer gewöhnlichen Frau in ein erstes, unschickliches Verhältnis, und von da in ein zweites, noch unpassenderes – in den Ehestand getreten.

If thou not rememberest the slightest folly,
That Love made thee fall into,
Thou hast not loved.

Welcher Stern ist nicht unter dem weiblichen Einfluß erblaßt? Der Graf von Egmont ließ sich von einer Irländerin, die mit ihm als Wirtschafterin gelebt hatte, betören und machte sie zu seiner Gemahlin. Sie behauptete, von Adel und »adelig wie der König« zu sein. Das Publikum wollte es aber durchaus nicht glauben. Ich habe selbst eine Chanson gesehen, einen geschmacklosen Gassenhauer, worin ihr die niedrigste Abkunft vorgeworfen wird, denn wenn sich einmal der Strom der Verleumdung über jemand ergießt, der sich Feinde und Neider gemacht hat, so gibt es keinen Damm, der ihn zurückhält. So viel bleibt ausgemacht, sie war keine schickliche Partie für einen Mann von so hoher Geburt. Doch da sie ihm in seine Verbannung gefolgt ist, da sie durch sanftes und zuvorkommendes Wesen, durch sorgsame Pflege sein herbes Schicksal versüßt hat, da sie bis zu ihrem Ende sein Trost und sein Glück war, da sie, mit wenigen Verstandesgaben, aber mit einem immer gleichartigen, aufmerksamen, gefälligen Gemüt ihn dergestalt an ihren Umgang gewöhnt hatte, daß er ihren Tod nicht hat überleben können – so muß man daraus schließen und der Billigkeit nach zugeben, daß er im herannahenden Alter eine gute Wahl getroffen und einen sehr vernünftigen Entschluß gefaßt hatte. Man kann es ihm in jeder Hinsicht zutrauen, daß er mehr als seine Freunde imstande war, zu beurteilen, was sich am besten für sein Herz schickte; und der Herzog von Harcourt, der sich unwiderruflich von ihm trennte, sobald er diesen Schritt getan, hat in meinen Augen lächerlich gehandelt. Es ist zwar die Pflicht des Freundes, dem Freunde nach Einsicht und Ueberzeugung zu raten, wenn er glaubt, daß dieser im Begriff steht, eine Sottise zu begehen; ist sie aber einmal begangen, so sehe ich es als den sichersten Beweis der Freundschaft an, wenn man die Sottise entschuldigt, sie bemäntelt und gegen die Welt in Schutz nimmt. Muß der Stolz – der Ahnenstolz – da nicht schweigen, wo das Herz spricht und gebietet? Wo es auf eine Verbindung ankommt, welche dem ganzen übrigen Leben Gehalt und Farbe mitteilt? Jener Tote auf dem Gottesacker sprach zu einem andern, der ihm, weil er im Leben vornehmer gewesen war, den Weg vertreten wollte: »Schatten ist Schatten; ich weiche dir nicht!« Läßt sich das nicht schon von Lebenden sagen? Was sind die Menschen? Sind sie nicht Schatten? Warum sollte es nicht erlaubt sein, den Schatten zu wählen, an dessen Hand man durch das Leben gehen will, um mit ihm das Ziel zu erreichen, wo alles – zu Schatten wird?

Der Graf von Egmont wurde nach wie vor allgemein geachtet, niemand verargte ihm seine Mißheirat. Er war der Mann, an den ich mich wandte. Ich teilte ihm alles Nötige mit, um über mich und den Abbé zu entscheiden, und fragte ihn um Rat. »Die Sache,« sagte er, »ist so weit gediehen, daß ich Ihnen raten muß, sich mit Herrn de la C... zu schlagen; bedenken Sie indessen, daß man Sie sehr tadeln würde, wenn Sie ihn totschössen, aber noch mehr auslachen, wenn Sie sich totschießen ließen. Suchen Sie, so gut es angeht, sich aus der Affäre zu ziehen.« Sein Rat war, wie man sieht, ziemlich verwickelt; ich dachte darüber nach, und es gelang mir, die Frage zu vereinfachen.

Ich bewog nämlich den Baron von Batz, uns beiden als Kampfzeuge zu dienen. Herr de la C..., welchen er benachrichtigt hatte, fand sich auf dem Platz ein, wo ich seiner wartete. Er gab sich ganz das Ansehen seines ehemaligen Standes. Der Baron von Batz stellte uns zehn Schritte auseinander und entschied, wir sollten auf ein gegebenes Zeichen zugleich schießen. Ich erhielt das Feuer meines Gegners, er hingegen machte mir den Vorwurf, nicht abgedrückt zu haben. Ich erwiderte: »Es hängt von Ihnen ab, den Kampf zu erneuern; was mich betrifft, so schieße ich nicht, wenn ich unrecht habe.« Er bestand fest auf einem zweiten Gang und verlangte ausdrücklich von mir, ihn wegen seines jetzigen Standes nicht zu schonen. »Auch habe ich,« sagte ich, »diesen Stand mit keinem Worte erwähnt.« Auf diese Erklärung zwang ihn Herr von Batz, mir die Hand zu reichen; als Freunde gingen wir Arm in Arm nach Hause. Ich speiste beim Grafen von Egmont, welcher mein Benehmen billigte. »Herr Graf,« erwiderte ich, »warum loben Sie mich? Ich verdiene Ihr Lob nicht; der Zufall verdient es. Hätte mich der Zufall erschießen lassen, was wäre ich in Ihren Augen? Ein Narr.«

Dieser Vorfall bewirkte, daß ich in der Gunst der Frau von A... stieg. Ich fühlte aber, daß ich ihre Zuneigung nie verdienen, nie ernsthaft erwidern würde, weil die Gefahr, in die ich mich ihretwegen begeben, sie mir nicht teurer gemacht hatte.

Mein Vorsatz war längst gewesen, beim Herzog von Maillebois in Maestricht einen Besuch abzustatten. Er hatte mir geschrieben, er hoffe, in Holland angestellt zu werden; alsdann könne ich versichert sein, unter ihm mit Ehre und Vorteil zu dienen. Diesen anständigen Vorwand benutzte ich, das leichte Joch abzuschütteln, welches nur an einem Faden hing. Der Marquis von D... bot sich mir als Begleiter an; wir reisten beide nach Holland und kamen glücklich und gesund an, einige kleine Widerwärtigkeiten abgerechnet, welche auf schlechten Wegen, mit schlechten Postillonen, schlechten Pferden und schlechtem Fuhrwerk unvermeidlich sind.

Ein Hauptgrund zu diesem Abstecher war, dem Herzoge von Maillebois eine Geschichte der Revolution mitzuteilen, woran ich arbeitete, und die ich fortzusetzen gesonnen war.Es sind einige Hefte derselben in London (1795) erschienen. (Uebers.) Aber es ist abschreckend, die Geschichte seiner Zeit zu schreiben; so sehr mich anfangs die gewählte chronologische Form verführte, so sah ich doch bald ein, ich würde so nur ein mageres Gerippe herstellen, ohne Belege, ohne Verbindung und Folge der Begebenheiten, ohne die nötigen Aufschlüsse, die man nicht geben kann, weil man den Ereignissen zu nahe ist. Um die Geschichte schreiben zu können, muß man erstens sich selbst, wie beim Ueberblick einer Theaterdekoration, auf den rechten optischen Punkt stellen, zweitens muß man das Augenglas des Lesers von eben diesem Punkte ausgehen lassen. Wie schwer ist beides? Zu sehr abgekürzt, fließt alles vor dem Glase zusammen; zu weit hinausgeschoben, bleibt nichts deutlich. – Was tat ich? Ich verbrannte meine Schrift.Doch nur zum Teil. (Uebers.) Und weswegen? Weil mir, als ich sie meinen Freunden vorlas, nicht entgehen konnte, daß sie (wie alles auf Erden, selbst das Allerbeste) vom Parteigeist angesteckt waren: denn meine Freunde, von diesem Geiste hingerissen, lobten alles, alles ohne Ausnahme, fanden alles vortrefflich, unvergleichlich – sie, die zu einer ändern Zeit an jedem meiner kleinen Gedichte, meiner leichten Chansons etwas zu tadeln gefunden hatten.

Ich kam von Maestricht mit dem traurigen Gefühl zurück, einen Mann von großen Verdiensten angetroffen zu haben, der bei herannahendem Alter in die Schlingen einer alten Ränkemacherin gefallen war, welche ihn in den Augen aller, die sie kannten oder nur einen einzigen Blick auf sie warfen, ohne Entschuldigung ließ.

Kann ich meinen Aufenthalt in Aachen verlassen, ohne an die seltsamen und lächerlichen Träume der dortigen Emigranten erinnert zu werden? Mit jeder Woche handelte sich's um nichts Geringeres, als in der nächstfolgenden in Frankreich einzurücken, einer gewissen Klasse von Menschen Verzeihung angedeihen zu lassen, eine andere gebührend zu züchtigen, dem Könige ein kraftvolles Ministerium beizugeben, um ihn vor seiner eigenen Schwäche zu schützen, die Armee auf einen andern Fuß zu setzen, sie besser und gründlicher zu organisieren, Paris zu bestrafen und den Sitz der Regierung nach Lyon oder anderswohin zu verlegen usw. usw. Schöne, harmlose, unschuldige Luftschlösser! Ihr wart der Trost von Männern, welche alles verloren hatten und größtenteils auf fremdem Boden nur ein Grab finden sollten! Die Köpfe waren dergestalt verdreht und verrückt, daß man mir ohne Rückhalt zu Leibe ging, als ich es einmal gewagt hatte, zu sagen, daß Frau von Maintenon (welche man, ich weiß nicht, warum, in ganz besonderen Schutz genommen hatte) ein Flecken in der Regierung Ludwigs des Vierzehnten gewesen sei. Mit Zeichen des heftigsten Unwillens hörte man dieser Aeußerung zu, und als ich kurz darauf den Saal verließ, folgte mir Herr von RabodangeMarechal de Camp, ein braver Offizier von gutem, alten Adel und was noch mehr sagen will, ein Mann von Ehre, ein Ehrenmann. auf dem Fuß, holte mich an der Treppe ein und entließ mich mit folgender Strafpredigt: »Sie haben einen unverzeihlichen Fehler begangen! Ich begreife nicht, wie ein Mann von Ihrer Lebensweisheit – denn diese Eigenschaft räumen wir alle Ihnen ein – sich an einer Frau hat vergreifen können, deren Andenken mit dem des größten unserer Könige so eng verknüpft ist. Wissen Sie denn nicht, junger Mann, daß dergleichen Fragen nicht aufgeworfen, dergleichen Sätze nicht erörtert werden dürfen? Daß sie als heilig anzusehen sind, und daß es in den Zeiten, worin wir leben, keinem biederen, treuen Franzosen erlaubt ist, über dergleichen Gegenstände Zweifel aufzuwerfen und Untersuchungen anzustellen?« – »Also,« versetzte ich, »ist Frau von Maintenon eine Heilige und Pater Le Tellier wohl auch ein Heiliger?« – »Freilich,« erwiderte er. – »Nun wohl, es mag sein; die Maintenon heilig, Le Tellier heilig! Dafür aber wagen Sie es beileibe nicht, von der Marquise von Pompadour und vom. Herzog de la Vrillière ein böses Wort zu sprechen! Gnade Gott Ihnen, vollends, wenn Sie sich je leichtsinnig über den seligen Ludwig XI. vernehmen lassen.« – Er bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen und rief: »Das sind für einen Mann, der so rein ist wie Sie, unreine, unanständige Späße!«

Ein andrer, der kleine Abbé S..., Verfasser einer guten Schrift, die aber nicht von ihm sein soll, wollte mir ebenfalls Lehren geben. Ich hatte ihm Stellen aus meiner Geschichte der Revolution vorgelesen; »Sie schreiben unvergleichlich,« sagte er, »Ihr Stil ist glänzend, nervig; Sie malen mit kräftigen Zügen;Ich durfte ihm nicht aufs Wort glauben; meine Leser dürfen es ebenfalls nicht. (Verf.) aber erlauben Sie mir, es Ihnen zu sagen, Sie werden wenig Leuten gefallen, weil Sie für alle Parteien eintreten.« – »Abbe,« versetzte ich, »ich schreibe für die Wahrheit, wenigstens für das, was in meinen Augen Wahrheit ist.« – »Ein großer Irrtum, Herr Graf; in einem Werke dieser Art muß man wie in einer beratenden Versammlung eine Partei ergreifen, sich kopfüber hineinstürzen, sollte sie auch die schlechte sein, und dann von der einmal angenommenen Linie nicht abweichen.« – »Aber in dieser Handlungsweise liegt wenig Rechtlichkeit und Seelengröße.« – »Eben deswegen kommt man auf diesem Wege weiter.«

Ich fand in Aachen noch ein zweites Original, Herrn Senac von Meilhan, Exintendanten von Valenciennes. Der gute Mann brachte die letzte Zeit seines Lebens im Bette zu, ohne krank zu sein. Er starb ganz eigentlich am – Bettliegen; sein Tod gilt für sein bestes Werk, obschon er deren eine ganze Menge an das Licht gebracht hat. Es läßt sich in der Welt kein so ernsthafter Stolz, keine so ruhige Eigenliebe denken als die seinige. Rivarol war neben ihm und in seinen Augen – ein Zwerg. Ich bin zwar nicht der Meinung, daß Männer von großen Talenten die Bescheidenheit spielen sollen, haben sie sich im Leben zu hoch angeschlagen, so wird ihnen nach dem Tode ihr Recht schon widerfahren, ja, unter zehn widerfährt dieses schon neun im Leben. Das bescheidene Talent ist wie eine Münze von altem Gepräge; man hebt sie als eine Schaumünze auf, sie ziert ein Medaillenkabinett; will man aber damit bezahlen, so verliert sie viel von ihrem Nominalwert.

Herr von Meilhan wird mir nach seinem Tode, und seiner Eitelkeit unbeschadet, erlauben, eine Anekdote von ihm zu erzählen. Ein Buchdrucker in Aachen hatte eine schöne Frau. Wir pflegten sie Frau de la C... zu nennen, weil sie wirklich Aehnlichkeit mit ihr hatte. Dabei führte sie wie jene ein freies Leben, nur daß sie nicht, wie ich wenigstens glaube, bei Lebzeiten ihres Gatten sich mit einem andern hat trauen lassen. Doch dergleichen ist Sache des Geschmacks und des Charakters, und wenn man sich vom Manne scheiden läßt, um sich mit dem Geliebten zu verbinden, so wird es sogar erbaulich. Um wieder auf unsere Buchdruckerfrau zu kommen, so hatte sie mehr als einen von uns glücklich gemacht und keinen Liebhaber leer ausgehen lassen. Wenn schon eine ehrsame Frau Mühe hat, einen verschwiegenen – Hausfreund zu finden, wie viel schwerer hält es für eine, die sich mehrere dergleichen anschafft, ein Verhältnis geheim zu halten, welches ihr Benehmen sozusagen zu einem öffentlichen macht, obschon dieser Umstand eigentlich keinen Ehrenmann zum Ausplaudern berechtigen sollte. Meine Freunde und ich waren aber schwatzhafte Ehrenmänner; wir teilten mit, was jeder von uns erhalten hatte, und jeder von uns war begünstigt worden. Herr von Meilhan hörte davon und wollte sich's zunutze machen. Freilich hätte er sich kennen und wissen sollen, daß er die Rolle eines lächerlichen Liebhabers spielen würde; aber kennt man sich? Weiß man, wie man beurteilt wird? Oder hält man es immer für notwendig, liebenswürdig zu sein, um zu liebeln? Kurz, Herr von Meilhan tritt in die Schranken. Seine Toilette, wie gesucht; sein Wesen, wie gefällig; seine Mienen, wie süß! Schon geht er die Straße auf und ab, wo seine SchöneIch habe diese Redensart nie leiden können; sie klingt so geschmacklos und ist so gemein geworden, daß man sie schon in dem Munde aller Liebesschranzen und Liebesscherwenzler findet. (Verf.) wohnt, vor dem Hause hinüber und herüber, verweilt vor ihren Fenstern, schaut hin, räuspert sich, um bemerkt zu werden, läßt seinen Brillantring blitzen, wirft einen zärtlichen Kuß hinüber! – Noch mehr; er ist Schriftsteller, folglich wird er auch schreiben. Sein Billett ist abgeschmackt wie seine Liebe: gleichviel.

Er hofft, die kleine Bürgerfrau wird das parfümierte Billettdoux riechen; das Pulver à la maréchale wird ihr süß entgegenduften; das Blättchen mit den rosenroten Vignetten und vergoldeten Rändern wird ihr in die Augen fallen; sie wird die Aufschrift lesen, die Worte: »Verliebt und verschwiegen« werden einen tiefen Eindruck auf sie machen; sie wird das Siegel betrachten; der Buchstabe L. und das Wort seule daneben! Was heißt das? »Ich hab's!« wird sie ausrufen: »Elle seule! Sie allein!« – »Ich allein!« – Ist das alles nicht rührend, herzbrechend, herzgewinnend? Wie manches, was in der Vorstadt Saint-Germain seinen Zweck verfehlen würde, gelingt im Ladenstübchen einer Landstadt – besonders im Nebenzimmer, welches die schöne Dame so gern zum Salon stempeln möchte.

Nach einigen Tagen zieht Herr von Meilhan mich und den Vicomte von C... auf die Seite, und mit geheimnisvoller Miene spricht er zu uns: »Ich weiß, meine Herren, daß Sie das Konterfei der Frau von C... bisweilen besuchen. Lassen Sie sich warnen. Sie laufen die größte Gefahr. Ich rede aus Erfahrung. Ich bin nahe daran gewesen, bei ihr das Leben einzubüßen. Der Mann war hinter dem Bette versteckt; er wollte mich umbringen. Ich konnte mich nur mit Aufopferung meiner Uhr und Börse retten. Es ist eine Raubhöhle. Gehen Sie um Gottes willen nicht wieder hin!« Diese Rede, begleitet von allen Zeichen des panischen Schreckens, von der Miene der Wahrheit und Ehrlichkeit, machte Eindruck auf uns. Der Vicomte gab mir die bestimmte Versicherung, er werde nie wieder einen Fuß in das Haus setzen. Ich war im ersten Augenblick derselben Meinung; da ich mir aber die Sache ruhiger überlegte, als ich den Charakter der sanften, gefälligen Frau zergliederte, ihr einfaches, offenes Benehmen mir dachte, mich an ihre oft bezeigte Aengstlichkeit, von dem Manne überrascht zu werden, erinnerte, und vor allen Dingen ihre treue und zärtliche Hingebung in den glücklichsten Augenblicken mir vormalte – da schwanden meine Besorgnisse, meine Zweifel, da sagte ich mir ohne alles Bedenken: »Der Herr Ex-Intendant ist ein schamloser und ungeschickter Verleumder; die Frau ist nichts weniger als ein Ungeheuer, als die Mitverschworene eines Mörders.«

Gleich am nächsten Tage ging ich zu ihr. Ich entsinne mich, ein Terzerol eingesteckt zu haben, es war aber, dünkt mich, nicht einmal geladen und mehr eine Folge der Gewohnheit, wenn ich auf Abenteuer ausging, als eine Vorsicht, als eine Folge der Furcht. Ich brachte das Gespräch auf Herrn von Meilhan und seine Erzählung. Anfangs lachte sie dazu wie eine Närrin; aber als ich auf den Hauptpunkt kam, auf das Interessante der Geschichte, geriet sie in den heftigsten Unwillen über die schwärzte, scheußliche Beschuldigung. Sie gestand mir, ihn zweimal in allen Ehren und Züchten bei sich gesehen zu haben; er habe ihr Greuel zugemutet, die sie schaudern gemacht hätten; er sei ihr zu Füßen gefallen, habe ihr alles, was er auf der Welt besitze, angeboten, wenn sie ihn schlagen – wenn sie ihn (wer sollte sich dieses nec plus ultra der Liebeswut denken!) – wenn sie ihn mit Messerstichen verwunden wollte!! (O Menschen! Menschen! Verächtliche, erbärmliche Menschen!) Sie habe vor Entsetzen die Sprache verloren, habe ihn, sobald sie wieder zu sich gekommen, beschworen, sie nicht weiter zu verfolgen, habe stufenweise den Mut gefunden, ihm zu erklären: er und sein Messer sollten ihr nie wieder vor Augen kommen, sie werde sonst, trotz dem, was daraus entstehen könnte, bei der Polizei Klage einreichen. – Wütend über die Drohung und aus Furcht, entlarvt zu werden, hatte er nun den allerschlechtesten seiner Romane erfunden, und in der Hoffnung, schwache Menschen zu finden, welche seiner groben Erdichtung Glauben beimessen würden, war er der erste gewesen, ein geheimes Verhältnis aufzudecken, welches ihn zum Spott seiner sogenannten Freunde und der ganzen Stadt machen mußte. Viele lachten darüber, ich aber gestehe, daß mir der Vorgang Verachtung und Abscheu eingeflößt hat.

Ich zog mich von ihm zurück, denn es gibt eine Art von Verachtung, die keinen andern Ausweg überläßt. Ich ließ ihn sich mit einem Manne herumzerren, mit einer Art von Theater-Karikatur,personnage de comédie. einem Seitenstück zum Grafen von Tuffières;Destouches, in seinem Glorieux, hat diese Person, eingeführt, um die stolze Eitelkeit lächerlich zu machen und sie zu beschämen. (Uebers.) nur in einer andern Art; denn der Mann, von dem hier die Rede ist, besaß schätzbare Eigenschaften, war bieder, rechtlich, von ritterlichem Ehrgefühl durchdrungen – nur dabei von einer lächerlichen Außenseite. Er war ein Glorieux wie Tuffières, wenn man das Wort im strengsten Sinne nehmen will, aber sein Stolz war ergötzlich, nicht abstoßend war sein Schild im Leben, bewahrte es vor Flecken und Schuld, war der Stützpunkt, der ihn nicht fallen ließ, weil seine überspannten Begriffe von der Würde eines vornehmen Mannes ihm die damit verbundenen Pflichten beständig vor Augen stellten.

Dieser Mann war der Graf von Escars.

Will man sein wohlgetroffenes Bild haben, so stelle man sich einen Mann vor mit einem sorgfältig gepflegten lockeren, schwellendenmousseux, wie Champagnerweinschaum. Haarputz, mit langem hageren Gesichte, mit vornehm ironischem, Wesen,superbement goguenard. mit kurzem, eng zugeknöpftem Rocke, gestickter Weste, altmodischen Berlocks auf zart- und hellfarbigen Beinkleidern; vom frühsten Morgen an in seidenen Strümpfen und Eskarpins mit der kleinen, runden, goldenen Schnalle auf der Fußspitze; die Haare in ein Beutelchen, Crapaud genannt, hinten im Nacken fest zusammengebunden; mit dem Paradestocke, dem Armhute (á la brigadière), der zierlich gefalteten Halsbinde von Batist und der kleinen Demantnadel, die schon von fern an das Oeil de boeuf erinnerte; mit dem großen, blauen Bande, welches die vorsätzliche Bewegung der Hand in der Weste blähte und aufpuffte; mit dem abgemessenen Gange eines Mannes, der jeden Schritt für das Publikum und für das Heil des Staates macht; mit dem ganzen Aeußeren und Auftreten eines abgemagerten Höflings, der seinen letzten Prozeß verloren hat, mit dem Zittern und Wispern einer an sich haltenden, halb vertraulichen, halb stockenden Stimme; mit vornehmer Gebärde; zehnmal in fünfzig Schritten anhaltend und stehenbleibend, um dem Begleiter mit dem Daumen und Zeigefinger den Sinn jedes seiner Worte einleuchtender zu machen; dabei aber, und trotz allem diesem, der beste Mann von der Welt, der artigste Weltmann, der über alles und von allem gehörig und schicklich zu reden weiß, sich bei der Tafel auf die Küchenchemie und die feinen Bestandteile eines Gerichts so gut wie – auf seinen Stammbaum und auf seinen Horaz versteht, und ein Schmecker, wie es demjenigen zukam, der im Hofstaate eines Königs von Frankreich die Stelle eines Oberst-Mundkochs zu verwalten hatte.

Ich habe ihn für die beschrieben, die ihn sehen wollen; jetzt lasse ich ihn reden für die, welche ihn zu hören wünschen.

»Die Verbindung, in weicher wir schon vor vier Jahrhunderten mit dem Königlichen Hause gestanden haben, gereicht weder diesem Hause noch uns zur Schande. ... Man ist gegen die Familie von Noailles sehr ungerecht gewesen.Das ist wahr. Die Herren von Noailles sind von uraltem Adel und haben in allen Fächern mit Auszeichnung gedient. Ob ein Noailles beim Hause Bouillon – damals ein souveräner Fürstenstamm in Sedan – in Diensten gestanden oder nicht, tut nichts zur Sache. (Verf.) Ihr rasches Emporkommen in den neueren Zeiten hat den Neid gegen sie rege gemacht; man hat sie für Leute von gestern ausgegeben, da sie doch von gutem, alten Adel und sogar mit uns verschwistert sind. Die Familie stammt aus Limoges, hieß ursprünglich Noaillac und folgt auf die unsrige. Das kann ihr niemand streitig machen.« – Dann kam eine Anführung aus Horaz; auf diese folgte eine andere aus Tacitus; denn Herr von Escars wußte mehr Latein als der Pedant Meilhan. Sein tapferer Bruder, welcher die Sprache ebensogut verstand, ist im Laufe der Revolution als General in die Dienste einer großen Macht getreten, welche mit Frankreich Krieg geführt hat. Er war ein ganz vorzüglicher Mann, gefällig, diensteifrig wie keiner; dabei sehr unterrichtet, ein guter Kenner der schönen Wissenschaften und Künste, ein eben so guter Gastronom, dabei ein trefflicher Offizier und so leidenschaftlich für dieses Handwerk eingenommen, daß er es, als er noch in Frankreich war, manchem, der unter ihm diente, verleidet hat. Er war klug genug, in sein Vaterland zurückzukommen (aus welchem sich überhaupt niemand hätte entfernen sollen), als es noch Zeit war, um so mehr, da ihn das Ausland nicht immer mit derjenigen Auszeichnung behandelt hat, die er verdiente. Aber in welchem Lande von Europa sind wohl die Ausgewanderten nach Verdienst aufgenommen worden?

Nach einem dreimonatlichen Aufenthalt in Aachen sagte ich zu mir selbst: »Es ist genug!« und kehrte nach Brüssel zurück. Brüssel ist eine Stadt, der es zwar am Glanz und Umgang der ersten Stände fehlt, aber nicht an den übrigen Reizen der Geselligkeit und an vielseitigen Hilfsquellen für das angenehme Leben. Ich kannte außerdem viele Einwohner und hielt mich meistenteils zu den Engländern, wie es denn die Franzosen überall auf dem Festlande zu tun pflegen, obschon beide Nationen sich nur hochschätzen, aber nie lieben.

Ich sah beim Chevalier von R ..., dem reichen Lima von Brüssel, eine Gräfin von G ..., schön und nicht schön, in die er verliebt war, und die er sich etwas – nur nicht zu viel – kosten ließ, denn der weise Sennor verstand sich vollkommen auf die Rechenkunst. Er hielt sich für geliebt und wurde auch wirklich – angebetet, wie es die sechzigjährigen Liebesnarren zu glauben pflegen. Die Dame fühlte noch außerdem ganz eigentlich das Bedürfnis, ihn zu betrügen; ich bot mich ihr schnell zum Mitschuldigen an. Aber sie, welche ihre guten Gründe hatte, den Alten zu schonen, ahnte nicht sobald, daß er Lunte rieche, als sie mich verabschiedete, und das mit einem so niederländischen Phlegma, daß man Mühe gehabt haben würde, zu unterscheiden, welcher von uns beiden ihr der gleichgültigste sei.

Dieser kleine Schwärmer war nur der Vorbote eines großen Feuerwerks, eines förmlichen Liebeshandels, dessen Folgen beinahe tragisch für mich ausgefallen wären. Es bedurfte nichts weniger als der Dazwischenkunft eines Mannes, in dessen Händen sich damals die zeitige Obergewalt befand, um mich aus einer ziemlich verwickelten Lage zu befreien. Diese neue Leidenschaft bemächtigte sich meiner mit unwiderstehlicher Kraft und Herrschaft, trieb mich über Land und Meer, brachte mir in vieler Hinsicht großen Nachteil, fesselte meine Gedanken, hemmte meine Entwürfe, wurde mein ein und mein alles, der Hauptgegenstand meines Daseins, verließ mich dann wieder und versetzte mich in meine vorige Lage, unbeschäftigter und berufloser als je. Das Unrecht bei der Sache ist ganz auf meiner Seite. Man hat sich wohl nie so viel Mühe gegeben, einen Fehler zu begehen, wie ich in diesem Falle. Gleichwohl muß ich gestehen, daß die junge Person, mit der ich auf diesen Abweg geriet, durch ihre Reize, ihre Grazie, ihre verführerischen Eigenschaften die Torheiten zum Teil rechtfertigte, zu welchen ich sie verleitete und in welche sie mich hineinriß.

Wir hatten damals in Brüssel eine nichts weniger als mittelmäßige Schauspielergesellschaft:

C'étaient d'assez beaux yeux pour des yeux de province.Gresset sagt in seinem Méchant (Act. III. Sc. 9): Elle avait de beaux yeux pour les yeux de province. (Uebers.)

Die Loge des Herzogs von Aremberg war das Rendezvous der feinen Welt. Der Prinz Louis machte sich ein Vergnügen daraus, seinen Bekannten den Zutritt anzubieten. Alles, was sie in sich schloß, stimmte mit mir in die Bewunderung und in das Lob einer jungen himmlischen Schönheit ein, welche ein bejahrter Engländer alle Abend ins Schauspiel führte. Sie schien zwischen siebzehn und achtzehn; ihr Wesen war noch einnehmender als ihre Reize. Wer war sie? Dieses wünschten wir alle zu erfahren. Ich meinesteils dachte: das beste Mittel, sie kennen zu lernen, besteht darin, sie – ein für allemal ihrem ewigen, unzertrennlichen Argus zu entreißen. In dieser Absicht suchte ich mich ihr bemerkbar zu machen; ich richtete es so ein, daß es ihr nicht entgehen konnte, wie sehr ich mich mit ihr beschäftigte. Zugleich benahm ich mich dabei auf eine Weise, die ihr beweisen sollte, daß meine Bescheidenheit ein mir auferlegter Zwang sei und eine Folge der Furcht sie bei ihrem Begleiter (sei dieser ihr Vater, ihr Oheim, ihr Vormund oder was er sonst wolle, denn aus der Miene des Gentlemans ließ sich alles mögliche schließen) – zu kompromittieren. Sobald ich sicher sein konnte, daß sie mich verstanden habe, erwartete ich mit Ungeduld den Tag, wo sie in Gesellschaft einer ältlichen Frau, welche den männlichen Mentor bisweilen ersetzte, ausgehen würde. Endlich zeigte sich die günstige Gelegenheit. Zu meinem Unglücke regnete es den Morgen, als wenn alle Schleusen des Himmels sich aufgetan hätten. Doch das hielt mich nicht ab, ihr auf offener Straße aufzulauern, und als sie aus der Tür trat, um in den Wagen zu steigen, mich mitten in den Schmutz ihr zu Füßen zu werfen. »Sie würden berechtigt sein,« redete ich sie an, »mich für einen Tollhäusler zu halten, wenn Sie nicht schon in mein Herz geschaut, gelesen und die Gewalt erraten hätten, die ich mir antue, jedem Ihrer Schritte schweigend zu folgen. Fühlen Sie gar kein Mitleiden mit einer Liebe, die ich nicht unterdrücken kann, und die mir den Tod gibt, wenn Sie sich weigern, sie zu erwidern?« (Im Augenblicke, wo ich dieses schreibe, muß ich selbst über das Pathos lachen, mit dem ich das vorbrachte; aber bei Frauen muß man nie mit der Sprache der Schwärmerei und mit dramatischen Formen und Formeln markten und geizen,marchander. besonders bei den jungen; denn ältere und erfahrene lassen sich von dergleichen Floskeln nicht betören; sie verlangen nicht, daß man sich diese Mühe mit ihnen gebe, und man gibt sie sich auch nicht.) – »Mein Herr (stammelte sie), mein Herr ... Sie machen mich unglücklich ... stehen Sie auf!« – »Nein, Miß, mich, mich machen Sie unglücklich, wenn Sie mich nicht anhören, mir nicht antworten ... Nur um ein Wort flehe ich, nur um einen Augenblick. Und wenn ich nicht das Glück habe, Sie zu überreden, so fliehe ich auf immer aus Ihrer Gegenwart.« – »Mein Herr, lassen Sie mich los ... lassen Sie mich gehen; ich beschwöre Sie!«

– »Wo kann ich Sie wiedersehen?« – »Nirgends.« – »Ich folge Ihrem Wagen.« – Sie stieg ein und fuhr mit Pfeilesschnelle davon. Ich hinterdrein. Es war nicht weit. Ich sah sie aussteigen. Ein Geschenk an den Bedienten wird nicht gleich angenommen; ich verdoppelte die Gabe, und der Mensch wird zahm, antwortet auf meine Fragen, nennt mir den Namen der Dame, gibt mir eine Menge wichtiger Aufschlüsse. Der Hauptpunkt für mich war, mit der Kammerfrau Bekanntschaft zu machen. Mein neuer Vertrauter verspricht mir, sie zu bewegen, eine Türunterredung mit mir zu haben. Sie erscheint; einerseits beteuere ich ihr die Reinheit meiner Absichten, andernteils die Größe meiner Erkenntlichkeit, wenn ich meinen Zweck erreiche. Nach einigen Minuten ersucht mich die Frau, sie zu verlassen, die Weisung hinzusetzend: »ich möchte mich keinem Bedienten anvertrauen«, und bestellt mich auf den nächsten Tag, abends zehn Uhr, mit der Versicherung, sie werde versuchen, so weit es in ihren Kräften stehe, mir in allem nützlich zu sein, was sich mit ihren Grundsätzen von Ehre und Rechtlichkeit vereinbaren lasse. Sie setzte hinzu: »Ich zweifle nicht, daß Sie der Herr sind, von welchem meine Miß mich oft unterhalten hat.« Diese Nachricht brachte ihr einen Louisd'or und einen Kuß ein, und ich verließ sie fast ebenso glücklich, als hätte ich eine Zusammenkunft mit ihrer Herrin gehabt.

Es ist nicht an dem Erfolg zu zweifeln, dachte ich bei mir selbst; die Kammerfrau ist gewonnen, morgen spreche ich sie wieder und sehe die Glückliche,Cherubin im Mariage de Figaro (Act. I. Sc. 7.) Que tu es heureuse! A tous moments la voir, lui parler, l'habiller le matin, et la déshabiller le soir, épingle par épingle. ... (Uebers.) welche beständig um den Gegenstand meiner Liebe ist, deren Hand ihr Haar in Locken dreht, in Flechten bringt, ihr das Gewand anlegt, das ihre Reize einschließt und erhöht, und alle Abend sie von dem Schmucke befreit, dessen sie so wenig bedarf. ... Sie hat von mir gesprochen! Wir lieben uns! Das ist ausgemacht! Eine beiderseitige Sympathie bringt uns näher ... wird uns verbinden ... Ich will ... es ist beschlossen ... diese Liebe soll die letzte sein ... die letzte? ... vielleicht! Wenigstens soll sie keiner von den vielen Liebschaften gleichen, die ich gehabt habe; ihr Feuer soll sich von den wilden Flammen unterscheiden, die mich verzehrt haben, ohne auf dem Altar meines Herzens zu brennen – von der erkünstelten Wärme, die meine Seele verdorrt, nicht erquickt hat!

Man glaube nicht, daß ich hier übertreibe! Zwanzigmal in meinem Leben habe ich dergleichen Entschlüsse gefaßt, zwanzigmal hat die böse Gewohnheit über sie gesiegt. Mehr als irgend jemand, ein zaghafter Neuling in der Liebe, galt ich in der Welt für einen Mann, der ein ehernes Herz im Busen trage, der sein einziges Vergnügen im Betrug finde, der nur nach Genuß strebe, und der unschätzbaren Gabe eines Herzens unwürdig sei. Wie konnte man mich aber anders beurteilen? Gab ich mir nicht geflissentlich das Ansehen, das zu sein, was ich scheinen wollte und nicht war? War ich nicht bemüht, vor der Welt die Gefühle zu verbergen, welche tief in mir lagen? Suchte ich nicht aus falscher Scham und schlechten Beispielen folgend die Sprache eines Taugenichtsd'un mauvais sujet. zu führen, welche meinem Herzen so fremd war, und zu verbergen, was in ihm vorging? Wie oft habe ich die Schwächen der Gutherzigkeit, die zärtlichsten Rührungen, die zartesten Empfindungen, die mich des Glücks würdig gemacht hatten, nur eine Frau zu lieben, nur von einer Frau geliebt zu werden, zurückgedrängt! Aber so geht es. Man bringt sein Leben damit zu, sich den Schein eines – Bösewichtsd'un méchant. zu geben, und die wahren Bösewichte stehen da und lauern und nehmen uns beim Worte. Ein schlechter Ruf entsteht, die Welt faßt alles auf, was ihn begründen kann, und wendet die Augen von dem ab, was ihn tilgen könnte. Und will man hinterdrein die böse Meinung verbessern, so ist es zu spät; sie steht auf eherne Tafeln geschrieben und eingegraben, die sie ganz ausfüllt und wo es zur Aufzeichnung ehrenvoller Tatsachen an Raum fehlt; die Fama hat in ihre Trompete gestoßen; sie hat gesprochen, und sie nimmt bekanntlich das einmal Gesprochene nur dann zurück, wenn es in Lob, nie aber, wenn es in Tadel bestand.

Wenn uns etwas grausam und zu Barbaren gegen die Frauen machen könnte, so wäre es der Gedanke, daß sie keine Schonung verdienen, weil sie gegen uns keine üben. Sie sind in der großen Welt die öffentlichen Nachrichter in den gesellschaftlichen Kreisen, wie die Revolutionsweiber auf den Straßen von Paris die Henkersknechte der Parteiwut und der blutigsten Rache gewesen sind. Ihre Bosheit verbirgt sich hinter ihrer Schwäche, wo sie der von ihnen verletzte und verwundete Mann selten aufsucht. Und wenn er sich's erlaubt, diese leichte Verschanzung zu durchbrechen, so nennen sie ihn, den sie so feige und sicher vor Gefahr angriffen, feigherzig und unedel, rufen um Hilfe, und Toren, welche sie morgen ihren Launen aufopfern werden, sammeln sich heute um sie, stimmen in ihre Anklagen ein, überschreien sie gar und verbinden sich mit ihnen gegen ihren natürlichen, gemeinschaftlichen Verbündeten – den Mann – nicht bedenkend, daß ihnen Aehnliches bevorsteht, und daß sie die Pfeile gegen sich selbst richten, welche, wenn Männerhände sie nicht schärften, stumpf und ohnmächtig zu Boden fallen würden.

Ich stellte mich auf die Minute ein, und die dienstfertige Zofe war ebenso pünktlich. Ich erfuhr von ihr, daß ihre Herrschaft eine Dame von Stande sei, Fräulein von Saint F... de V... heiße und aus Korsika stamme. Ihre Mutter, eine geborene Schottländerin, hatte sie auf dem Totenbette einem Engländer, ihrem Verwandten, Herrn B.. .n, empfohlen, welcher jetzt mit ihr reise. Dieses kostbare Vermächtnis war wirklich in edle Hände niedergelegt worden. Herr B...n hatte das junge Mädchen wie seine Tochter empfangen und angesehen – bis auf den Augenblick, wo sich die heftigste Leidenschaft in sein Herz einschlich. Nun aber wollte er seine Rechte mißbrauchen und seine Lage benutzen. Ihm wurde von ihr mehr Widerstand entgegengesetzt, als er erwartet hatte; gleichwohl ward es ihr leichter, einem Vormunde Gegenliebe zu verweigern, als ihm ihre Liebe zu einem andern zu bekennen. Dies alles entdeckte mir die Kammerfrau, oder vielmehr sie bestätigte mir nur zum Teil, was mir schon dunkel vorschwebte. Mehr als je wurde eine Zusammenkunft mit ihrer Dame mein höchster Wunsch und meine wichtigste Aussicht. Die Zofe eröffnete mir, sie sei schon darauf bedacht gewesen, mir eine solche auszuwirken, und habe in dieser Hinsicht Worte fallen lassen, welche ihren Eindruck auf das Fräulein nicht verfehlt hätten; sie habe zugleich gegen sie die Besorgnis geäußert, ich würde mich zum Aeußersten entschließen, zu gewaltsamen Mitteln schreiten, mein Leben in Gefahr setzen. Die Furcht, mit in die Folgen verwickelt zu werden, habe ihre Lady sichtbar beunruhigt. Kurz, sie glaube, das Versprechen von sich geben zu können, durch List oder Ueberredung mir auf den morgenden Tag die so sehnlich gewünschte Zusammenkunft zu verschaffen. Es gelang. Der Erfolg übertraf meine höchsten Erwartungen. Ich wurde in das Innere des Heiligtums eingeführt und fand meine Göttin in ihrem Zimmer. Hier versuchte ich durch alle mir zu Gebote stehenden Mittel, sie zur Verzeihung, zum Mitleid zu bewegen. Ich kniete, ich flehte, ich widmete mich ihrem Dienste; und aus ihrem Munde vernahm ich: ihr Herz sei frei; sie wisse zwar, daß: sich einer Leidenschaft überlassen, zugleich dem Glücke entsagen heiße, sie habe aber dem Vergnügen nicht widerstehen können, mich mündlich zu ersuchen, von dem Entschlüsse abzustehen, sie für mich zu gewinnen; sie rechne zu sehr auf mein Ehrgefühl, um besorgen zu dürfen, ich würde mit ihrer Ruhe ein paar kurze, glückliche Augenblicke erkaufen wollen; ihr Vormund werde bald über den Honig einer zärtlichen Empfindung den Wermut der Verfolgung und der Vorwürfe streuen usw. – Ich war im Begriff zu erwidern, als dieser Vormund sich auf dem Gange hören ließ. Ich hatte nur so viel Zeit, in ein anstoßendes Kabinett zu stürzen. Das Kabinett war kalt wie die Jahreszeit (wir waren im Januar). Ich verbarg mich hinter einem halb zerfallenen Bettschirm. Hier mußte ich aushalten und glaubte wirklich ganze zwölf Stunden ausgehalten zu haben, als ich erlöst ward. Vier gute Stunden wenigstens dauerte meine Gefangenschaft, denn Herr B... n setzte sich gemächlich vor den Kamin, unterhielt auf gut Englisch mit der Lady ein Gespräch, seinerseits bestehend aus lauter Einsilben: Yes, No, Lud, Damn, Hum, Ha, But, If, Well usw. Nachdem sich die angenehme Unterhaltung bis tief in die Nacht hingezogen hatte, nahm er mit einem good night seinen Abzug. Ich kroch nun aus meinem Hinterhalt hervor, aber die Schöne war so erschrocken und der Liebhaber so vor Kälte erstarrt, daß er sich nicht zweimal nötigen ließ, sich fortzuschleichen und an der Türe sich umzusehen, ob ihm niemand folge. Die Kammerfrau bot mir mit vieler Artigkeit, zum Trost und aus Mitleid, auf den folgenden Abend ein Stelldichein – auf der Straße an. Es sollte aber nicht stattfinden, denn wenn ich schon am frühen Morgen mit dem Leben davonkam, so ist dies einem Halbwunder zuzuschreiben. Es ist unmöglich, in einer größeren Gefahr zu schweben; meine Rettung habe ich dem besonderen Schutz der himmlischen Vorsehung zu verdanken.

Alles ist mir noch so gegenwärtig, als wäre es mir gestern begegnet, ich wohnte mit einem leichtsinnigen jungen Mann zusammen, der sich nur auf zweierlei verstand, entweder selbst Narrheiten zu begehen oder sie anderen zuzumuten. Er quälte mich unablässig, ein Pferd zu reiten, welches er vor einigen Tagen gekauft hatte. Das Pferd, sagte er, ist ein Wunder von einem Pferde, ein Inbegriff aller Vollkommenheiten, es ist schön, sanft, leicht, sicher, zugeritten, der prächtigste Paßgänger, ein zweiter Bucephal. Ich will nicht glauben, seine Absicht sei gewesen, daß ich mir den Hals brechen sollte; es war weiter nichts von ihm, als daß er, selbst zu ungeschickt und zu furchtsam, es zuerst zu besteigen, mich vorschieben und mir Lust machen wollte, den Proberitt zu machen und mich den Gefahren des Erfolges auszusetzen.

Kaum habe ich mich in den Sattel geschwungen, als das verdamte Tier sich bäumt, nicht von der Stelle will, hinten und vorne ausschlägt und mit dem Reiter einen Kampf beginnt, den die Sporen ausmachen sollen. Mein Begleiter, der Vicomte von C..., merkt nun Unrat, ändert die Sprache, will mich zum Absitzen bewegen, führt den vernünftigen Grund an, es sei nichts so langweilig und verdrießlich, als mit einem stätigen Pferde spazieren zu reiten. Er hatte recht, aber nun bestand ich auf dem Ritt, in der Gewißheit, Herr über das Tier zu werden. Es geht vorwärts. Wir gelangen auf den Wall. Hier begegnen wir einem kühnen Reiter, dem Grafen von G... Er setzt über einen Graben, ich ihm nach. Aber mein Pferd springt so unglücklich, daß es mit mir mitten in den Graben stürzt, sich wieder aufrafft, in vollem Galopp davonfliegt. Mein Fuß war im Steigbügel hängen geblieben; ich werde, wie Hektor um Troja, dreimal um die Wälle von Brüssel – ohne alle Uebertreibung, zehn Minuten lang – geschleift. Zum Glücke werde ich ohnmächtig, so daß, als ich keine weitere Anstrengung machen kann, meinen Fuß zu befreien, dieser von selbst nachläßt. – Im Leben geht es tausendmal so, man erhält, was man wünscht, nur dann, wenn man aufhört, sich darum zu bewerben. – Man brachte mich nach Hause, ins Bett; ich wurde ein paarmal zur Ader gelassen und verblieb vierundzwanzig Stunden in einer Art von Betäubung und Geistesabwesenheit. Als ich wieder zu mir kam, dünkte es mich – wie im Traume – ich werde von sechs Pferden geschleift, immer in die Runde, immer am schmalen Rande eines Abgrunds, immer den Augenblick erwartend, daß ich hinabstürzen soll. Ich erinnere mich noch heute lebhaft an diesen Zustand; es war keine Einbildung, es war ein physisches, mechanisches Gefühl; ich wußte, daß ich im Bette lag, meine Vernunft redete mir zu, mich zu beruhigen, aber ganze acht Tage lang ward es mir unmöglich, Herr über meine Sinne zu werden und mich von der körperlichen Empfindung, von der unwillkürlichen Bewegung loszumachen, welche mich längs dem Abgrunde fortriß. Das Seltsamste dabei war, daß dieses Gefühl von keiner peinlichen Aengstlichkeit begleitet wurde; es hatte seinen Sitz in den Nerven. Ich richtete mich auf, ich sah auf den Fußboden hinab, befühlte ihn, fand nichts, was die geringste Aehnlichkeit mit einem Graben hatte, schloß ich aber im nächsten Augenblick die Augen, gleich war der Abgrund wieder da; die Nerven arbeiteten von neuem; das Bild erschien von neuem; ich fühlte körperlich den ganzen vorigen Zustand wieder; mein physischer Aberglaube siegte wider Willen über meine kalte Vernunft. Wer erklärt mir diese Widersprüche? – Das Fräulein von Saint F...de V... (ich werde sie von nun an Frau von V... nennen) erfuhr mit der ganzen Stadt meinen Unfall. Er rührte sie. Als ich zu genesen anfing, schickte sie, dicht verhüllt, ihre treue Zofe zu mir, sich nach meinem Zustand zu erkundigen und Bericht abzustatten. Ich schrieb, um mein Dankgefühl auszudrücken. Der Brief wurde angenommen. Auch der Briefsteller ward es, sobald er ausgehen durfte. Ich hatte das Glück, mich überzeugen zu können, daß ein den Pforten des Todes entronnener Liebhaber große Fortschritte im Herzen der Geliebten macht, wenn er ihr vorher nicht ganz gleichgültig war. Unbeschreiblich war die Zärtlichkeit, das Gefühl, das neuentstandene Verhältnis zwischen uns beiden; unbeschreiblich die erste Stunde unseres Wiedersehens, unsere abgebrochenen Reden, unsere Seufzer. Ich benutzte die Stimmung und machte den Vorschlag, uns nie zu trennen. Man war unschlüssig, man stockte. Wie ließ sich ein solcher Schritt tun? Wie konnte man sich dem Ansehen eines Vormundes entziehen, der ein unbeschränktes Recht über sein Mündel hatte, es überall zurückfordern durfte? – Und ich? Ich würde des gewaltsamen Raubes schuldig erklärt werden! Ich würde der Rache eines Mannes nicht entgehen können, der alles für sich habe: das Recht, die Vernunft und vor allem die Wut über eine fehlgeschlageneDésappointé – ein echt englischer Ausdruck. Disappointed gilt besonders von der vereitelten Hoffnung, von vereitelten Entwürfen usw. (Uebers.) Liebe im Herzen. – Ich bat sie, die Besorgnisse über diesen letzten Punkt fahren zu lassen. Diese Wut übernähme ich zu zügeln, so daß, nach vielen Kämpfen mit sich, nach vielem inständigen Flehen, von ihr abzulassen, nach langem Widerstreben und häufigen Tränen (denn ohne Tränen gibt es keine wahre LiebeViele haben es dem Virgil zum Vorwurf gemacht, daß er seinen Helden Aeneas so weinerlich darstellt: Sic fatur lacrymans – lacrymis affatur obortis usw. Ich will nicht behaupten, daß Tränen der Hauptbestandteil einer Epopöe sein sollten; so viel aber ist unstreitig: Tränen sind die Seele des Drama, wie die Liebe selbst. Ich wüßte nichts Unwiderstehlicheres als Tränen; nichts, was man einer weinenden Schönen – die ihre Tränen noch verschönern – versagen könnte. (Verf.) das süße Kind endlich nachgab und in eine Entführung einwilligte. Ich setzte alles in Bereitschaft. Um Mitternacht stand mein Reisewagen unter ihrem Fenster. Sie warf in der Eile die unentbehrlichsten Sachen hinein. Der liebenswürdige Flüchtling zitterte und ermannte sich abwechselnd an meiner Seite, während wir fortrollten, um einen Hafen zu erreichen und nach Holland überzusetzen. Alles ging gut bis dahin. Aber welche Frau begeht nicht etwas Unüberlegtes? Welche zieht sich nicht durch Leichtsinn diese oder jene verdrießliche Affäre zu? Welche bereitet dem, der sein Schicksal an das ihrige knüpft, durch ihren Mangel an Folgerichtigkeit nicht Kummer? Meine Schöne nahm ein junges, sechzehnjähriges Mädchen, eine unzertrennliche Freundin, eine Kaufmannstochter aus der Stadt, mit sich. Auch ich war nicht ohne Schuld, denn in der Eile und Verwirrung einer nächtlichen Entführung und Abreise hatte ich zu wenig auf diesen Umstand geachtet, der eine Tochter ihren Eltern entriß und notwendig ernste und bedenkliche Folgen haben mußte. Hieß das nicht, zwei gefährliche Händel statt eines sich auf den Hals laden? Hätte ich es nicht im voraus bedenken sollen?

Doch es war geschehen, und um meine Erzählung abzukürzen, genüge es, daß wir ein Schiff fanden, welches uns glücklich nach Vlissingen brachte. Hier, und erst hier, nahm die Göttin, welche der italienische Dichter Crudeli in seinem allerliebsten Sonett auf eine mailändische Schöne personifiziert hat, Abschied von meiner Geliebten.Del letto nuzzial' questa è la sponda;
Più non lice seguirti...

Die Göttin der jungfräulichen Scham redet mit diesen Worten die Braut an, von deren Hochzeitslager sie weicht. Ich gebe für diejenigen, die das Original nicht besitzen oder nicht verstehen, eine schwache, doch treue Uebersetzung.

Voici les bords du lit de l'Hyménée;
Je n'ai pas de t'y suivre obtenu la faveur. Adieu!
De tous tes pas compagne fortunée,
Tu fis ma gloire, et je fus ton honneur.

Tu deviendras épouse et mère
Si mes souhaits sont accomplis;
Bientôt l'amour effeuillera ces lis
Que sa main avec soin cultiva la première...
La Déesse s'enfuit pour ne la plus revoir, –
Cette jeune Beauté, qui brûle encore pour elle,
Par ses cris vainement, à trois fois, la rappelle.
Mais la Fécondité,Eine zweite personifizierte Göttin. rayonnante d'espoir,
Descend, lui prend la main, vers son époux l'attire
Et soudain la douleur se change en un sourire.

Ich trat als ein Herr de la Tournerie auf, welcher als Kunst- und Naturliebhaber mit seiner Gemahlin und einer jungen Verwandten reiste. Unser Gefolge bestand aus einer Kammerfrau und einem Bedienten; beide machten sich während der ganzen Reise keiner Unbedachtsamkeit im Reden und Handeln schuldig. Ich wünsche allen denen, welche sich in der Notwendigkeit befinden werden, in ähnlichen Fällen von ihren Leuten abzuhängen und ihnen ihre Geheimnisse anvertrauen zu müssen, eine ebenso diskrete Dienerschaft. Von Vlissingen begaben wir uns nach Middelburg auf Walcheren. Hier ward mir bald die süße Aussicht zu einer künftigen kleinen Familie; allein sie verschwand ebenso schnell, denn von jeher ist das Reisen Hoffnungen dieser Art nachteilig gewesen. Ein Stoß des Wagens vernichtete die unsrige, und, ach! sie kam nicht wieder zurück! Der zarte Rosenstock trieb keine zweite Knospe.

Unsre Tage flossen und flogen schnell dahin. Nicht, daß uns Middelburg viel Abwechslung dargeboten hätte, aber die Morgenröte der Liebe und der Leidenschaft malt den Horizont mit tausend Farben aus, und man zieht es vor (ich wenigstens) sich schweigend Arm in Arm an stillen Orten zu ergehen, als im Taumel der gleichgültigen Gesellschaften lebhaftere Vergnügungen aufzusuchen. Aber unser Glück sollte nicht lange ungestört bleiben. Jemand, der mich in Maestricht beim Grafen von Maillebois gesehen hatte, verbreitete in Middelburg die Nachricht meiner Ankunft und meines Aufenthalts. Das Gerücht gelangte bis zum Groß-Pensionär von Zeeland. Angetan mit einem betreßten, grüntuchenen Rocke, einen mit Perlmutter ausgelegten Hirschfänger von seltsamer Form zur Seite, beehrten mich eines Nachmittags Seine Hochmögenden in Begleitung zweier Alguasils von widrigem Aussehen, die er im Vorzimmer ließ, mit seinem Besuche. Er hub seine Rede mit folgenden Worten an: »Es müsse für die Regierungen gefährliche Folgen haben, wenn sie es dulden wollten, daß Fremde, von welchem Stande und Rufe sie auch sein möchten, sich unter einem fremden Namen in das Land einschlichen und niederließen. Je bekannter der wahre Name einer solchen Person sei, desto mehr sei es ihre Pflicht, sich dessen zu ihrer Ehre zu bedienen. Sich hinter einem falschen verbergen, scheine anzudeuten, daß man geheime, gesetzwidrige, strafbare Absichten habe; wenigstens setzte man sich dem Verdachte aus, etwas gegen den Staat im Schilde zu führen. Er ersuche mich zugleich, infolge seines Eifers für die Erhaltung der öffentlichen Ehrbarkeit und Sittlichkeit, ihm meinen Ehekontrakt vorzuzeigen, ferner ihm zu gestatten, ein Protokoll über die Gründe aufzunehmen, die mich bewogen hätten, meinen Namen zu verändern und meinen Sitz in der guten Stadt Middelburg aufzuschlagen. Ich möchte ihm alles eröffnen, meine Absichten, meine Entwürfe, meine Pläne, Vorhaben, Anschläge und künftige Verrichtungen.« – Ich unterbrach sein breites Geschwätz, indem ich den grünen Ehrenmann mit dem Hirschfänger ersuchte, seine Lunge zu schonen, seinen Feuereifer abzukühlen und von der unnötigen Hitze abzulassen. Ich sei nicht gewohnt, mit einem Heiratskontrakt in der Tasche zu reisen; ich müsse den Herrn für einen ... ich weiß nicht was halten, wenn er glaube, ich würde ihm das Dokument vorzeigen, selbst wenn ich es bei mir führte; ich hätte nie die Absicht gehabt, mich in seiner Stadt niederzulassen, wo ich nichts Gutes vorfände als trefflichen Kabliau; und da ich mich nur kurze Zeit im Gasthofe zur »Silbernen Glocke« aufzuhalten gedächte, wo ich weiter nichts täte, als mein Geld verzehren und meine Zeche bezahlen, so hätte ich es für sehr gleichgültig erachtet, ob ich mich Peter oder Paul nenne. Ich hätte ihm überdies dadurch die Mühe ersparen wollen, meiner Gemahlin die Aufwartung zu machen (hier merkte das Männchen, daß ich seiner spottete), doch, um ihm seine kostbare Zeit nicht zu rauben, und um einen Besuch abzukürzen, der mir schon viel zu lang dünke (hier runzelte sich seine Stirn, und seine Augenbrauen zogen sich auf eine seltsame und widrige Art zusammen), wolle ich mich dazu bequemen, ihn einige Papiere sehen zu lassen, welche auf alles Antwort geben und alle seine Zweifel lösen würden. Mit diesen Worten schob ich ihm einen Paß des Grafen von Mercy, Gouverneur der österreichischen Niederlande, und ein paar Briefe des Grafen von Maillebois, dessen Name einem holländischen Ohre nicht fremd klingen konnte, unter die Nase. Während er die Papiere mit der Brille betrachtete, bat ich ihn trocken und lakonisch, sich nicht länger zu bemühen und mich und meine Gattin unserer stillen Häuslichkeit zu überlassen; ich machte ihm ziemlich bitter und scharf den Vorwurf, in ihr eine Ueberraschung erregt zu haben, welche einer Neuvermählten immer gefährlich werden könne, zumal da sein finsteres Aussehen nicht geeignet sei, das Unangenehme des Auftritts zu vermindern. Ich schloß mit der Versicherung, daß der nächste Morgen die Stadt, die das Glück hätte, seiner Oberaufsicht unterworfen zu sein, von uns befreien werde. – Dies alles brachte ihn auf. Er erzeigte mir die Ehre, zu antworten: Es beliebe mir wohl, das zu sagen, aber nicht zu tun. Seine Pflicht gebiete ihm, sich meiner Abreise zu widersetzen, bis ein Schreiben des Grafen von Maillebois, an ihn selbst gerichtet, mit seines Namens Unterschrift, ihm genügenden Aufschluß geben würde, weswegen ich mich in Zeeland aufhalte, und welches die Gründe meines Inkognitos seien. Ich erwiderte, wie sehr es mich freue, ihn so vernünftig zu finden, weil ich auf diese Weise meinen ersten Vorsatz erfüllen könne, noch acht bis zehn Tage in denselben Ringmauern mit ihm zu leben. Ich ersuchte ihn, sich zu setzen, während ich vor seinen Augen an Herrn von Maillebois schreiben würde, indem es meine Absicht sei, zur richtigen und schnellen Bestellung in seine eigenen Hände den Brief zu geben, dessen Beantwortung meine Freiheit erwirken sollte; denn, setzte ich spöttisch hinzu, ich betrachte mich als Kriegsgefangenen in der Festung, in welcher Sie in Friedenszeiten mit so großer Auszeichnung kommandieren. Er bemerkte mit vielem Scharfsinn, daß die Herren Franzosen feine Necker und lustige Vögel seien. Ich versicherte ihm meinerseits, daß ich sein Wesen viel drolliger fände als alle meine Reden. Nach diesem Kompliment, welches ihm sehr schmeichelhaft und treffend vorkam, begab er sich mit einer Menge von Bücklingen und Kratzfüßen weg, welche seinen übrigen Reden und Gebärden an Ungrazie nicht nachgaben. Er verlängerte und vermehrte sie aber dergestalt, immer rückwärts schreitend, weil er mir aus Höflichkeit die Antlitzseite nicht entziehen wollte, daß er, an die Stiege gelangt, stolperte, das Gleichgewicht verlor und die ganze finstere Treppe hinabrollte, ohne sich halten zu können. Seine beiden Nachtreter halfen ihm wieder auf die Beine. Ich stellte mich, als hätte ich den Unfall nicht bemerkt, blieb oben am Geländer stehen, rief ihm ein »Empfehle mich! Guten Abend! Nehmen Sie sich auf der Treppe in acht!« nach, kehrte dann um, schloß meine Tür ab, verriegelte sie, daß er es hören konnte, um ihm zu zeigen, daß, wenn er unten den Hals bräche, er oben bei mir keine Hilfe zu erhoffen hätte.

Ich hätte erraten sollen, daß das nicht mit natürlichen Dingen zuging, daß Seine Hochmögenden hier nicht von selbst, sondern auf geheimen Auftrag von außen handelten. So war's auch in der Tat. Unser Vormund hatte uns einen von den Ehrenmännern nachgeschickt, welche allezeit fertig sind, sich für Geld mit schlechten Aufträgen zu befassen. Sei's, wie es wolle, genug, das Ungefähr ließ mich noch denselben Abend mit dem Grafen von R... zusammenkommen. Er stand als Oberst bei einem deutschen Regiment in Ihrer Hochmögenden Diensten; seine Garnison war unweit Middelburg; ich hatte in Spaa seine Bekanntschaft gemacht. Um sie zu erneuern, lud ich ihn ein, mit meiner Gattin zu Abend zu speisen, verhehlte ihm aber dabei nicht, daß sie fürs erste nur den Namen führe. Er nahm die Einladung an. Nun erzählte ich ihm der Länge nach den Auftritt mit dem Pensionär. Das gab uns Anlaß zu tausend Scherzen. Am Schluß erbot er sich, mir Pässe zum folgenden Tage zu verschaffen. Ich schlug sie aus. Das Beste für mich war, in Middelburg zu bleiben und das Ende ruhig abzuwarten. Zudem wollte ich diese Stadt und Festung nicht anders als mit allen kriegerischen Ehren verlassen. Auch ließ die Antwort des Grafen von Maillebois nicht lange auf sich warten. Der Pensionär gab sich die Ehre, sie mir in Person zu überbringen; er ließ mir die freie Wahl zwischen der Abreise und dem Hierbleiben. Mein Entschluß war nicht zweifelhaft. Ich nahm Abschied von ihm und erklärte, daß ich mich am folgenden Morgen zur Abfahrt anschicken würde. Er war so höflich, so artig geworden, so ganz um den Finger zu wickeln, daß er mich ersuchte, ich möchte ihm die Ehre erzeigen, bei ihm zu speisen, was ich aus dem Grunde ablehnte, weil Frau von Tournerie nicht mit eingeladen war.

Es war nicht genug, Middelburg zu verlassen, wir mußten einen andern Aufenthalt wählen. Ein Entführer mit seiner Beute pflegt kein leichtes, gutes Gewissen zu haben. Seine Unruhe kommt so ziemlich der eines Missetäters nahe. Und ist Entführung nicht im Grunde eine Art von Missetat? Ich sann hin und her. Endlich schien mir Gent ein sicherer Zufluchtsort. Hier beschloß ich Frau von V... unterzubringen; ich für meine Person wollte nach Brüssel gehen, um den Boden zu untersuchen und dem Grafen von Mercy, von dessen Nachsicht ich Rat und Schutz erwartete, mein Geheimnis zu offenbaren. Wir machten uns bei dem schönsten Wetter nach Vlissingen auf, wo wir uns einschifften. Aber kaum waren wir unter Segel, als uns auf der kurzen Ueberfahrt ein so fürchterlicher Sturm überfiel, daß wir Gefahr liefen, zu stranden. Endlich landeten wir bei Sas van Gent, mitten unter Donner und Blitz und bei einem Gewitter, welches, wie meine beiden ängstlichen, halbtoten Begleiterinnen sagten, ein gegen uns verschworener Himmel über uns verhängt hatte.

Dort erwarteten uns neue Stürme anderer Art und neue Abenteuer.

Die Landesgerichte forderten die von einem Verführer ihren Familien entrissenen beiden Damen zurück. Ich hütete mich, den geringsten Widerstand zu leisten. Die Damen, sagte ich, wären zwei Reisende, die ich nach Holland begleitet hätte. Ihre Familien hätten wahrscheinlich triftige Gründe, sie zurückzuverlangen. Das Gesetz werde nach den Aussagen der Frau von V... entscheiden, ob sie strafbar sei ... ob es andre seien ... Es werde zum Beweis kommen, ob Herr B...n das Recht über sie habe, welches er sich anmaße ... Man werde vor allem in Betracht ziehen, ob er sich keiner andern Gefühle bewußt sei als solcher, welche mit den Pflichten übereinstimmen, die er am Sterbebette der Mutter seiner Mündel übernommen habe ... Das waren die kurzen und bündigen Bemerkungen, welche ich zwei oder drei in Schwarz gekleideten Nachteulen vorlegte, die sich um einen Tisch gesetzt hatten und ein Protokoll aufnahmen. Während sie meinen Vortrag zu Papier brachten, hatte ich volle Muße, mich mit den beiden scheu gemachten jungen Frauen zu besprechen. Ich gab der Frau von V... die heilige Versicherung, ich würde alles ins Werk setzen, um in Brüssel die Affäre zu unterdrücken; ich beteuerte ihr, mein ganzes Glück, mein ganzes Wesen, meine Seele bleibe bei ihr zurück; ich könne, obschon entfernt, in Gedanken nur mit ihr leben; Herr B...n werde im Weigerungsfall den Prozeß zurücknehmen und, falls er nicht seiner Tyrannei entsage, von meiner Hand sterben oder ich von der seinigen.

Also sprach ich, also dachte ich; also denkt und spricht die Leidenschaft. Herr B...n war in meinen Augen ein Tyrann; warum? Weil er mir die Person rauben wollte, die ich ihm wider alle göttlichen und menschlichen Gesetze geraubt hatte; die es ihm Ehre und Gewissen zur Pflicht machten, gegen den Verführer, der sie betört hatte, der sie zugrunde richten wollte, in Schutz zu nehmen!

Auch ich hatte ein Gewissen, auch in meiner Brust ließ sich eine Stimme, die man nie ganz erstickt, heimlich und murrend vernehmen. Um sie aber zum Schweigen zu bringen, gab ich ihr (und zwar nicht ohne allen Grund) zur Antwort: Dieser Beschützer habe so gut wie ich eine sträfliche Absicht gehabt ... eine noch straffälligere, da ihn Verbindlichkeiten an sein Mündel fesselten, die mein Herz nicht belasteten ... ich selbst sei der Ritter und Retter der verfolgten Schönen geworden, der Rächer des gemißbrauchten Vertrauens, der Rächer der unglücklichen Mutter, welche vom Himmel herab Blicke des Zornes auf den Treulosen schleudere, der die Bitten der Sterbenden angehört habe und jetzt verhöhne ... der mir von ihm gemachte Prozeß sei nur ein Vorwand seines Hasses und eine hinterlistige Erfindung seiner Liebe ... er berufe sich auf Gesetze und Gerechtigkeit, bloß um sein schutzloses Opfer wieder in seine Gewalt zu bekommen ... mit einem Worte, da sein Mündel nun einmal einen Fehltritt getan habe, sei es weit einfacher und weniger anstößig, ihn mit mir, den sie liebe, zu vollenden, als sich den Verfolgungen ihres Vormundes preiszugeben, den sie nicht liebe, und doppelt zu sündigen. Meine Zärtlichkeit für die Unterdrückte gab diesen Betrachtungen neue Kraft; der Widerstand, den ich fand, diente dazu, meine Leidenschaft zu vergrößern und den Gegenstand derselben mir tausendmal teurer zu machen. Meine durch ein gerichtliches Verfahren gereizte Ehre goß Oel in das Feuer meiner Phantasie, und es ging so weit, daß ich mir schon ein Urteil dachte, welches mich, den des Raubes und der Entführung Angeklagten, in einen Befreier und Retter der Unschuld verwandeln und mir Ehrensäulen errichten würde.

Mit dergleichen Trugschlüssen gelang es mir, einen ebenso straffälligen als unbedachtsamen Schritt vor mir selbst zu beschönigen, nur wollte es mir nicht ganz gelingen, mich vor meinem Gewissen zu rechtfertigen. Gleichwohl hat der Sünder schon dadurch einen Vorsprung erhalten und ist mit seinem Gewissen bald im reinen, wenn er – der Straffällige – Augenblicke des Zweifels und Zwischenstunden der Ruhe gewinnen kann.

So schwankten meine Gedanken, während ich auf dem Wege nach Brüssel war, bis ich, dort angekommen, mich fest entschlossen fühlte, recht haben zu wollen. Beim Aussteigen aus dem Wagen wartete ein Bekannter auf mich, der viel beim Grafen von Mercy galt und mir riet, keinen Augenblick zu verlieren, den Grafen für mich zu gewinnen. Er verhehlte mir nicht, daß der Vorfall großes Aufsehen errege; man sei aufgebracht, wütend auf mich in der ganzen Stadt, und was man mir vorzüglich zum Verbrechen anrechne, sei die Entführung der jungen P... (der kleinen Kaufmannstochter, an die ich kaum noch dachte). Sein Rat war: um den Prozeß der Frau von V... schnell zu beendigen, mit Herrn B...n ein paar Kugeln zu wechseln; er schien überzeugt, Herr B...n werde sich den Gang mit mir gern gefallen lassen. Aber mit dem Vater der Demoiselle P... liege der Fall anders; der schwerfällige Kontorist sei halsstarrig, berechne den Handel kaufmännisch, wolle seine Tochter mit der ganzen Ehrenemballage wieder in seine Niederlage geschafft haben. Ich beteuerte meinem Freunde, mit der ganzen Aufrichtigkeit eines schuldlosen Herzens, daß der Ballen seit der Absendung unberührt geblieben sei, daß ich ihn aufgeladen, fortgeschafft und abgesetzt habe, ohne mich um den Inhalt zu bekümmern; ich wisse nicht einmal, von welcher Gattung die Ware sei, und habe das kleine, langweilige Ding nie darum befragt. Mein Freund schien über diese Erklärung entzückt; ich glaube, auf Ehre, er hatte befürchtet, daß ich, von der Entführungswut angesteckt, zwei Sabinerinnen zugleich geraubt hätte. Meine Versicherung beruhigte ihn dergestalt, daß ich den Augenblick sah, wo er mir den Rat geben würde, mich für den Entführten auszugeben; und in der Tat war ich, als wir abreisten, wenn ich es recht überlege, von der kleinen Person gewaltsam überrascht worden, denn sie hatte sich ohne meine Erlaubnis in unsern Wagen eingedrängt.

Ich eilte zum Grafen von Mercy und vergaß in unsrer Unterredung nicht, diesen Umstand geltend zu machen. Der Graf empfing mich anfangs höflich kalt und mit strenger Würde; allmählich entrunzelte er sich, und zuletzt, nachdem er meine Rechtfertigung angehört und sie sich zum Teil hatte wiederholen lassen, versprach er mir seinen Schutz. Er gab mir zu verstehen, ich müsse mich vorläufig aus der Stadt entfernen oder ein sicheres Haus finden, wo ich mich eingezogen aufhalten könne. Ausgehen dürfe ich fürs erste nicht. Ehe ich diesen weisen Rat befolgte – denn ich fand es der Klugheit gemäß, ihn zu befolgen – begab ich mich zum Herrn B... n; er war im Begriff, sich niederzulegen. Ich erklärte ihm, daß er mir Genugtuung schuldig sei, indem er in Gott weiß welcher gerichtlichen Eingabe mich und meinen Namen beschimpft habe; wahr sei es, daß sein Mündel, die es nicht mehr sein wolle, sich entfernt habe, aber keineswegs auf mein Anstiften; sie sei geflohen, um den Versuchen, die er sich erlaubt, und den gewaltsamen Handlungen, worüber sie Klage führe, sich zu entziehen; ich wolle hoffen, er werde sich durch eigne Ueberlegung und reifliches Nachdenken zu gemäßigteren, gescheiteren und vernünftigeren Gesinnungen zurückführen lassen; ich würde einige Tage abwarten und verspräche mir, daß er mir dann durch Herrn von S... (den ich als Begleiter mitgenommen hatte) seinen bestimmten Entschluß zukommen lassen würde. »Die Aussagen der Frau von V... (fuhr ich fort) werden Ihnen begreiflich machen, Sir, wie sehr Ihr Interesse es erfordert, ein gerichtliches Verfahren abzubrechen, worin Sie die Rolle des Klägers mit der des Angeklagten vertauschen würden.« – Er wollte nun eine zusammenhängende Rede anfangen – denn bisher hatte er nur einzelne Worte gestammelt – aber ich ließ ihn nicht zu Worte kommen und verließ ihn mit der Versicherung, unsere heutige Zusammenkunft werde nicht die letzte sein. Herr von S... warf mir einen bedeutsamen Blick zu und blieb noch zurück.

Der gute Freund, den ich bei meiner Ankunft getroffen, und der mir Beistand mit Rat und Tat versprochen hatte, war nicht untätig geblieben. Er reiste zur kleinen P..., sprach mit ihr und erhielt von ihr eine schriftliche Erklärung, daß sie wider meinen Willen und einigermaßen ohne mein Wissen ihre Freundin von V... nach Holland begleitet habe; sie habe sich nicht entschließen können, diese Freundin, ihre große Gönnerin, auf ihrer Flucht vor Herrn B...n allein reisen zu lassen. Sie beteuerte ferner in dieser Schrift, man habe es an keiner Achtung für ihre Person und ihr Geschlecht fehlen lassen; sie könne von einem Spaziergange mit Vater und Mutter nicht reiner, unschuldiger, ja selbst aus keiner Kirche erbauter zurückkommen, als von diesem kleinen Ausfluge usw. Man eilte damit, diese bündige Erklärung dem Grafen von Mercy vorzulegen; er schien nur darauf gewartet zu haben. Andrerseits waren die Aufschlüsse und Erklärungen der Frau von V... so sehr zu meinen Gunsten, daß, Herr B...n es für gut fand, seine feindlichen Ausfälle gegen mich und seine prozeßsüchtigen Maßregeln und Schritte einzustellen. Ich bin es der Wahrheit schuldig, zu bekennen, daß es nicht die Furcht vor meinen Drohungen sondern das edle, ruhige und feste Betragen seines Mündels gewesen ist, welches ihn – einen wirklichen Ehrenmann – bewog, von der Klage abzustehen.

Ich speiste von der Zeit an öffentlich beim Grafen, obschon einige gutherzige Seelen der Meinung waren, er hätte dem triumphierenden Laster einen Kappzaum anlegen sollen.Donner un coup de caveçon. (Cavecon ist offenbar das deutsche Kappzaum, wie Lansquenet (Landsknecht), Lanspessade, Anspessade (Landspieß ›Unteroffizier‹), Havresac (Hafersack), Valise (Felleisen), Hallebarde (Hellebarte), Canapse (Schnappsack), Chenapan (Schnapphahn). Die Schweizerregimenter in Frankreich haben diese und eine Menge Trinkwörter (trinquer, chinquer, brindes, carousse, larigot usw.) eingeführt. (Uebers.) Unter andern legte es einmal über Tafel die alte Fürstin von Stahremberg darauf an, mich in Verlegenheit zu setzen. Sie wandte sich während einer Pause an mich. »Ei! (rief sie mir überlaut zu) Sind Sie doch wieder da! Man hat sagen wollen, Sie hätten ein junges Mädchen entführt. Nicht wahr? Ein bloßes Märchen?« – »So? Hat man das gesagt? Nun, da wir beide, gnädige Frau, Sie von Paphos ich von Middelburg, zurückgekommenrevenir heißt sowohl alt geworden sein, als von einer Reise zurückkehren; ein wörtlich unübersetzbares Wortspiel. sind, wird man nicht mehr davon sprechen.« Es erhob sich ein für die alte Matrone, die weit über die Sechzig hinaus war, ärgerliches Gelächter. Sie verdiente den Stich schon dadurch, daß sie noch die Junge spielen wollte. Ich habe in meinem Leben keine so ungeheure falsche Perücke gesehen, Schminke, fingerdick aufgelegt und rot wie ein angestrichenes Wagenrad, ein Schmuck, im vorigen Jahrhundert gefaßt, ein Gesicht wie das einer Mumie.


Damit war nicht alles abgetan. Ich mußte mich wieder in den Besitz meiner Geliebten setzen und die Torheit vollenden, von welcher ich freigesprochen war. Es wurden mit Herrn B...n Unterhandlungen eingeleitet. Anfangs erfolgte seinerseits der tapferste Widerstand. Endlich ließ er seinem Mündel das Liberum Arbitrium,Die freie Entscheidung. wie er sich ausdrückte. Kaum waren beide Worte aus seinem Munde, als ich ihn dabei festhielt und sie ihm so lange wiederholte, bis er sich entschloß, mich zur jungen Dame zu führen, und ihr in meiner Gegenwart sagte: sie sei frei und könne nach Willkür und eigenem Willen über ihr Schicksal entscheiden. Ich siegte, ich frohlockte, ich triumphierte. So viel muß ich aber auch zugleich gestehen, daß mein Sieg durch einen Umstand erschwert wurde. Herr B...n führte sie an ein Fenster, stellte ihr ein Papier zu, sprach einige Worte mit ihr; und nun sah ich sie stocken, wanken, einen Tränenstrom vergießen. Schon wollte ich mich entfernen, als sie mit großer Heftigkeit auf mich zustürzte, mich beim Rockschoß ergriff, ihn dann wieder bescheiden und verwirrt fahren ließ. Was mochte der Inhalt des Papiers sein? War es ein Eheversprechen? War es ein Schreiben der Mutter? Ich weiß es nicht und werde es ewig nicht wissen; denn später, in den innigsten Augenblicken der Vertraulichkeit, habe ich von ihr keinen befriedigenden Aufschluß über ein Geheimnis erhalten, welches ich doch nur vergeblich abzuringen versucht haben würde, weil es immer nur von ihr abhing, der Wahrheit jede beliebige Erdichtung unterzuschieben.

Gleichwohl kann ich es nicht leugnen: der ganze Auftritt befremdete mich. Die tiefe Rührung des Herrn B...n konnte mir nicht entgehen, nicht gleichgültig bleiben. Sein Ton war einesteils so gemäßigt, andernteils so innig und empfindungsvoll, er ging mir zu Herzen. Auch liebte ich die Unruhe, die Aengstlichkeit, das (soll ich sagen?) Schwanken nicht, welches ich an seinem Mündel bemerkt hatte; aber ihre rasche Bewegung vor einem Zeugen, der ihr im Wege stand, ihr Nachstürzen, als ich das Zimmer verlassen wollte – das Andenken an diese Minute ergriff mein Herz immer aufs neue, hob alle meine Bedenklichkeiten.


Ich bin mehrmals von Frauen verlassen worden, unter anderen von einer; die ich angebetet habe. – (Ich rede hier von einer späteren Zeit, von einem späteren Falle.) – Diese Frau hat sich's aufs äußerste angelegen sein lassen, während der ziemlich langen Verbindung, die zwischen uns stattfand, Güte, Zärtlichkeit, kurz alles, was ein Verhältnis wie das unsrige anziehend, reizend, lockend machen kann, mit Bosheit, Härte des Herzens und der empörendsten Handlungsweise zu vereinbaren. Der Tag unsrer Trennung war der nämliche Tag, wo wir uns gegenseitig versprochen hatten, uns nie zu trennen. Nie hatte sie so viel Kunst verschwendet, mich an sich zu zaubern. Ich fiel, als ich sie verlor, in einen Zustand der Nichtigkeit. Sie hatte für mich die Welt entvölkert, sie hatte mich in eine unendliche Einöde gebannt. Ich irrte tagelang umher, an nichts denkend, an nichts denken wollend, denken könnend, als an ihre guten Eigenschaften, als ,an ihren Verlust, an die ewige Quelle meiner Tränen bis zu meinem letzten Atemzuge. Ich war untröstlich, nahe daran, den Verstand zu verlieren, mit Recht fürchtend, ein Schmerz dieser Art, ohne Rast, Ziel und Ende, müsse mich auf geradem Wege ins Tollhaus führen. Und dieses würde auch unzweifelhaft mein Los und meine Bestimmung geworden sein, hätte mir der Himmel nicht eine einfache Idee eingegeben, welche manchem wie eine Kinderei vorkommen dürfte, die ich aber als die stärkste Kraftäußerung meiner Vernunft ansehen muß, weil ich ihr die Erhaltung derselben schuldig bin. Ich setzte nämlich ein umständliches, räsonierendes Verzeichnis von allen Bosheiten, Treulosigkeiten, grausamen Behandlungen, kalten Mißhandlungen auf, die ich von dieser geliebten Person erduldet hatte, sogar von einigen beißenden, giftigen Stachelworten, die ihr entfallen waren; denn sie, die liebenswürdigste, anziehendste, hinreißendste ihres Geschlechts, sobald sie es wollte – und sogar, wenn sie es nicht wollte – konnte auch die barbarischste Tyrannin ihres Anbeters sein. Dieses Verzeichnis, in Form einer Anklageakte aufgesetzt, las ich täglich morgens und abends durch; ich trug es beständig bei mir, ich lernte es auswendig, und wenn Erinnerungen anderer Art dagegen anstrebten, sie verscheuchen und sich meiner Phantasie bemächtigen wollten, so entfaltete ich mein Papier, las es mit lauter Stimme, spornte mich an, und es gelang mir dann – sie zu hassen ..., wenigstens bildete ich mir es ein. Aber nun entstand ein Kampf in mir auf Leben und Tod; die Geliebte gewann wieder Raum, siegreich verfolgte sie mich bis an die entgegengesetzte Grenze ihres Reichs, und hätte ich mir in so widersprechender Lage nicht durch Tränen Luft gemacht, ich hätte sterben müssen. – Endlich schlug sich der Sieg auf meine Seite, vier Monate waren verflossen; ich verschloß mein Verzeichnis in meinen Schreibtisch, in der festen Meinung, daß ich sie nun haßte, daß ich sie verabscheute. In den drei folgenden Monaten hatte ich nicht nötig, zu meinem Rezept zu greifen und ihre Grausamkeiten zu überlesen. ... Ich hatte sie beinahe ganz vergessen, und dachte ich noch ab und zu an sie, so war es mit Unwillen (ein Gefühl, das ich dem Hasse vorziehe).

Sieben Monate, geliebter Leser, sind vorüber ... Seit drei Monaten ist mein Sieg gewiß. ... Du glaubst es und hältst mich für gerettet ... Ich glaubte es selbst.

Es schlug acht Uhr abends. Wir waren im Herbst. Ich lebte in einer großen, damals etwas entvölkerten Stadt. An der Ecke einer breiten Straße bemerkte ich zwei Frauen. Die eine trägt sich weiß, mit einem Scharlachschal. Sie zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die Wohlgerüche, die sie verbreitet, sind mir bekannt, treffen meine Geruchsnerven. Ich höre sie zu Ihrer Gefährtin sagen: »Da geht er« (und sie nennt mich bei Namen). Stolz gehe ich an ihr vorüber, aber schon hat ihre Stimme, die ich seit so lange nicht gehört hatte, einen Dolch mir ins Herz gebohrt. Vier Schritte weiter kehr' ich mich um ... Allmächtige Götter! Wie ward mir? Auch sie hatte das Haupt gewendet; ohne von der Stelle gewichen zu sein, blickte sie mich an. Jetzt verdoppelt sie ihre Schritte und entflieht. Ich mußte mich am nächsten Prellsteine festhalten, um nicht auf das Pflaster zu fallen, welches nicht kälter sein konnte, als ich es war. Endlich raffte ich mich auf, schleppte mich mit äußerster Anstrengung bis nach Hause. Alle meine Wunden sind wieder aufgerissen!!! Ich war genötigt, das verzweifelte Verzeichnis einmal, zweimal, dreimal abzuschreiben und ein-, zwei-, dreimal wieder zu überlesen, ehe ich mich sammeln und mich in meine vorige Lage hineinarbeiten konnte. Zu einem vollkommenen Seelenfrieden bin ich nicht eher gelangt, als bis ich den Ort verlassen habe, wo die Feindin meiner Ruhe lebte, und ich ganz sicher sein konnte, sie nicht anders als jenseits des Grabes wiederzusehen.

Frauen! Frauen! Wollte ich euch sagen, könnte ich euch sagen, was diese Frau für mich gewesen ist, Was sie für mich getan hat, welches Liebeszeichen ich von ihr erhalten, ihr würdet begreifen können, wie ich mich habe über ihren Verlust trösten können. Setzte ich euch in Kenntnis des Geheimnisses, welches an meinem Herzen verborgen ist – entdeckte ich euch aber zugleich, was für überlegte schwarze Handlungen, welche Infamien ich ihr vorzuwerfen habe, ihr würdet ebenso wenig begreifen können, wie es mir möglich gewesen, mich wieder nach ihr zu sehnen. – –

Wie bin ich darauf gekommen, diesen Abschnitt zu schreiben, diesen Teil meiner Geschichte vorweg zu berühren? Wie? Jetzt besinne ich mich. Es ist bei Gelegenheit meines Verhältnisses zur Frau von V... geschehen, bei Erwähnung meines Wunsches, mich mit ihr zu verbinden, bei dem gleich darauf eingetretenen Bemerken ihrer Unschlüssigkeit, und bei der erneuerten leidenschaftlichen Empfindung meines Herzens, welches ihr gleich wieder entgegenflog. Ich kehre wieder zu mir, zu ihr, zu Herrn B... n zurück.

Doch nein, ich muß vorher noch meinen Lesern ein psychologisches Rätsel aufgeben, welches diejenigen von ihnen, die mit dem menschlichen Herzen nicht ganz bekannt sind, schwerlich lösen dürften. Hier ist das Rätsel und mein Bekenntnis. Während meines innern Kampfes mit und um Frau von V... hatte sich in mir für eine andere ein ziemlich lebhaftes Gefühl eingefunden. Ich stand auf dem Punkt, einer neuen Schönen zu huldigen; wenigstens durfte ich glauben, eine neue Eroberung gemacht zu haben, und meinem Abenteuer diesen Namen geben.

Ein Rechtsgelehrter von Brüssel hatte eine hübsche Tochter, welche nicht immer die Grausame gespielt hatte. Sie war mehrmals, in ihren Mantel gehüllt, in einen Garten aus dem Tore gekommen, wie Rousseaus Julie in ihre Sennhütte, um in meiner und anderer Saint-Preux Gesellschaft Milch und Erdbeeren zu essen. Eines Morgens begegnete ich ihr vor dem Schlosse. Ich biete ihr den Arm, führe sie in einen der menschenleeren Höfe, ersuche sie, mich anzuhören, und ohne weitere Vorrede entdeckte ich ihr, daß mich geheimer Kummer drückt, daß ich höchst unrecht getan habe, leicht zu haschenden Vergnügungen zu entsagen, um sie gegen Tage der Bitterkeit und der Angst zu vertauschen. Ich fühle in diesem Augenblick den ganzen Verstoß gegen Galanterie und Sitte, dessen ich mich schuldig machte. Ob sie es nicht auch fühlen mochte? Ob meine Bemerkung sie nicht empfindlich verletzte? Genug, sie lächelt; in ihrem Lächeln lag ein sonderbarer Ausdruck; gleichwohl gab sie mir ein Rendezvous auf denselben Abend, elf Uhr. Die Verabredung war, ich sollte die Weise pfeifen: Où peuton être mieux usw.; dann werde sie herabkommen, mir aufmachen und mich einlassen. Ich war pünktlich; ich pfiff, pfiff noch einmal. Hätte ich aber auch die ganze Oper Lucile in Variationen gesetzt, es wäre niemand erschienen. Voll Ungeduld und instinktmäßig nähere ich mich der Tür, versuche, finde sie halb offen. Sie aufstoßen, die Treppe leichtfüßig hinaufsteigen, mich auf den Zehenspitzen in das Vorzimmer einschleichen, war das Werk eines Augenblicks. Aber im Begriff, die Türe zu öffnen, où Rose respire, fühle ich mich plötzlich von einem Paar athletischen Armen umfaßt – eine Umarmung, welche mit der schwanenweichen Umspannung einer Geliebten nicht das geringste gemein hatte. Ich sträubte mich, umsonst; ich will mich losmachen, umsonst; ich bin einmal der Schwächere und werde überwältigt. Man zieht, schleppt, stößt mich gewaltsam der Treppe zu. Jetzt kenne ich mich nicht mehr vor Wut. Ich schlage um mich, und da mir der eine Arm lahm wird und wie zerbrochen schmerzt, wehre ich mich mit Fußtritten wie ein wildes Tier. Nun werde ich ohne Umstände auf die Erde geworfen; man bindet mir mit einem Strick die Arme hinter den Rücken; ich beiße um mich, man reißt mir die Haare aus. Ich fühle ein Knie, das mir die Rippen eindrückt. Meine Hände werden in einen Schleifknoten gebracht, und in diesem Zustande läßt man mich mit Lebensgefahr die Treppe hinunterstolpern. Man schiebt mich mit der größten Höflichkeit auf die Straße und schließt die Tür hinter mir ab. Ich bin nie – und werde, wie ich hoffe, nie wieder – in einer solche Raserei geraten. Was war zu tun? Wozu sollte ich mich entschließen? An meine Haustür pochen, hieß mich lächerlich machen und war überdies bei gebundenen Händen fast unmöglich. Doch blieb mir kein anderer Ausweg übrig. Ich stieß mit den Füßen an und zog es vor, mich in diesem Auszuge lieber vor meinem Bedienten als vor einem Fremden bloßzustellen. So kam ich denn glücklich vor dem Pförtner vorüber, ohne von ihm bemerkt worden zu sein, und half mir bei meinem ziemlich einfältigen und ehrlichen Kerl mit einer Lüge durch. Mit innerer Beschämung erdichtete ich ein höchst unwahrscheinliches Märchen von Dieben, die mich angefallen hätten. Er hörte mir mit offenen Augen und Ohren zu und konnte gar nicht begreifen, wie sie es so gnädig mit mir gemacht, mich so unvollständig bestohlen und mir meine Uhr gelassen hätten, deren Kette er hervorhängen sah. Das kleinste Kind würde dieselbe Bemerkung haben machen können. Vielleicht sah er weiter als ein Kind; vielleicht dachte er bei sich: »Mein Herr ist ein Lügner!« – Man muß gestehen, daß ein verliebter Abenteurer bisweilen eine seltsame Rolle zu spielen hat.

Der Ungewißheit, worin ich mich mit Frau von V... befand, mußte ein Ende gemacht werden. Ich hatte endlich eine bestimmte Aussprache mit ihr. Die Art, mit welcher sie mich versicherte, sie könne nur mit mir glücklich sein; der Ton, mit welchem sie diese Versicherung Herrn B...n vor mir wiederholte, ließ mir keinen Zweifel zurück, hob alle meine Bedenklichkeiten und genügte dem forschendsten Zartsinn. Ich bin Herrn B...n bei dieser Gelegenheit die Gerechtigkeit schuldig, anzuerkennen, daß er sich mit einer Festigkeit waffnete, die ich nicht in ihm gesucht haben würde, und daß er sich, im ausgedehntesten Sinne des Worts, als Mann zeigte. Er gab sich sogar Mühe, bei diesem Auftritt, wo er sich zum letzten Male mit dem Ansehen eines Vormunds zu zeigen und die Regungen eines geheimen Liebhabers zu verbergen hatte, die ganze Würde eines edlen, rücksichtsvollen Gemüts zu zeigen. Er rief den Himmel zum Zeugen, wie sehr er wünsche, daß die Verantwortlichkeit, die ich von nun an übernähme, nie anders als zu meinem Glück ausschlüge, wie sehr er wünsche, daß ich es nie bereuen möge, aus eigener Wahl ein Joch mir auferlegt zu haben, dessen Bürde mit ihrem ganzen Gewicht zu übernehmen, eine kältere Betrachtung mich gewiß abgehalten haben würde. Er nahm keinen Anstand hinzuzusetzen, und zwar mit einem gefühlvollen und unparteiisch scheinenden Tone: Er zweifle, ob das Band, welches ich geknüpft habe und nicht ohne die größte Straffälligkeit zerreißen könne, mir ein dauerhaftes Glück gewähren, und ob ich es lange würde ertragen können, ohne bitter zu fühlen, daß es mich drücke. Er fuhr fort: »Die Schönheit der Frau von V... ist alles, worauf Sie Bedacht nehmen; wird sie aber immer in Ihren Augen schön sein? Ihr liebenswürdiger, gefälliger Geist, wird er Ihnen ewig gefallen? Ihr Gemüt ist leicht und wandelbar;Varium et mutabile semper femina. das lebhafte Aufwallen ihrer Jugend, die Beweglichkeit ihrer Neigungen leisten Ihnen keine Gewähr für die Zukunft, sind im Gegenteil Besorgnis und Mißtrauen erregende Anzeichen.« Er fuhr fort: »Wäre mir bisher noch einige Ungewißheit über der Miß Charakter und über die Meinung geblieben, die ich mir längst von ihr gebildet habe, so würde der rasche, dreiste, gewagte Schritt, den sie sich mit Ihnen erlaubt hat, jeden Zweifel heben.« Er wollte nicht (so schloß er) den vielen Betrachtungen, die er darüber angestellt habe, Raum geben und Luft machen, um nicht bei der Sache befangen und eingenommen zu scheinen; er wünsche im Gegenteil inbrünstig und mit der ganzen Reinheit und Aufrichtigkeit seines Herzens, daß die Worte, die er gesprochen, sich tief ins Gedächtnis der (dabei gegenwärtigen) Frau von V... eingraben und sie bewegen möchten, ihn durch ihr künftiges Betragen Lügen zu strafen. Hierauf wendete er sich besonders an mich und machte die Zeit zum Schiedsrichter zwischen uns beiden, zwischen seiner Furcht und meiner Hoffnung.

Frau von V... weinte heftig, während er sie mit trockenen Augen, aber mit blassen, zitternden Wangen und einem Blick betrachtete, worin sich der finstere, zurückgehaltene Schmerz sichtbarlich malte. »Noch wäre es Zeit! (sprach ich zu mir). Noch ist der letzte Schritt nicht getan! Noch könnte ich sie ihm abtreten, zurückgeben! ... Ich sollte es tun! ... Doch nein ... es ist zu spät; sie würde zu unglücklich sein ... und ich auch.«

Herr B... n behielt uns den Abend bei sich und gab mir alle erforderlichen Mitteilungen über sein Mündel und ihre Familie. Ich mußte ihm versprechen, sie immer mit Güte und Sanftmut zu behandeln, auch wenn sie es nicht immer verdienen sollte, und ihr zu erlauben, bisweilen an ihn zu schreiben. Dann zog er aus einem Kästchen ein Bild hervor, und als er sah, daß die Züge mich tief bewegten, beeilte er sich mir zu sagen: »Es ist von Plymer für ihre Mutter gemalt worden, wenig Wochen vor deren Tode. Ist Ihnen durchaus alles daran gelegen, so trete ich es Ihnen (mir das Bild hinreichend) von ganzem Herzen ab!«

Ich hätte das Opfer nicht angenommen, wäre auch mein Leben der Preis gewesen. Innig gerührt, konnte ich nur mit einer bedeutsamen Bewegung des Kopfes danken. Es wäre mir unmöglich gewesen, ein Wort, einen Laut vorzubringen. Nach zwei Stunden einer peinlichen Lage, die ihm nicht entgehen konnte und ihn an uns rächte, verließen wir ihn, nachdem er uns beim Weggehen versprochen hatte, am andern Tage mit dem frühesten Abschied von uns zu nehmen. Er kam nicht. Ich danke ihm noch heute für dieses Zartgefühl.

Ich reiste nach Paris ab, ein zweiter Paris, dem eine zweite Helena Qualen die Fülle bereiten sollte. Schon unterwegs fand ich Gelegenheit zu bemerken, daß die Frau, welche man uns streitig macht, in einem ganz andern Lichte erscheint als die, welche uns abgetreten wird.

O Phantasie, Einbildungskraft, folle de la maison, wie dich ein Dichter mit Recht nennt, der Unglückliche, den du beherrschest, den du führest und leitest, hat nicht zwei Stunden hintereinander denselben Grund, dieselbe Ansicht, dasselbe Vergnügen; dagegen sind seine Leiden desto dauerhafter. Du weißt sie zwar auch ins Unendliche zu vervielfachen. Umsonst steht die Vernunft dir gegenüber; sie hat dir nichts entgegenzusetzen, keinen Zügel dir anzulegen. Du durchläufst den ganzen Kreis des Lebens, während deine kalte Rivalin untersucht und berechnet, wohin sie den Fuß setzen soll!

Ich selbst sollte den Fuß wieder in Paris setzen, in das Paris, welches ich fürchtete nie wiederzusehen, welches ich seit fast anderthalb Jahren verlassen hatte, aus welchem ich mich seit einem ganzen Jahrhundert verbannt und entfernt glaubte. Hätte ich damals eine wirkliche Verbannung geahnt, sie vorhergesehen! Hätte ich, ein Spiel des Schicksals zu Land und zur See, ein Opfer der Menschen und der Dinge, mir die lange Zukunft, die grenzenlose Verbannung gedacht, in welcher ich abwechselnd Tage der Verzweiflung und der Hoffnung durchleben würde, – wie hätte ich den bloßen Gedanken überleben können!

Als ich 1791 Frankreich wiedersah, war mein Vaterland in einen schwärzeren Schleier gehüllt als bei meiner ersten Entfernung; es war ein Trauerflor, der über demselben hing. – Ich mietete Zimmer für mich und Frau von V... auf der Chaussée d'Antin; ich suchte ihr einen ziemlich beschränkten gesellschaftlichen Kreis aus; es war mir daran gelegen, daß sie an einer eingezogenen Lebensart Geschmack fände, denn Eingezogenheit ist die erste Gewähr für Frauentreue, weil sie den Frauen die Gelegenheit entzieht, sie zu brechen. Nichtsdestoweniger überließ ich mich allen Anfechtungen einer marternden Eifersucht, weil ich bemerkte, daß die, welche sich meine Freunde nannten, kein Mittel unversucht ließen, meine Geliebte zu verführen. So machen es die Freunde, sie, die sich am wenigsten das Recht anmaßen sollten, den Hausfrieden zu stören und Herzen zu rauben! Von zehn Fällen gibt es gewiß acht, wo es gerade unser bester Freund sein wird, der sich's erlaubt, uns dergleichen Streiche zu spielen, weil er dazu die beste Gelegenheit hat und wir ihm am meisten vertrauen zu können glauben. Nichts ist leichter, als einen Ehemann oder Liebhaber, der unser Freund ist, hinter der Larve der Ehrlichkeit zu betrügen; auch die meisten Frauen sind mit dieser Art von Betrug einverstanden, weil sie das Unwahrscheinliche lieben und von Natur zu allem hinneigen, was einer Treulosigkeit ähnlich sieht. Anbetungswürdige Hälfte des Menschengeschlechts, wirf nicht den ersten Stein auf mich! Wer von euch hier eine Ausnahme macht, wird mich verstehen und die Schwierigkeit und Größe der Ausnahme zugeben; wer nicht zu den Wenigen gehört, wird mich noch besser verstehen und an die Unmöglichkeit der Ausnahmen glauben. Ich sah die Revolutionsmänner meiner früheren Bekanntschaft wieder. Aus meinen Beobachtungen, aus meinen Unterhaltungen mit denen, welche damals die ersten Rollen auf dieser tragischen Bühne spielten, ersah ich, daß sich ein Bürgerkrieg entspinnen würde, oder daß, wenn es nicht dazu käme, wir uns so lange zwischen einer zerrüttetendéchirée. Monarchie und einer unmöglichen Republik zerarbeiten, uns hin und her zerren lassen würden, bis ein Mann aufstände, der es auf sich nähme, Toren und Bösewichter zu zerstreuen und Ordnung und Eintracht wieder herzustellen.

Der unglückliche Ludwig hatte sich als Gefangener in die Tuilerien begeben und dadurch den letzten Beweis seiner Schwäche gegeben, sein Absetzungs- und Todesurteil selbst unterzeichnet. Von nun an konnte nichts die Gesetzgeber abhalten, sich auf blutigem Kampfplatze in Gladiatoren zu verwandeln, sie, die man nur durch Widerstand zur Nachgiebigkeit hätte zwingen können. Vergebens hatte Ludwig XVI. die Konstitution (dieses Epigramm auf das Königtum) angenommen und beschworen; vergebens hatte er die beweglichen, rührenden Worte gesprochen: »Ich will meinen Sohn frühzeitig auf die neue Ordnung der Dinge vorbereiten, welche eine Folge der Umstände ist usw.«; vergebens hatte er verboten, auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen; – um so mehr folgten Beleidigungen auf Beleidigungen, und der bittere Kelch der Schmach, den man ihn leeren ließ, war unerschöpflich und ohne Grund, wie die Ewigkeit. Mit der Königin und Madame Elisabeth allein geblieben, mit ihnen bestimmt, als Opfer der Wut und der Unmenschlichkeit zu fallen, hatte sich der unglückliche Fürst von seiner ganzen übrigen Familie verlassen gesehen. Seine Tanten, die sich in einem vorgerückten Alter hätten berufen fühlen sollen, ihn mit Trost zu unterstützen und mit ihren letzten Lebensjahren weniger zu geizen, hatten sich klüglich nach Italien zurückgezogen. Wut, Rachsucht und Schmähungsgeist lagerten sich um die Türen seines verwaisten Schlosses, und sein Herz konnte, bei dem unausgesetzten Kummer, der daran nagte, nicht einmal die spärlichen Freuden der Einsamkeit genießen. Allen Demütigungen und Erniedrigungen preisgegeben, hatte er sich über alle erhaben gezeigt; nur eine sollte ihn niederwerfen, nur der letzten Tyrannei konnte er die Stirn nicht bieten. Er unterlag ihr. Es war, als man ihm die Erlaubnis verweigerte, in Saint-Cloud ein paar Tage des Friedens, im Schoße der Andacht und der Gottesverehrung, zu suchen. Damals sah man den König von Frankreich auf seinem Schloßhofe in einem empörenden Kampfe begriffen; man sah den König von Frankreich von aufgewiegelten Untertanen umzingelt, mit Schmach belegt, angetastet, festgehalten; man sah den König von Frankreich mit tränenschweren, geschwollenen Augen sich zurückziehen und den Vorsatz aufgeben, zwei Stunden von Paris, in Saint-Cloud, frische Luft und den Frieden mit Gott und den Menschen zu genießen. Man sah ihn nicht für sich selbst, nur für einen treuen Diener zittern,Für den jungen Marquis von Duras, seinen ersten Gentilhomme de la chambre. Das wütende Volk riß ihn (den 18. April 1791) vom Kutschenschlage herab. Vergebens hielt ihn der König bei der Hand zurück. Man trennte sie. »Versprecht mir nur, ihm das Leben zu lassen!« rief der König und erhielt das Versprechen, daß seinem Liebling kein Leid geschehen solle. (Uebers) den er den Wütenden mit der Gebärde, mit der Stimme, mit der Bitte zu entreißen strebte. Herr von La Fayette meinte es diesen Tag ehrlich, konnte es aber nicht erreichen, daß dem Könige, dem die wirkliche Freiheit längst genommen war, ein Anschein von Freiheit gelassen würde.Es war bestimmt und festgesetzt, daß der König nicht über zwanzig Stunden Weges im Umkreis sich von Paris entfernen dürfe. (Uebers.) Der Halbrevolutionär machte bei dieser Gelegenheit die Erfahrung, daß ein schwankender Aufrührerun pâle factieux. in den Augen des Pöbels nur ein Gliedermann ist, der ihn wohl einen Augenblick in Bewegung bringen, aber nie leiten und anführen kann. Die vielen Empörungen hatten den wahren Sinn der Nation für Patriotismus und Volksfreiheit geschwächt, derselben nur den leeren Namen einer Nation gelassen und sie dem Joche einiger Tyrannen unterworfen. Das Königtum, die wahre Schutzgottheit des französischen Volks noch mehr als jedes andern, glich einer verstümmelten Bildsäule, welche man noch aufrecht erhält, um ihre Verletzungen recht sichtbar werden zu lassen. Der König schien nur noch zu leben, damit er die Zielscheibe der niedrigen Beleidigungen würde, womit man alle Kronen in den Staub treten wollte; er sollte sozusagen der Stellvertreter der in seinem Namen gekränkten und in der Person des ältesten Monarchen der WeltMan wird hoffentlich Frankreich das Recht, die älteste christliche Monarchie zu sein, nicht streitig machen wollen. (Verf.) verhöhnten und erniedrigten Souveräne Europas sein.

Mirabeau, welcher von dem Augenblick an, wo man nicht mehr wollte, daß er der Mann des Volks sei, der Mann des Hofes geworden war, hatte sich insofern verrechnet, als ihm nicht Zeit gelassen wurde, sein gegebenes Wort zu halten und das übernommene Werk zu vollbringen. Es ist, als habe über dieser ganzen Revolution der Geist des Bösen gewaltet, gewacht und die Fülle seiner Kraft ausgeschüttet, und als sei gegen alles, was ein guter Geist versucht und vermocht hätte, um das Uebel abzuwenden und die Ordnung wiederherzustellen, ein eisernes, unübersteigliches Bollwerk erstanden.

Mirabeau ist, so sehr man auch das Gegenteil behaupten will, an Gift gestorben. Es hat zwar seine Richtigkeit, daß die Ausschweifungen, welchen er sich wenige Tage vor seinem Tode überließ, dazu beigetragen haben, die Wirksamkeit des Giftes zu erhöhen und seiner Krankheit einen entschieden gefährlichen Charakter beizulegen. Die Exzesse allein haben es aber nicht getan; er war längst daran gewöhnt, er lebte davon, und sein athletischer Körperbau würde ihnen noch lange widerstanden haben, hätte man nicht seine Zuflucht zum Gifte genommen, mit welchem er nicht so vertraut war als Mithridat. Aber, sagt man, sein Leichnam ist geöffnet und keine Spur von Vergiftung gefunden worden. Als wenn jede Giftart eine Spur hinterließe! Genug, ich behaupte: Er ist an Gift gestorben. Nicht ganze zwei Tage nach dem, wo er von der Bühne herab verkündete, er wolle die Faktionisten angeben, entlarven, bekämpfen, fühlte er sich von einer Schwäche befallen, welche – wie er selbst zu einer Freundin sagte, von der ich es habe – er nicht zu beschreiben vermögend sei. Ich habe noch überdies andere Gründe, es zu glauben; ich verschweige sie, weil ich kein Libell schreibe und es immer besser ist, nicht zu viel zu sagen, wenn man nicht genug sagen kann. – Der König ließ oft nach seinem Befinden fragen; ja, ich fand einmal vor seiner Tür einen Mann, der das volle Vertrauen der Königin besaß und sich nach seinem Zustande erkundigt hatte. Der Hof gab sich keine Mühe bei seinem Absterben, den tiefen Eindruck zu verbergen, den dieser Tod auf ihn machte. Mit diesem großen Verbrecher, welcher nur ein Jahr Zeit bedurft hätte, um sich zu entsündigen, sank die letzte Hoffnung eines Monarchen dahin, auf dessen Haupt sich die allerhärtesten Streiche des Schicksals vereinigt hatten. Mirabeau starb mit der Ergebung und der Festigkeit eines Gerechten. Dem Vorwurfe, es fehle ihm an Mut, begegnete er durch die einfache, edle, prunklose Art, auf welche er endigte. Man veranstaltete ihm das prächtigste Leichengepränge. Der allerbeste Staatsbürger, der Mann, der die größten Verdienste um sein Vaterland gehabt hätte, der Tugendhafteste in einem weitläufigen Reiche, würde nicht geehrter, beweinter, bedauerter und mit sprechenderen Zeichen von Dankbarkeit und Achtung seiner Mitbürger in die Gruft haben gesenkt werden können, als Mirabeau. Ich sagte mir, als ich seinen Staub der Erde wiedergegeben sah: »Niemand kann durch den bloßen Gebrauch, durch die bloßen Handlungen seiner Gewalt es dahin bringen, daß man ihn im Leben und nach dem Tode hochschätze und verehre; es hing ebensowenig von diesem riesenhaften Genie, von diesem aus Talent und Immoralität zusammengesetzten Koloß ab, daß an seine leblose Asche diese Ehrenbezeigungen verschwendet wurden, als es früher von ihm abhing, nicht im Kerker von Vincennes zu schmachten und viele Jahre ohne Glanz und sogar ohne Achtung in Europa umherzuirren.« – Und als sein Leichnam ausgegraben, aus der Ehrengruft verstoßen und seine Asche in die Luft zerstreut wurde, muß da nicht die ganze Welt gedacht haben wie ich: »Eine Nation im Wahnsinnen délire. kann ebensowenig einen wahren Ehrenpreis austeilen, als sie Strafen der sogenannten öffentlichen Meinung verhängen kann.« Was es mit der Vergötterung des großen Haufens auf sich habe, so hat sowohl Mirabeau als Cromwell es treffend ausgedrückt; der erste, wenn er ausruft: Es ist nur ein Schritt vom Kapitol zum Tarpejischen Felsen; der zweite, wenn er zu seinem Schwiegersohn Ireton spricht: Du hältst den Beifall dieses Lumpengesindels für etwas? Wisse, daß er zehnfach lauter sein würde, wenn man uns jetzt zum Galgen führte!

Eine große, unsterbliche Lehre, von den beiden größten Faktionshäuptern neuerer Zeiten gegeben!! Eine verloren gegangene Lehre!!!


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