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14.

Am nächsten Morgen schien die Sonne hell und warm vom wolkenlosen Himmel herab. Dadurch wurde die Stimmung der beiden Reisenden wesentlich verbessert. Da sich an Bord kein dienstbarer Geist befand, dem sie ohne erhebliches Mißbehagen die Bereitung eines Frühstücks anvertraut hätten, taten sie das kurz entschlossen selber. Das Schiff stand unter der Oberleitung von Hoi-so-pings erstem Fracht- und Ladungsaufseher, des Superkargos. Dieser, ein Mann in jüngeren Jahren, war ein Portugiese von Halbblut, stammte von der portugiesisch-chinesischen Kolonie Macao und hieß Pedro Ramez. Der Mann machte schon durch sein Aussehen und seine Wesensart auf die beiden Europäer einen vortrefflichen Eindruck, und als sie mit ihm ins Gespräch kamen, da fanden sie zu ihrer Überraschung, daß Pedro Ramez ein weit über den Durchschnitt hinaus gebildeter Mann war. Da in seiner Heimat die Abkömmlinge aus Ehen zwischen Weißen und Chinesinnen noch weniger Achtung genießen als in den übrigen Landesteilen, hatte Pedro Ramez schon als junger Mensch Macao verlassen und war in Hankau, Hongkong, Tientsin und Peking im Lauf der Jahre ein ebenso tüchtiger Kaufmann wie Seefahrer geworden, der besonders die chinesischen Küstengewässer und die Läufe des Peiho, des Hoangho und des Jangtsekiang bis tief ins Innere des Landes hinein genau kannte. Wie sein Herr und dessen ganzes Haus, so war auch Pedro Ramez Christ.

Die beiden Europäer wußten, daß Hoi-so-ping große Stücke auf seinen Superkargo hielt und ihm völlig vertraute. Sie waren erst wenige Stunden mit Ramez auf dem engen Raum einer chinesischen Dschunke zusammen, da hatten sie die Überzeugung, daß dieser Mann das Vertrauen seines Herrn in vollstem Maße verdiente. Pedro Ramez war ein treuer und gewissenhafter Mann, sauber bis ins Innerste hinein, mit einem guten Stolz und einer Selbstachtung, die echter menschlicher Würde entspringt.

Der Superkargo, der an die mehr oder weniger verhüllte Mißachtung der Weißen seiner Abstammung gegenüber gewöhnt war, verhielt sich anfangs zurückhaltend und verschlossen, taute aber schnell auf, als die beiden Weißen ihm eine höfliche und freundliche Gleichberechtigung bezeigten. Wie sehr dieser menschliche Zug sich lohnen sollte, ahnten vorläufig weder der von Natur liebenswürdige und menschenfreundliche Heinz Wilbrandt, noch der leidenschaftlich demokratische Ben Rubber.

Pedro Ramez war von dem Verhalten der beiden Fremden sichtlich beglückt und bezeigte seine Dankbarkeit dadurch, daß er in jeder Hinsicht sich als diensteifrig und zuvorkommend erwies. Zunächst tat er sein Möglichstes, den beiden verwöhnten Reisenden im allgemeinen den nicht gerade angenehmen Aufenthalt auf einer chinesischen Dschunke so bequem wie möglich zu machen. Auf den Wunsch der beiden Herren, das Schiff zu besichtigen, übernahm er bereitwilligst die Führung, hatte aber leider nur wenig Fesselndes aufzuweisen. Die Bauart des Schiffes entsprach ganz der alten Art. Der »Gott des Regens« zeigte die breite plumpe Form aller chinesischen Dschunken, war aber aus leichten Hölzern erbaut und darum, wie Pedro Ramez versicherte, bei guten Winden kein schlechter Segler. An drei Masten führte das Fahrzeug große braune viereckige Segel aus Matten, plump und unförmig, aber doch leichter zu handhaben, als man aus der Form schließen sollte. Das Schiff faßte etwa vier Tonnen Last, hatte aber bei voller Ladung einen solchen Tiefgang, daß mittelhohe Wellen leicht über die niedrige Bordwand des Mittelschiffes hinweggingen. Erst später gewahrte Heinz Wilbrandt, daß der Ti-quai-lei an jeder Seite des Bugs ein großes gemaltes Auge hatte. Ben Rubber, der den jungen Deutschen darauf aufmerksam machte, berichtete, daß das bei allen Dschunken so sei und daß diese Augen nicht etwa eine Verzierung sein sollten, sondern vielmehr zu dem Zweck angebracht würden, daß das Schiff nach dem Glauben der Chinesen bei Nacht und Sturm jederzeit seinen Weg erkennen könne.

*

Der Peiho hatte infolge eines in seinem Quellgebiet niedergegangenen Wolkenbruchs ungewöhnlich viel Wasser und kräftige Strömung, dazu blies der Wind fast unausgesetzt aus Nordwesten. Infolgedessen kam »der Regengott« volle zehn Stunden früher in Tientsin an, als vorgesehen war. Tso-tsing-wu konnte also keinen allzugroßen Vorsprung haben. Es war ausgemacht worden, daß Käsch, der in der Gesellschaft des Chinesen inzwischen mit der Eisenbahn nach Tientsin gefahren war, Herrn Rixkens von allem in Kenntnis setzen und ihm von dem Verbleib des Tso-tsing-wu Nachricht geben sollte. Da die beiden Europäer sich nicht der Gefahr aussetzen wollten, von Tso-tsing-wu oder etwaigen Helfershelfern gesehen zu werden, gingen sie nicht an Land, sondern ließen Herrn Rixkens von der Ankunft des Ti-quai-lei durch Pedro Ramez in Kenntnis setzen. Der Handelsherr kam sofort aufs Schiff und es gab ein freudiges Wiedersehen. Käsch hatte sich wie immer als sehr geschickt erwiesen. Rixkens war von allem bestens unterrichtet.

»Ich habe Tso-tsing-wu mit Käsch selbst abfahren sehen – gestern gegen Abend. Er reist auf einer Dschunke, die Fung-huang heißt, soviel wie ›Phönix‹. Ein schauderhafter alter Kasten! Schmutzig, verlottert – und unendlich schwerfällig. Ich würde mich wirklich wundern, wenn diese Menschenfalle schon an der Reede von Taku vorbei wäre.«

»Dann haben wir Aussicht, ihn noch vor der Mündung des Hoangho zu erreichen«, bemerkte Ben Rubber. Eben trat auch Pedro Ramez zu der Gruppe. Er kannte den Fung-huang und war ebenfalls der Ansicht, daß es möglich sei, das Fahrzeug bis zur Einfahrt in den Gelben Fluß einzuholen – vorausgesetzt, daß die gefürchteten Sandbänke im Fluß dem tiefgehenden Ti-quai-lei keinen Strich durch die Rechnung machen würden. Das klang zwar nicht vollkommen sicher, doch auch nicht entmutigend.

»Käsch war sehr niedergeschlagen, der arme Kerl«, berichtete der deutsche Handelsherr. »Seit der Abreise von Peking wird er von seinem Herrn ausgesucht schlecht behandelt. Käsch weiß dafür keinen anderen Grund, als daß Tso-tsing-wu von einem seiner Gesinnungsgenossen erfahren hat, Käsch habe in Peking mit den beiden Weißen zu tun gehabt. Möglich ist ja, daß einer von den Kerlen Sie beisammen gesehen hat. Tso-tsing-wu beobachtet ihn mit Argusaugen, so daß es dem armen Jungen schwer gefallen ist, unbemerkt zu mir zu kommen. – Nun etwas anderes! Käsch kommt für Sie als Diener nicht mehr in Frage. Da ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen einen anderen jungen Mann zur Verfügung stelle – schon wegen der Verständigung mit den Eingeborenen.«

Heinz Wilbrandt blickte fragend auf den Amerikaner. Der dachte ein paar Sekunden angestrengt nach – dann schüttelte er entschieden ablehnend den Kopf.

»No, Sir, lieber nicht. Zu zweit kommen wir leichter fort als zu dritt. Und was die Verständigung betrifft«, sagte er mit großer Würde, »so überlassen Sie das ruhig mir. Ich werde das schon machen.«

»Hm – hm – hm«, brummte der alte Herr und schüttelte besorgt den Kopf. Wilbrandt merkte deutlich in seinem Gesicht den Ausdruck der Besorgnis, und dadurch wurden seine eigenen bösen Ahnungen mächtig bestärkt. Schon hatte er Worte des Widerspruchs auf der Zunge, doch da warf ihm der brave Ben Rubber einen so treuherzigen und humorvollen Trostblick zu, daß der Deutsche verstummte. Er hatte das Gefühl, daß er diesen Mann, der sich so eifrig und ohne jeden Eigennutz für seine Sache einsetzte, unter keinen Umständen beleidigen dürfe.

Sehr schön gedacht – aber rächen sollte sich diese Rücksicht doch.

Da nun über alle Fragen Klarheit herrschte, sollte die Fahrt sogleich fortgesetzt werden. Rixkens verabschiedete sich in herzlichster Weise von den beiden Reisenden und verließ das Schiff. Eine Viertelstunde später schaukelte der »Gott des Regens« im freien Fahrwasser.

*

Da es auf dieser Fahrt für Pedro Ramez kaum etwas zu tun gab, befand er sich fast den ganzen Tag in der Gesellschaft der beiden Weißen. Er hatte in seinem Leben viel gesehen und erlebt und verstand angenehm darüber zu erzählen. Zumal der Deutsche konnte von diesen Schilderungen kaum genug bekommen, und immer lag sein Taschenbuch vor ihm, nebst einem gut gespitzten Bleistift. Sie saßen meist auf dem erhöhten Deck, und da sie dem Lande so nahe blieben, daß dieses wie ein stets wechselndes Bühnenbild an den Augen der Reisenden vorüberzog, bot das Land, die Küste Petschilis, mit seinen tausendfachen Kultur- und Lebenserscheinungen einen unerschöpflichen Gesprächsgegenstand. Wilbrandt wurde nicht müde, dem Superkargo mit Fragen über Land und Leute, Sitten und Gebräuche zuzusetzen. Diesem aber bereitete es ein sichtliches Vergnügen, seinen reichen Schatz an Kenntnissen vor dem wißbegierigen Deutschen auszubreiten.

Besonders fesselnd für Wilbrandt war das ausgedehnte Volksleben am Strande und zumal auf dem Wasser. Das war ein bewegtes Leben und Treiben! Wilbrandt stellte fest, daß ein großer Teil des täglichen Lebens dieser Menschen sich auf dem Wasser abspielt. Nicht nur ganze Familien, sondern ganze Dörfer verlebten den größten Teil des Tages und viele auch die Nacht auf dem Wasser. Er lernte Küstengegenden kennen, wo die Übervölkerung des Landes ganze Familien zu ständigem Aufenthalt auf einigen elenden Planken zwang. Pedro Ramez gab dem Deutschen die ernste Versicherung, daß hierdurch zahllose Menschenleben dem Wasser zum Opfer fallen. Allerdings fügte er mit einem Heben seiner Schulter hinzu, daß in China Menschenleben nicht besonders wertvoll seien.

Allenthalben an der Küste, am Meer wie an den Ufern der Ströme, führen die Frauen mit der gleichen Geschicklichkeit das Ruder wie die Männer. Sie fischen, befördern Lasten, vermitteln den Verkehr zwischen dem Festland und den Schiffen und spielen in jeder Hinsicht die Rolle eines untergeordneten Knechtes. Ihr Herr aber ist der Ehemann, der nicht selten auf Kosten der Regsamkeit seiner Frau ein behagliches Leben führt. Da die Boote dieser Küstenmenschen nur klein und wenig fest sind, bieten sie im Wellenspiel des bewegten Meeres einen sehr unsicheren Aufenthalt. Darum kommt es oft vor, daß kleine Kinder, wenn sie nicht von den rudernden Müttern auf dem Rücken getragen werden, durch einen Stoß des Bootes oder durch eine größere Welle ins Wasser geschleudert werden. Um einem solchen unfreiwilligen Bad den tragischen Ausgang zu nehmen, binden die Bootsinsassen vielfach ihren des Schwimmens noch unkundigen Kindern Schweinsblasen oder kleine Tönnchen auf den Rücken, wodurch sie über Wasser gehalten werden.

Am liebsten erzählte Pedro Ramez von dem Treiben der Schmuggler. Wenn er von den unausgesetzten Kämpfen zwischen ihnen und den Zollwächtern sprach, dann trat ein halb wohlgefälliges, halb spöttisches Lächeln in seine Gesichtszüge. Anlaß zu einem längeren Gespräch über diesen Gegenstand bot ein Vorgang, der sich kurz vor der Einfahrt des »Regengottes« in den Hoangho zutrug.

Die drei Männer saßen wie gewöhnlich auf dem erhöhten Vorderteil des Schiffes beisammen, rauchten ihre Zigarren und betrachteten den rotwerdenden Himmel drüben über dem hügeligen Festland. Da wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen englischen Zollkutter aus Hongkong gelenkt. Sie hatten das Schiff schon vorhin gesehen. Doch da es sich um die Dschunke anscheinend nicht kümmerte, sondern vorüberfuhr, hatten die drei Männer das Schiff schon wieder vergessen. Nun kam der Kutter mit Volldampf auf den Ti-quai-lei zu und es ertönte ein Haltezeichen.

Der Superkargo stieß einen Fluch aus. »Jetzt ist es vorbei mit unserem Vorsprung. Die Engländer werden uns das ganze Schiff durchwühlen.«

Es dauerte nicht lange, da drehte der Kutter an der Seite der Dschunke bei. Der Zollinspektor, begleitet von zwei seiner Beamten, betrat das Schiff. Alle drei waren sichtlich erstaunt, die beiden Europäer zu sehen. Pedro Ramez trat auf die Beamten zu und stellte sich als Führer des Schiffes vor.

»Kommen Sie von Hongkong?« fragte der Inspektor, indem er den Superkargo forschend betrachtete.

»Von Hongkong?« fragte dieser erstaunt zurück. Und mit leise angedeutetem Spott fuhr er fort: »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Hongkong südlich von hier liegt. Sie werden bemerkt haben, daß wir von Norden kommen.«

»Aber ich weiß nicht, seit wann Sie diesen Kurs haben«, sagte der Beamte mit größter Ruhe. »Ich vermute, daß Sie vor drei Stunden noch nördlichen Kurs hatten.«

»Sie täuschen sich, Sir. Wir kommen von Peking.«

»Dennoch will ich mich persönlich überzeugen, ob Sie nicht eine Ladung Opium an Bord haben.«

»Dem steht natürlich nichts im Wege. Ich darf Sie aber darauf aufmerksam machen, daß Sie jenen beiden Herren durch den Aufenthalt eine schlimme Ungelegenheit bereiten. Die Herren werden bezeugen, daß wir in der Tat von Peking kommen und nicht nach Hongkong segeln, sondern vielmehr den Hoangho hinauf. Vorausgesetzt natürlich, daß Sie nicht auch die beiden Herren für Opiumschmuggler halten.«

Der Zollbeamte runzelte die Stirn und warf dem Schiffsführer einen finsteren Blick zu. Dessen Ruhe und Überlegenheit schien ihn jedoch in seinem Verdacht wankend gemacht zu haben. Höflich wendete er sich zu den etwas abseits stehenden beiden Europäern.

»Natürlich bin ich weit entfernt, meine Herren, Sie für Schmuggler zu halten. Aber Sie werden verstehen, daß ich meine Pflicht erfüllen muß.«

Heinz Wilbrandt hatte inzwischen das Empfehlungsschreiben und die Beglaubigung des deutschen Gesandten in Peking hervorgezogen. Ben Rubber nickte ihm unbemerkt zu – seine Lippen kniffen sich ein wenig ein.

»Gewiß müssen Sie Ihre Pflicht erfüllen, Sir«, sagte der Deutsche mit größter Höflichkeit. »Sie werden aber gestatten, daß wir Sie darauf aufmerksam machen, daß wir die größte Eile haben und durch eine Untersuchung des Schiffes in unangenehmster Weise aufgehalten würden. Darf ich Sie bitten, diese Papiere einzusehen.«

Der Zollmann prüfte die Papiere aufmerksam, dann gab er sie mit einer Verbeugung zurück.

»Ich glaube, wir können Ihnen die Versicherung geben, daß dieses Schiff keinerlei zu beanstandende Waren enthält. Dieses Schiff ist Eigentum eines Großkaufmanns in Peking, der, ein Christ und Ehrenmann, nicht im entferntesten daran denkt, mit Opium zu handeln oder sonst unerlaubte Dinge zu tun. Daß wir auf direktem Wege von Peking kommen, wie der Schiffsführer aussagt, bestätigen wir mit unserem Ehrenwort.«

»Yes, Sir, mit unserem Ehrenwort!« bekräftigte Rubber nachdrücklich.

»Durch Ihre Erklärungen, meine Herren, bin ich vollkommen befriedigt«, sagte der Beamte artig. »Ich sehe ein, daß ich mich geirrt habe, und werde Ihre Reise nicht länger aufhalten.«

»Sie haben keinen leichten Dienst, Sir«, sagte Ben Rubber.

»Das weiß der Himmel!« rief der Zollmann mit einem ärgerlichen Lachen. »Man kommt aus den Scherereien gar nicht heraus. Nirgendwo in der Welt wird so leidenschaftlich und geschickt geschmuggelt wie in diesen Gewässern! Verwünschte Kerle! Vorige Woche haben sie mir eine ganze Schiffsladung Salz an der Nase vorbeigepascht. Und nun jage ich seit drei Tagen hinter einem so elenden Kasten her, der bis unters Deck voll Opium steckt! Aber ich werde den Burschen den Brei schon versauern – hol's der Kuckuck! Also leben Sie wohl, meine Herren! Reisen Sie glücklich! Und nehmen Sie sich im Hoangho in acht! Da ist wieder mal der Teufel los.«

Der Kutter setzte sich schnaufend in Bewegung und die Dschunke tat das nämliche.

»Der Mann hat recht«, sagte Pedro Ramez mit einem leisen Lachen. »Um seinen Posten braucht ihn niemand zu beneiden. Den Europäer möchte ich sehen, dessen Witz und Schlauheit groß genug sind, um den chinesischen Schmugglern das Handwerk zu legen. Diese Leute schmuggeln nicht nur aus Gewinnsucht, sondern auch aus Sport und Abenteuerlust. Das Unsichere, Zufällige, Abenteuerliche am Schmugglerhandwerk reizt sie, ihre ganze List und Verschlagenheit aufzubieten, um den Zollwächtern an der Nase vorbeizuschlüpfen. Staunenswert, mit welch seltsamen Mitteln sie dabei zum Ziel gelangen. Besonders mit einem so hochwertigen und dabei so wenig Raum beanspruchenden Paschgut, wie es das Opium ist. Mit überraschender Erfindungsgabe werden immer neue Verstecke ausfindig gemacht. Masten werden ausgehöhlt, in Schiffswände und Planken Hohlräume gebohrt, die keines Menschen Auge aufzufinden vermag. Am Schiffsrumpf selbst, weit unter der Wasserlinie, werden Behälter angebracht. Und in stillen Nächten, zwischen ragenden finsteren Klippen und in verschwiegenen Buchten wird dann die Schmuggelware gesichert. So feige und jeder Gewalttat abhold der Chinese im allgemeinen ist, als Schmuggler legt er manchmal eine große Verwegenheit an den Tag. Dabei sind diese Schmuggler von einer erstaunlichen Ausdauer und Zähigkeit.«

»Gibt es eigentlich noch Seeräuber in diesen Gewässern?« fragte Heinz Wilbrandt.

Die Miene des Superkargo wurde sofort äußerst ernst.

»Darauf ist nur schwer eine Antwort zu geben. Die Zeit liegt nicht sehr weit hinter uns, da Seeräuberbanden auf ein paar an sich harmlos aussehenden Fischerdschunken sich im Gelben Meer und an der Küste entlang zwischen Schanghai und Hongkong umhertrieben und mit unbegreiflicher Kühnheit Seeraub trieben. Allerdings wagten sie sich meist nur an solche Gegner heran, die ihnen genügend wehrlos erschienen. Es ist aber auch wiederholt vorgekommen, daß größere europäische oder amerikanische Dampfer diesen Seeräubern in die Finger fielen. Dann spielten sich schlimme Dinge ab. Meist machten die Verbrecher ganze Arbeit, indem sie die ausgeplünderten Schiffe einfach in den Grund bohrten.«

»Ich habe neulich sagen hören, es wäre auch jetzt stellenweise noch nicht so ganz sicher«, brummte Ben Rubber aus einer dichten Rauchwolke hervor.

»Sicherlich kann es auch heute noch geschehen, daß eine Handvoll verwegener Burschen an abgelegener Stelle einen räuberischen Überfall auf ein nicht allzugroßes Schiff wagt. Am Ende könnte uns sogar auf dem Hoangho irgendwo solch ein Abenteuer zustoßen.«

»Sind Waffen an Bord?« forschte Ben.

»Eine ganze Menge«, gab Pedro Ramez lachend zurück. »Sogar ein hübsches kleines Maschinengewehr.«

»Donnerwetter!« entfuhr es dem Deutschen. »Diese Vorsichtsmaßregel läßt ja deutlich auf die Sicherheit dieser Küstengewässer schließen!« Eine Bemerkung, zu der der Superkargo nur schweigend die Schultern hochzog.

»Famos! Ausgezeichnet!« rief Ben Rubber und seine Augen blitzten, »Ha, das wäre ein unbezahlbarer Spaß, wenn wir angegriffen würden! Gäbe was drum, wenn wir mal in so ein Rudel räuberischer Halunken hineinpfeffern könnten!«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!« warnte der Deutsche. »Nicht als ob ich mich vor dem Abenteuer fürchten würde! Aber ich fürchte alles, was unser Unternehmen stört – und Sie wissen, dieses besteht nicht darin, uns mit chinesischen Schmugglern herumzubalgen.«

»Hm – na ja, damit haben Sie ja recht, Sir!« gab Ben zu. »Sie sollen uns also lieber in Frieden lassen, die Kerle. Aber schön wär's doch!« Und er schmunzelte in sich hinein.

Vorläufig schien wenig Aussicht zu bestehen, daß Ben Rubbers geheime Wünsche sich erfüllten. Ohne die geringsten Abenteuer gelangten sie zur Mündung des Hoangho. Wilbrandt und der Amerikaner standen an der Spitze der Dschunke und verfolgten mit reger Spannung, wie Pedro Ramez mit einigen chinesischen Seeleuten durch geschickte und sachkundige Wendungen und Schwenkungen die gefährlichen Sandbänke vermieden, die sich in einer Länge von mehr als vierzig Kilometer vor der Strommündung hinlagern und schon manchem Fahrzeug den Untergang gebracht haben. Die beiden Europäer hatten während dieses schwierigen Teiles der Fahrt wieder einmal Gelegenheit, die Sicherheit und Erfahrung des Superkargos in seemännischen Dingen zu bewundern.

Nach einiger Zeit hatten sie das gefährliche Gebiet hinter sich, das Schiff befand sich im Strom und brauchte nur noch aus der breiten, starken Strömung in ruhigeres Uferwasser gebracht zu werden. Als das geschehen war, verließ Pedro Ramez seinen Platz am Hauptmast und trat händereibend zu seinen beiden Fahrgästen.

»Gott sei Dank, wir sind glücklich durch. Bei solchem Wasser ist das immer ein schlimmes Stück Arbeit.«

»Das erkennt man, ohne Schiffer zu sein«, nickte der Deutsche, »Wie machen das denn eigentlich große Schiffe?«

»Die machen es eben gar nicht«, lachte der Superkargo. »Der Hoangho ist auf seine Art ebenso eigensinnig wie die Nation, deren Land er bespült. Er duldet auf seinem Rücken nicht die Riesendampfer des verhaßten Europa und hat sich zum Schutz vor ihnen jenes vertrackte Bollwerk aus Sand errichtet.«

»Wie, eine so gewaltige Wasserstraße, die fast das ganze chinesische Reich durchzieht, bleibt wegen dieser Sandbarre unbenutzt?« rief Wilbrandt erstaunt.

»Nicht nur wegen der Sandbänke. Der Strom ist an vielen Stellen unschiffbar und kommt in seinem jetzigen Zustand als durchgehende Wasserstraße von der Ostküste bis Tibet nicht in Betracht. Ob sich das durch gründliche Baggerungen und Dammbauten abändern ließe, kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist, daß nichts geschieht.«

»Der verflixte Strom hat dem Lande schon genug Geld gekostet«, bemerkte Ben Rubber. »Aber nie war es etwas Gründliches. Immer und überall nur Flickwerk. Es ist eben in diesem Lande alles verkehrt und widersinnig. Denken Sie, Mister Wilbrandt, das Strombett liegt auf weite Strecken höher als das Land ringsumher. Tritt nun Hochwasser ein, dann reißen die wütenden Wassermassen die teils schwachen, zum Teil schlecht geflickten Dämme ein und es bilden sich meilenweite Seen. Was im Lauf der Jahrhunderte auf diese Weise schon an Menschenleben und Naturwerten verloren gegangen ist, läßt sich gar nicht berechnen. Gewiß, die Dammbauten haben riesige Summen verschlungen. Doch dieser Strom ist mit Geld und Pfuscherei allein nicht zu bezwingen, und nicht von chinesischen Ingenieuren. Da müßte ein Deutscher heran, oder ein Engländer, Franzose oder Amerikaner. Das wären die geeigneten Kerle für so eine Arbeit.«

*

Das Leben auf dem Fluß war nicht weniger fesselnd als das an der Meeresküste. Das Ufer wimmelte von Booten der verschiedensten Art, und zahlreiche Dschunken segelten flußauf oder dem Meer zu.

Heinz Wilbrandt stand den Tag hindurch fast unausgesetzt an einer erhöhten Stelle des Decks, mit seinem scharfen Glase bewaffnet, und musterte aufmerksam das Ufer und jedes Fahrzeug, das der flink segelnde Ti-quai-lei einholte. Rixkens hatte ihnen den Phönix, auf dem Tso-tsing-wu reiste, genau beschrieben, und Pedro Ramez kannte sogar das Fahrzeug, so daß es schier unmöglich schien, daß sie es übersahen. Doch so scharf sie achtgaben, jene Dschunke fanden sie nicht, wo war der Fung-huang geblieben? Wenn dieses Fahrzeug von so schlechter Beschaffenheit war und nur einen Tag Vorsprung hatte, wie war es dann möglich, daß der Ti-quai-lei es noch nicht eingeholt hatte? Hatte Käsch vielleicht seinen Herrn falsch verstanden? Oder hatte Tso-tsing-wu seine Absichten im letzten Augenblick geändert? Ging die Fahrt des »Regengottes« ins Blaue hinein?

Das waren die Fragen, die den jungen Deutschen unausgesetzt quälten. Es widerstrebte ihm, von seinen Befürchtungen zu sprechen. Wenn er aber seinen Freund Ben Rubber ansah, dann mußte er bemerken, daß dessen Augenbrauen sich allmählich mehr und mehr zusammenzogen und daß in seinem sonst so gleichmütigen Gesicht ein Ausdruck erschien, der weder beim Essen, noch beim Sprechen oder Schweigen daraus wich – ein Ausdruck der Sorge und Unzufriedenheit. Wilbrandt merkte deutlich, daß Ben Rubber die gleichen Sorgen hatte wie er – und daß auch er sie nicht zum Ausdruck bringen wollte.

Endlich aber konnten diese Fragen nicht länger verschwiegen werden. Eine ganze Woche lang war der Ti-quai-lei nun schon den Hoangho aufwärts gesegelt, doch das Schiff Tso-tsing-wus war ihnen nicht zu Gesicht gekommen. Und eines Mittags beim Essen, das die drei Männer stumm und ohne Appetit einnahmen, legte Ben Rubber entschlossen Messer und Gabel hin und erklärte: »Das kann nicht mehr so weitergehen.«

Pedro Ramez war sichtlich erschrocken. Er schüttelte mit einem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns den Kopf und seufzte: »Ja, das Essen ist wirklich mangelhaft. Doch Sie wissen, meine Herren, daß ich mir alle Mühe gebe, Sie zufriedenzustellen.«

»Ach, lieber Herr Ramez, Herr Rubber denkt nicht daran, Ihre Küche zu benörgeln«, seufzte der Deutsche. Und er wandte sich an den Amerikaner: »Sie haben recht – es kann so nicht weitergehen.«

»Ach so!« Plötzlich verstand der Superkargo die Sorgen der beiden Herren. »Offen gestanden, glaube ich auch nicht mehr, daß wir den Fung-huang finden werden. Ich kenne den alten Kasten. Wir müßten ihn längst eingeholt haben.«

»Aber was ist da zu tun!« seufzte Wilbrandt bedrückt.

»Ich habe es schon überlegt«, antwortete Rubber. »Wir müssen an Land gehen. Uns Pferde besorgen. Nach Kiu-fu reiten. Wenn wir schnell reiten und nicht zu weite Irrfahrten machen, sind wir vielleicht eher da als Tso-tsing-wu. Was meinen Sie, Mister Ramez?«

»Nun – so schmerzlich es für mich ist, wenn wir uns trennen müssen – so muß ich doch sagen, daß es so am besten wäre.«

»Hätten wir nur die Sicherheit, daß Tso-tsing-wu wirklich nach Kiu-fu reist!« wandte der Deutsche ein.

»Hab auch das überlegt«, versetzte der Amerikaner. »Käsch hat sich nicht geirrt. Er kann sich vielleicht einmal verhört haben, doch nicht mehrmals. Sie wissen, daß Tso-tsing-wu wiederholt mit Käsch über die Reise gesprochen hat. Und immer war die Rede von dem Grab des Kon-fu-tse. Wer weiß, wie das alles zusammenhängt – das Grab des Heiligen – und die Handschrift des Heiligen – es ist am Ende so was wie ein abergläubischer Zusammenhang da. Und übrigens kenne ich Käsch. Das ist ein ganz geschickter Kerl, dem man schon zutrauen darf, daß er seine sieben Sinne beisammen hat.«

»Aber wie erklären Sie sich das spurlose Verschwinden des Fung-huang?« fragte der Deutsche, der immer noch nicht zufrieden war.

»Gar nicht«, brummte Rubber. »Weil man dafür eine ganze Menge von Erklärungen zusammenphantasieren könnte. Aber das hat gar keinen Sinn. Ich schlage vor, daß wir bei dem nächsten größeren Ort an Land gehen, Pferde kaufen und den Weg nach Kiu-fu erfragen.«

»Und wie steht es mit Ihrer Rückkehr?« fragte der Superkargo.

Ben Rubber dachte eine Weile nach. »Darüber kann man gar nichts sagen. Ich glaube, es hat keinen Zweck, wenn Sie uns an irgendeiner Stelle erwarten würden. Vorläufig sind wir ganz im unklaren darüber, wo das Ziel unserer Reise liegt. Darum haben wir auch nicht den leisesten Anhaltspunkt über die Dauer der Fahrt. Auch müssen wir damit rechnen, daß wir für die Rückkehr nach Peking einen ganz anderen Weg einschlagen. Ich denke, es ist am besten, wenn Sie nach Erledigung Ihrer Geschäfte nach Peking zurückkehren.«

In diesem Sinne einigten sich die drei Männer. Heinz Wilbrandt aber seufzte. Er war durchaus nicht in hoffnungsvoller Stimmung.

*

Zwei Stunden später erblickten die Reisenden ein stattliches Dorf. Das heißt, sie sahen die das Dorf umringende Mauer, über deren Rand kein einziges Gebäudedach hinausragte.

Die beiden Europäer beschlossen, hier an Land zu gehen. Die Dschunke wurde so dicht wie möglich an das Stromufer gebracht. Dann, nachdem Wilbrandt und Rubber sich von Pedro Ramez verabschiedet hatten, zogen sie Stiefel und Strümpfe aus, schwangen sich über Bord und traten in das Wasser, das hier so seicht war, daß es ihnen zwanzig Meter vom Ufer entfernt noch kaum bis zu den Knien reichte. Sie wateten an Land, zogen Strümpfe und Schuhe wieder an, schulterten ihre Rucksäcke, winkten dem Superkargo noch einmal zu – und traten die Wanderung zu dem Dorf an, das etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt lag.

Ihre Ankunft in dem Dorf erregte gewaltiges Aufsehen. Das Nest wimmelte von Bewohnern wie ein Ameisenhaufen. Von allen Seiten, aus allen Gäßchen und Winkeln strömten Menschen aller Größen und Altersstufen herbei – Männer, Frauen und Kinder. Es war klar zu erkennen, daß sich selten Fremde hierher verirrten. Weiße waren wohl überhaupt hier noch nicht gewesen. Die Menschen starrten sie an, als hätten sie Mondbewohner vor sich. Bis einer auf die Dschunke wies, die langsam stromaufwärts dahintrieb.

Diese Menschen waren offenbar harmlos. Immer enger wurde der Ring, der die beiden Fremdlinge umschloß. Diese lächelten und nickten den Dorfbewohnern zu, bezeigten sich so freundlich wie möglich, um den Leuten Vertrauen beizubringen. Schließlich aber umdrängten die Chinesen die beiden Weißen in einem so dichten Ring, daß diese sich nicht mehr bewegen konnten und ihnen innerhalb der Wolke von Ausdünstung die Luft ausging. Da riß Ben Rubber mit einem wilden Schrei seinen Revolver aus der Jackentasche und feuerte einen Schuß in die Luft. Und schnell wie der Blitz stob die ganze Gesellschaft auseinander. Nur einer blieb – ein langer, dürrer Kerl, seiner äußeren Erscheinung nach ein »besserer Herr«, ohne Zweifel einer der Honoratioren des Dorfs. Er blieb ruhig vor den beiden stehen, hielt nach Art der Chinamänner die Arme auf der Brust gekreuzt, bis zu den Ellbogen in den weiten Ärmeln seiner gelben Nankingjacke verborgen. Er hielt seinen Kopf auf die Seite geneigt, in einer verbindlich sein sollenden Art, und blinzelte die Fremden aus seinen kleinen geschlitzten Äuglein freundlich an. Kein Zweifel, der Mann war ihnen gewogen. Seine so offen angebotene Freundschaft kam den beiden natürlich sehr gelegen.

Ben Rubber war eben im Begriff, ihn seiner größten Hochschätzung zu versichern, als jener sie plötzlich durch eine Anrede in höchst absonderlichem Sprachenmischmasch in Erstaunen setzte.

»Das alles sein dumme Teuf«, sagte er und deutete so lichtvoll in die Runde, daß leicht zu erkennen war, wen er meinte. »Nix gentlemanlike. All it is stupid easel. Mais ick –« er deutete mit hoher Selbsteinschätzung auf sich, »ick sein gewest in the great Country Europia. Ah – it is very fine! Oh, meine Herr, ick sein eine Gentleman. Ick sein gerissen durch eine very great Teil von the fine Land of Europia. Dou you my verstehen, meine Herr?«

»Gewiß, mein Herr, wir verstehen Sie ausgezeichnet«, versicherte Ben Rubber. »Bei solch hervorragenden Sprachkenntnissen, die Sie besitzen! Wir freuen uns sehr, einen so gebildeten Mann in dieser Stadt gefunden zu haben.«

Das Gesicht des Gelben begann zu glänzen. Er war restlos entzückt.

»Oh, ick sein eine Gentleman, meine Herr!« versicherte er eifrig. »Ick sein gerissen durch very viele Land – oh! In Engelland ick aben gearbeitet sehr viele große Masse. In Frankenland ick sein gegangen une tout annee. In Paris ick aben geseht Monsieur the Präsident. Oh – mais in Germany – in the Germany ick sein gewest very malade – oh, meine Herr, da ick sein tot gegangen beinahe. Sie aben mir gefahr in a great castle – in a grande maison – you onderstand, very well. Da aben sie mir gegess, getrunk – oh, groß viel gut gegess et getrunk. In Germany. Aber sie aben mir gesteckt in eine große Faß mit Wasser – oh! Schauderlich schreckbar! Da ick sein ausgeriß aus Germany –«

Heinz Wilbrandt machte dem guten Mann begreiflich, daß er aus diesem Land stammte, wo man ihn so rücksichtslos gebadet hatte. Doch jener schien dem deutschen Volk diese Schandtat vergeben zu haben, denn er ergriff Wilbrandt stürmisch bei den Händen und schüttelte sie, als wolle er ihm die Arme ausreißen.

»Ah, very famos! Gentil! Ausgeseignet! You sein eine Deutschmann von Germany? Eine Prussian-Gentleman? Ih, oh, ah, ick mir freu eine große dicke Menge. Eine Lord von Germany war Freund von mick – oh, eine herzliche Freund –«

»Jetzt erlauben Sie bitte mal«, versuchte Ben Rubber den Redefluß des guten Mannes zu unterbrechen. Der aber ließ sich nicht verblüffen.

»Oh – ah – ick sein furchtbar gefreut, eine Deutschmann zu seh. Ah, Germany sein eine very fine Country. Ick sein gewest in viele grande town of Germany. Oh, meine Herr, ick sein very weit gerissen in the world.«

»Du scheinst mir überhaupt ein very gerissener Bursche zu sein«, brummte Ben Rubber, ärgerlich werdend, durch die Zähne.

»Ih – ah – weit gerissen, Sir!« schrie der Chinese und renkte sich beinahe die Arme aus den Gelenken. »Ich aben mir mit sehr viele berühmte Gentleman in Germany very fein – äh, gekonversiert – o yes! You aben mir versteht, meine Herr?«

»Ganz vorzüglich, Sir!« nickte Wilbrandt.

»Ah, gutt, very gutt! Ick parlewuh die deutsche Sprak mit une grande Künstlichkeit.«

»Das vernehmen wir mit großer Bewunderung.«

»Meine Herr, ick sein eine serr berühmte Mann.«

»Wir sind überzeugt davon. Doch wenn Sie uns nun eine Frage gestatten wollten!«

»Man kennt mir in the toute le monde als eine berühmte – äh – Gemäldemacher.«

»Ah, Maler sind Sie, Künstler! Aber man sieht Ihnen das eigentlich gleich an. Können Sie mir sagen, ob im Dorfe Pferde –«

»Ick sein der berühmte Malmacher of peintre Hao-schi-schou. Habe gemalen viele große peintre –«

»Hol den Kerl der Kuckuck, ich gehe!« schrie Ben Rubber, dem plötzlich der Geduldsfaden riß. Dabei setzte er sich in Bewegung und marschierte den berühmten Hao-schi-schou fast über den Haufen. Der blickte dem Amerikaner zwei Sekunden lang verdutzt nach, mit weit offenem Mund, dann sprang er hinter ihm her und ergriff ihn beim Rockschoß.

»Halte-la, Monsieur! Ich will you zeigen my Familiary!«

»Ha, gut! Wenigstens mal was anderes als dieses Gewäsche. Also vorwärts, Mister Großmaul! Hoffentlich ist die Familie angenehmer als ihr Oberhaupt!«

Trotz dieser Grobheit lächelte Mister Hao-schi-schou aufs freundlichste, schob seine langen Arme unter die von seinen neuen Freunden und stelzte mit ihnen davon – ein lieblicher Anblick für die gaffende Menge, die sich inzwischen wieder angesammelt hatte. Der Weg führte durch ein Gewirr von Gassen, wie man sie in dem armseligsten deutschen Dorf vergeblich suchen würde. Krumm, winklig, ohne Pflaster, eng, schmutzig, verwahrlost, übelriechend.

Vor einem Mauerpförtchen machte der Chinese halt und geleitete seine Gäste in eine Art Gehöft hinein, das aus einer ganzen Anzahl kleiner Häuschen bestand. Sie waren durchaus regel- und planlos durcheinandergebaut und ein wahrer Irrgarten von winzigen Gäßchen schlängelte sich zwischen den einzelnen Gebäuden hindurch.

Hao-schi-schou bezeichnete durch eine weitausholende Gebärde dieses von einer Mauer umschlossene Sonderdörfchen als sein Eigentum, versicherte in einem Gemisch von allen möglichen Sprachen, daß er eine sehr große »Familiary« an Kindern, Schwiegerkindern und Kindeskindern besitze – im ganzen sei er Patriarch von etwa sechzig Menschen. Einen Teil dieser Familie lernten die beiden Fremden in den nächsten Minuten kennen. Aus allen Winkeln kamen sie hervorgekrochen: Kinder, Halbwüchsige, Erwachsene und Greise. Umgeben von einem wahren Troß von Buben und Mädchen wanderten die drei durch das Anwesen. Endlich aber kam auch der Augenblick, da die beiden auf den eigentlichen Zweck ihrer Anwesenheit zu sprechen kommen konnten – Pferde! Da machte der Chinese ein langes Gesicht, wackelte lebhaft mit dem Kopf und schob seine Arme so tief, wie es ihm nur möglich war, in die Ärmel seiner Jacke hinein.

»Ih – ah – oh – horse – fine horse – Pferde – selten, meine gute Sir! Very selten! Und so viel teuer – oh – ah!«

Die beiden bedeuteten ihm, daß es ihnen auf den Preis weniger ankäme als darauf, wirklich gute ausdauernde Tiere zu bekommen. Da spitzte er auf einmal die Ohren. Anscheinend dämmerte in seiner Seele so etwas wie die Aussicht auf ein gutes, bequemes Geschäftchen.

Er stülpte ein rundes Mützchen auf seinen kahlen Schädel und winkte seinen Gästen, mitzukommen. Mit langen, gravitätischen Schritten stelzte er vor den beiden her, um das Dorf herum, zu einem Haus, das vereinzelt inmitten großer Kauliang- (Hirse), Weizen- und Gerstefeldern lag. Das Anwesen gehörte einem Freund Hao-schi-schous, der bei Annäherung der Fremden neugierig aus einer niedrigen Hütte herauskam. Das war nicht etwa die Wohnung des Besitzers, sondern ein Raum für allerlei Ackergeräte und außerdem Stall für einen kräftigen Zugstier, zwei Maultiere und zwei kleine, aber sichtlich sehr ausdauernde mandschurische Pferde.

Hao-schi-schou und sein Freund unterhielten sich eine Weile in ihrer Sprache über den Zweck des Besuches, und die beiden Weißen bemerkten deutlich genug, daß sie sich über ihre beiderseitigen Vorteile zu verständigen suchten. Sie hatten das erwartet, denn umsonst ist der Tod – und sie waren für den berühmten Malmann Fremde, an deren Vorteil er kein Interesse zu haben brauchte. Aber endlich hatten sie sich geeinigt und Hao-schi-schou nannte ein wenig zaghaft den Preis für die beiden Rösser. Dieser war zur Überraschung der beiden Freunde längst nicht so hoch, wie sie erwartet hatten, so daß Ben Rubber mißtrauisch wurde und die beiden Pferdchen genau untersuchte. Dann schüttelte er den Kopf und zog die Schultern hoch. »Finde nichts. Hm. Sonderbar! Sehr sonderbar! Allright, Sir, wagen wir es!«

Das Geschäft wurde zu allseitiger Zufriedenheit abgeschlossen und Hao-schi-schou lud alle drei zu einer Mahlzeit ein. Die beiden Weißen mochten ihm die freundlich vorgetragene Bitte nicht abschlagen, und so marschierten sie, die inzwischen aufgezäumten Pferde am Zügel führend, zur Wohnung des seltsamen Malers zurück. Es dauerte denn auch nicht lange, da war ein Festmahl bereit, das der freundliche Wirt mit dem Ausdruck »excellentifique« bezeichnete. Inzwischen hatte er aber seinen Gästen bewiesen, daß er in der Tat ein Maler war. Er hatte sie in ein Gemach geführt, das ganz mit aufgerollten Schildereien angefüllt war, die teils auf Stoffe, zum größten Teil auf dünnes Reispapier gemalt waren. Was er gemalt hatte, das war sehr verschiedenartig – wie er gemalt hatte, das war ganz einheitlich – nämlich scheußlich. Es war eine entsetzliche Schmiererei. Unmögliche Landschaften, mit Bäumen, Tieren, sogar Menschen, wie sie nur von einer völlig verkitschten Phantasie verzerrt werden können. Dem jungen Deutschen machte es weit mehr Vergnügen, das verblüffte, ja entsetzte Gesicht Rubbers zu betrachten, als die hingepinselten Scheusälchen. Der »große berühmte Malmann«, der alles durch die Brille einer maßlosen Selbstüberhebung sah, nahm die verzwickten Mienen seiner Gäste für Bewunderung – und war glückselig. Und als nun das Essen aufgetragen wurde, da waren auch die Gäste zufrieden. Alle vier ließen sich um einen niedrigen Tisch nieder, der aber für den Zweck ein bißchen klein war. Dann wurde die erste Schüssel hereingetragen. Ben Rubber, der mit einem überaus empfindlichen Riechorgan versehen war, steckte die Nase in die Luft, kniff die Augen zusammen und schnupperte unauffällig.

»Ah – Hammel!« brummte er befriedigt und griff zu den Eßstäbchen, die neben jedem Gedeck lagen.

Indes nahm Hao-schi-schou die Schüssel in Empfang, betrachtete erst sie, dann seine Gäste der Reihe nach mit wahrhaft zärtlichen Blicken. »Ah – oh – fine – very fine! Tres delicatement!« flüsterte er andächtig – und reichte die Schüssel nicht seinen Gästen, sondern nahm sich von dem Vorrat die Hälfte und reichte die Schüssel – nicht seinen neuen Freunden, sondern seinem Landsmann. Der nahm sie mit großer Befriedigung entgegen, nickte ernst und beifällig – und legte sich den Rest der Schüssel auf. Alles schweigend und mit bemerkenswertem Ernst und Eifer. Mit diesem schweigenden Eifer tat er alles, was er tat – auch das Essen. Er verlor keine Silbe und darum auch keinen Bissen. Hao-schi-schou aber erging sich, während er kaute und hörbar schmatzte, in begeisterten Lobreden über die Güte des Gerichts. Ben Rubber schaute schweigend zu. Sein Gesicht zeigte anfänglich nur Staunen, bald aber bemerkte Wilbrandt, der sich an dem Spiel innerlich nicht wenig ergötzte, in seinen Mienen die ersten Spuren von Empörung.

»Komische Sitten hierzulande!« brummte Rubber und schaute Heinz Wilbrandt an, als sei dieser für diese absonderlichen Gastsitten irgendwie verantwortlich. »Schüssel wird aber wohl noch mal kommen.«

Das war aber von Ben Rubber eine falsche Voraussetzung. Als die erste Auflage vertilgt war, klatschte Hao-schi-schou in die Hände und augenblicklich wurde die zweite Schüssel aufgetragen. Wieder erhob Rubber prüfend sein Näschen.

»Hm – Schwein! Auch nicht schlecht. Wollen uns entschädigen.«

Er griff hastig nach der Schüssel, »Heda, mit Erlaubnis!« Aber Hao-schi-schou war bei weitem flinker. Er brachte die Schüssel in seinen Besitz, was seinen Landsmann veranlaßte, sich zu erheben und ihm eine tiefe hochachtungsvolle Verbeugung zu machen. Dann aber setzte er sich auffallend geschwind wieder hin, denn der Hausherr hatte sich die Hälfte des Gerichts auf den Teller gelegt und bot äußerst liebenswürdig die Schüssel wieder seinem lieben Landsmann. Die beiden Weißen konnten zusehen, wie es den beiden Gelben schmeckte.

»Oh, prächtik! Schmeckt serr lieb und schön!« lobte der Hausherr schnalzend und spießte mit erstaunlicher Gewandtheit die Fleischstückchen auf. Aber sein Freund hatte darin doch noch mehr Übung. Er war wieder eher fertig und er klatschte gierig in die Hände.

»Halunken!« zischte Ben Rubber und schielte wie ein Wachhund nach dem Türvorhang. Und kaum bewegte sich dieser, da schoß er wie ein Springteufel hoch und hatte die Schüssel erobert, nach der die beiden anderen, starr vor Staunen, die Arme reckten.

»Excuse my, Sir!« grinste Ben dem Hausherrn ins Gesicht. »Sie könnten ja vielleicht vorläufig ein bißchen verdauen, nicht wahr?« Und er verteilte den Inhalt der Schüssel auf seinen und Wilbrandts Teller. Er hatte sich diesmal gar nicht erst bemüht, festzustellen, welches arme Tierlein zu diesem Gericht sein Leben hatte lassen müssen. Das war dem wütenden Ben Rubber ganz einerlei, und seinem Gefährten nicht minder. Beide hieben ein wie die Drescher, erstens weil die Speise ganz gut schmeckte, vor allem aber, weil ihnen die unaussprechlich betrübten und verblüfften Mienen der beiden Chinesen einen Bombenspaß machten.

Die Schüssel war leer – und Ben Rubber klatschte in die Hände. Darüber war der gute Hao-schi-schou dermaßen entrüstet, daß er seinem Gefährten einen langen, beinahe beschwörenden Blick zuwarf. Das war aber in diesem Augenblick nicht am Platz, denn Ben Rubber, der nur dem Türvorhang Blicke zuwarf, erhaschte dadurch die Schüssel, Hao-schi-schou griff zu spät darnach.

»O bitte, Sir, bemühen Sie sich nicht!« sagte der Amerikaner mit ausnehmender Liebenswürdigkeit. »Wir bedienen uns schon selbst!«

Und das taten sie. Obwohl sie gegen dieses Gericht gewisse Vorurteile hatten – es roch absonderlich und sah geschmorten Regenwürmern verzweifelt ähnlich –, vertilgten sie es bis auf die letzten Spuren. Nachdem sie auf diese Weise den beiden Kerlen zwei Gänge vor der Nase weggegessen hatten, war sowohl ihre Rachsucht als auch ihr Appetit gestillt. Der letzte Gang war – na ja! Es möge genügen, zu sagen, daß beide das dringende Bedürfnis nach einem guten Kornschnaps hatten. Aber da sie den nicht bekommen konnten, schluckten sie tapfer und waren überzeugt, daß sie in den kommenden Tagen ohne Zweifel manches herunterwürgen müßten, dessen Bestandteile sie nimmermehr auf ihre Herkunft feststellen konnten.

Sie nahmen freundlichen Abschied von den beiden geknickten Gelben und schwangen sich auf ihre hellwiehernden Pferdchen. Sie saßen schon, da fiel dem Amerikaner noch etwas sehr Wichtiges ein. Er klatschte laut und anhaltend in die Hände, und die Folge war, daß außer den beiden Verlassenen die halbe Riesenfamilie zusammenströmte. Ben Rubber machte dem Hausherrn, der sich keinerlei Zorn oder Schmerz über die ihm zugefügte Schandtat anmerken ließ, begreiflich, daß sie Kiu-fu, das verehrte Grab des hochverehrten Kon-fu-tse, suchten und wissen möchten, welchen Weg sie einschlagen müßten. Die Nennung dieses Reiseziels und die von Hochachtung erfüllten Äußerungen über den großen Heiligen machten alles wieder gut. Die beiden gaben wortreiche Erklärungen – und guten Mutes und in bester Stimmung ritten die beiden Männer in die sonnige Landschaft hinaus. Die beiden Pferdchen griffen munter aus. Es waren wackere Tiere, ohne die Nücken und Tücken, die den Mandschupferden vielfach nachgesagt werden.

Es war ein hübsches, durchweg wohlangebautes und recht fruchtbares Land, durch das die beiden ritten. Die Wege waren merkwürdig gewunden, als wünschten die Bewohner dieses Landes nur auf erheblichen Umwegen zu ihren Zielen zu kommen. Aber sie waren nicht schlecht. Die Reiter sahen zahlreiche Dörfer. Manchmal berührten sie innerhalb einer Stunde deren mehrere. Eins sah aus wie alle. Lebensgewohnheiten, Bedürfnisse und die Art, diese zu befriedigen, sind hierzulande so übereinstimmend, daß sogar alle Gebrauchsgegenstände wie aus einer Handwerkerhand hervorgegangen scheinen. Die Mauern, Dörfer, Häuser sehen aus, als hätte ein Baumeister sie alle errichtet. Wer einen Karren, einen Pflug gesehen hat, der kennt sie alle in meilenweiter Runde.

Soweit wäre der Ritt durch dieses Land ganz interessant und genußreich gewesen, wenn den beiden Reitern nicht eine gewisse Schwierigkeit manchmal böses Kopfzerbrechen bereitet hätte.

»Ach, hätte ich doch früher statt Sanskrit und einigen anderen überflüssigen Dingen Chinesisch gelernt!« seufzte Heinz Wilbrandt aus Herzensgrund. Ja, diese große Schwierigkeit war die Landessprache.

Oh, Ben Rubber, unseligster Cicerone aller Zeiten und Völker! Verhängnisvoller Aufschneider! Welch eine Verantwortung hast du auf dich genommen, als du behauptetest, Chinesisch zu können! So oder ähnlich fuhr Heinz Wilbrandt in seinen Seufzern fort. In der Tat, wäre nicht Ben Rubber sein wirklicher Freund und im allgemeinen ein so lieber, braver Kerl gewesen, so wäre er manchmal in die Versuchung gekommen, ihm nicht nur die hahnebüchensten Grobheiten zu machen, sondern ihn sogar regelrecht durchzuprügeln. Daran dachte nun der Deutsche nicht. Aber er richtete ein paar wenig schmeichelhafte Anreden und Ausdrücke an sich selbst. Hatte er es nicht geahnt? War er nicht gewarnt worden? Aber er hatte Ahnungen und Warnungen in den Wind geschlagen – und nun mußte er büßen.

Wären die beiden statt in Schantung beispielsweise im Land der Chippeways gereist oder in anderen Ländern, wo man die Verrückten wie Heilige verehrt, weil »die Hand Gottes sie berührt hat«, zweifellos hätte man sie dann für die größten Heiligen des Landes gehalten. Aber die Schantunesen waren viel zu vernünftige Leute, um sich einem solchen Aberglauben hinzugeben. Sie hielten die beiden Fremden bei Rubbers Ansprachen ganz einfach und unzeremoniös für übergeschnappte »weiße fremde Teufel«, lachten ihnen ins Gesicht, schüttelten ihre Köpfe und drehten ihnen ihre Hinterseiten zu.

Ben Rubber fluchte wie ein Türke und schwur Stein und Bein, die verflixten gelbhäutigen Kerle verstünden allzumal kein richtiges Chinesisch. Als höflicher Mensch schwieg Heinz Wilbrandt zu solchen Behauptungen. Seine Miene aber war derart, daß Ben Rubber noch wütender wurde. Oft genug schnauzte er dann seinen jüngeren Freund in schauderhaftem Deutsch aufs scheußlichste an und schwur ihm, er werde am nächsten Morgen umkehren. Heinz Wilbrandt lachte dazu.

Aber es war ihm manchmal nicht lustig zumut. Und wenn er sah, daß Ben Rubber sich im Schweiß seines Angesichtes und geradezu verzweiflungsvoll bemühte, mit seinen fragwürdigen Sprachkenntnissen den Leuten etwas begreiflich zu machen, dann ging er schließlich mit einem von ihnen ein bißchen abseits und machte jenem durch die Zeichensprache begreiflich, um was es sich handelte. Und so bekamen sie mit Mühe und Not das, was sie zum Leben brauchten.

Einmal aber wäre es den beiden beinahe übel ergangen. Müde und halbverhungert waren sie zu einem etwas abseits gelegenen Dorf gekommen. Im vorigen Dorf hatten ihre Verständigungsversuche keinen Erfolg gehabt, was aber wohl in der Hauptsache daran liegen mochte, daß man hier einmal mit Weißen unangenehme Erfahrungen gemacht hatte. Die Leute standen stocksteif, verbissen, mit ablehnenden Gesichtern, verstanden nichts, wollten nichts verstehen. Wilbrandt aber hörte, wie das böse Wort Yang-kuei-tse (fremde weiße Teufel) fiel. Da zog er Ben Rubber mit sich fort, denn es hatte keinen Sinn, sich hier noch länger zu bemühen. Der Amerikaner kochte vor Wut und verwünschte die Bewohner dieses Landes in den kräftigsten Ausdrücken. Er fand es aber klugerweise angebracht, diesen Gefühlen nur dann Ausdruck zu geben, wenn er mit Wilbrandt allein war.

Und nun, wie gesagt, ritten sie auf das nächste Dorf zu. Es machte keinen besonders guten Eindruck. Die Mauer war schadhaft und gewährte an mehreren Stellen Einblick in das Innere und auf die armseligen Gebäude. In dem Augenblick, da sie in das »Stadttor« einreiten wollten, kam ihnen ein kleiner dicker Kerl mit Säbelbeinen und Glotzaugen entgegen. Ben Rubber, der noch eben getobt hatte, zwang sich zu dem liebenswürdigsten Lächeln, dessen er fähig war in diesem Augenblick, da seine Seele nichts kannte als Zorn und Gift. Vom Pferd herab begann er auf den Gelben einzureden – und zwar sprach er, um verstanden zu werden, ganz besonders langsam, jedes Wort scharf betonend und mit den entsprechenden Bewegungen unterstützend. Heinz Wilbrandt hielt sich ein wenig zurück und betrachtete mit Mißtrauen und Spannung den Eindruck, den sein Freund Ben mit seiner Redekunst auf den Dickwanst ausübte. Und wie er es befürchtet hatte, so kam es. Weiß der Himmel, welch fabelhafte Dinge der gute Ben Rubber zu dem Mann gesprochen haben mochte! Genug – jener, der eine Zeitlang staunend zugehört hatte, schien allmählich in eine Art Erstarrung zu geraten. Nach zwei Minuten sah er einem versteinerten Bonzen weit ähnlicher als einem Menschen aus Fleisch und Bein. Und auf einmal kam er in Bewegung. Ein Schreckensschrei kam aus seinem Mund – er prallte zurück – warf sich herum – rannte davon, so schnell ihn seine Säbelbeine tragen konnten – verschwand in dem Gewirr krummer Gassen. Nur sein Mordgeschrei hörten die beiden. Und nun kamen aus allen Winkeln Gestalten hervorgekrochen, versehen mit allen möglichen Dingen, die irgendwie hätten als Waffen dienen können. Mit wütendem Geschrei drang der Haufe schreiender Kerle gegen die beiden friedlichen Reisenden vor – am heftigsten und leidenschaftlichsten der Ausreißer von eben. Wer konnte wissen, wie tief er von dem unglückseligen Ben Rubber in seinen heiligsten Gefühlen verletzt worden war!

Der aber stieß einen greulichen Fluch aus und wandte der herandrängenden Bande das Hinterteil seines Rosses zu. Doktor Wilbrandt tat natürlich das gleiche. Sie ließen den Tieren freien Lauf – und nach wenigen Minuten waren sie so weit, daß sie das wütende Geschrei hinter sich nur noch aus weiter Ferne vernahmen. Dann zügelten sie wie auf ein Zeichen ihre Pferde, blickten sich gegenseitig an – der Amerikaner den Deutschen wütend und verlegen – der Deutsche den Amerikaner betrübt und vorwurfsvoll. Auf einmal aber fanden sie in dem Auftritt den Humor und brachen in ein Gelächter aus. Und das will allerhand sagen, denn in ihrem Innern brüllte das wilde Tier des Hungers ebensolaut und übertönte noch den Schall ihres Lachens. Dieses Lachen befreite zwar ihre Seelen von dem bösen Druck, doch keineswegs ihre Mägen von der peinlichen Leere. So kam es, daß ihre Heiterkeit nicht besonders lange dauerte. Sie wurde von einem tiefen Seufzer abgelöst – und traurig, wie zwei äußerst betrübte Lohgerber, denen sämtliche Felle weggeschwommen sind, setzten sie ihren Ritt fort.

Kurz vor Einbruch der Nacht kamen sie bei einem großen Gehöft an, das dicht vor der Mauer eines stattlichen Dorfes lag. Das Anwesen sah friedlich und einladend aus, und ohne langes Besinnen lenkten die beiden Reisenden ihre Pferde auf den schmalen Pfad, der von der Landstraße zwischen den Feldern hindurch zu den Wohngebäuden führte.

Die Auffindung dieser Farm war für die beiden Freunde das glücklichste Ereignis dieser ganzen abenteuerlichen Fahrt.

In der Nähe der Gebäude wurden die Reiter von zwei großen Hunden mit wütendem Gebell empfangen. Ben Rubber, der, wie bekannt, manchmal ein spaßhafter Bursche war, hatte schon oft behauptet, einen ausgesprochenen Tierbändigerblick zu haben, mit dem er Tiere aller Art zu bannen vermöge. Seine Bekannten hatten in seinen hellblauen Augen immer nur viel Treuherzigkeit, Gutmütigkeit und gesunden Humor wahrgenommen, darum glaubten sie nicht daran, daß er mit dem Blick aus diesen Augen irgendein angriffslustiges Viehzeug zu erschrecken vermöchte.

Als nun die beiden großen Köter bedrohlich genug herangesaust kamen, erinnerte sich Heinz Wilbrandt des Tierbändigerblicks seines Freundes. Er rief ihm zu, diese seine Begabung sofort auf die Probe zu stellen, hielt auch sein Pferd an, um Ben Rubber auf dem schmalen Pfad an sich vorüberreiten zu lassen.

»Ah, verstehe!« rief Ben Rubber eifrig und trieb sein Pferd an. »Habe zwar Hunde nicht gemeint, sondern Löwen und Tiger, aber –«

»Blicken Sie, reden Sie nicht!« schrie Wilbrandt, denn der eine der beiden Hunde sprang an Rubbers Pferd empor und hatte offensichtlich Absicht auf Bens Waden.

»Bin schon dabei!« rief der Amerikaner, beugte sich tief von seinem Pferd herab, schob den Unterkiefer vor und machte seine Augäpfel dick, daß es aussah, als wollten sie aus ihren Höhlen springen. So stierte er auf den jaulenden, schnappenden Hund, und der Deutsche fand, daß sein Gefährte mit dieser Fratze unbeschreiblich komisch aussah.

Leider hatten Rubbers Bemühungen nicht den geringsten Zweck. Der Hund ließ sich durch dessen Basiliskenblick nicht im mindesten beeinflussen, sondern schnappte infolge der offenbar unfreundlichen Gesinnung dieses Reiters nur noch wütender nach dessen Bein, während der andere Hund die Gruppe mit heiserem Gebell umkreiste. Inzwischen hatte Heinz Wilbrandt eine Peitsche mit kurzem Stiel und langer Lederschnur von dem Sattelknopf losgelöst, und als nun der Hund abermals sprang und auf ein Haar Rubbers Bein erwischt hätte, pfiff es leise und heimtückisch durch die Luft und der Lederriemen schlang sich klatschend um den Körper des Tiers. Ein Aufblaffen – ein durchdringendes Heulen – und der Hund rannte in großen Sätzen dem Gebäude zu. In diesem Augenblick hörten die beiden Reisenden eine Stimme, die »Hektor!« rief – tatsächlich »Hektor!« – in schöner deutscher Betonung – eine weichklingende Männerstimme, »Was machst du denn für einen Lärm, dummer Köter!«

Wilbrandt faßte sich an den Kopf und starrte auf Rubber.

»Träume ich – oder – haben Sie das auch gehört?« Doch die Antwort gab nicht Ben Rubber, der ebenfalls wie vor den Kopf geschlagen starrte. Aus einem großen Stück hoher Stangenbohnen, beinahe einem kleinen Bohnenwald, trat ein Mann heraus – ein Weißer mit kurzem blondem Vollbart, dunkel gekleidet, auf dem Kopf einen breiten Strohhut – ein sanftes, etwas leidvolles Gesicht. Der eben noch so wütende Hund drängte sich an ihn – und jener legte ihm seine Hand auf den Kopf. Doch das tat er nur ganz unbewußt, wie benommen starrte er auf die beiden Reiter – Weiße – ihrem Aussehen nach Gebildete. Er stieß einen Schrei aus – den Namen einer Frau, den schönen, sanften deutschen Namen Anna. Und da war sie auch schon. Erschrocken kam sie aus dem Hause herausgelaufen, eine blonde deutsche Frau, mit einem Säugling auf dem Arm. Angstvoll blickte sie von ihrem Mann auf die beiden Fremden. Heinz Wilbrandt riß seinen Hut vom Kopf und schwenkte ihn. »Guten Tag! Guten Tag!« schrie er. »Dürfen wir näherkommen?«

Doch da kam der Mann herbeigelaufen. »Deutsche?« fragte er atemlos vor Freude.

»Ich bin Deutscher«, erklärte Wilbrandt. »Mein Freund ist Amerikaner. Wir sind halb verhungert –«

»Anna! Essen! Schnell!« rief der Mann, rannte fort zu seiner jungen Frau, setzte sie mit fliegenden Worten in Kenntnis. Dann lief er zurück zu den Reitern, die inzwischen abgesprungen waren und von den nun ganz friedfertigen Hunden freundlich beschnuppert wurden. »Dort der Stall! Lassen Sie mich die Pferde besorgen, bitte! Gehen Sie nur gleich ins Haus! Anna, komm doch und begrüße unsere Gäste! Ein Landsmann, Anna! Die Freude!«

Kurze Zeit später saßen alle um den runden Tisch herum und tafelten. Die beiden Reisenden waren, wie sie nun wußten, Gäste von Johannes Liedtke, Missionar einer deutschen evangelischen Missionsgesellschaft. Es ist schwer, das Behagen der Gäste und die Freude der Wirte zu schildern. Nach so vielen Tagen wieder einmal Menschen aus gleichem Bildungs- und Anschauungskreis! Menschen einer Sprache, eines Gefühls, einer Kultur! In diesen Kreis gehörte auch der Amerikaner, denn er beherrschte die Sprache soweit, daß er das Gesprochene verstand und hin und wieder auch einen Satz beisteuern konnte.

Das war ein schöner Abend, der schönste seit sehr langer Zeit. Der Missionar erzählte nach dem Abendessen von seinen Lebensschicksalen. Er war der einzige Sohn eines holsteinischen Pfarrers, hatte sich wie der Vater der Theologie gewidmet und sich später der Mission zur Verfügung gestellt. Nun befand er sich seit einigen Jahren mit seiner jungen Frau auf diesem Posten, einem der vorgeschobensten der christlichen Mission in China, ganz sich selbst überlassen. Seine Arbeit war wenig erfolgreich. Er hatte die gleichen Erfahrungen wie die meisten Missionare in China gemacht: die Chinesen waren wenig geneigt, ihren Glauben gegen den christlichen einzutauschen. Sie wandten ein, ihr Glaube sei älter als der christliche, und zu dem Vorwurf, ihr Glaube sei Aberglaube, lächelten sie nur. Das Ehepaar Liedtke konnte nur durch sein Beispiel, doch nur wenig durch seine Lehre für das Christentum werben. Darauf beschränkten sie sich nach bösen Erfahrungen seit einiger Zeit, und nun hatten sie nach heftigen Anfeindungen verhältnismäßige Ruhe. Sie waren sich aber beide darüber klar, daß sie verloren seien, wenn wieder einmal ein Aufstand gegen das Christentum entstünde, wie der große Boxeraufstand im Jahre 1900. Diese Gewißheit, dazu die furchtbare Einsamkeit und Abgeschlossenheit ihres Lebens, fern von der gewohnten Kultur und allem geistigen Vorrecht, unter einem Volk, das seinem Wesen nach so unendlich anders beschaffen war als sie, im Land geduldet als Fremde, mit Mißtrauen beobachtet, von vielen mißachtet, von manchen offen verhöhnt und von einigen im geheimen verfolgt – dieses alles drückte furchtbar schwer auf die Seelen der beiden jungen Menschen. Während der Missionar mit großem Ernst, zugleich aber auch mit Ergebenheit und schöner Ruhe von seiner weltfernen, undankbaren Aufgabe sprach, saß seine junge Frau dicht an seiner Seite, sprach nicht viel, seufzte aber hin und wieder so recht aus tiefstem Herzensgrund. –

Als die beiden Reisenden am nächsten Morgen nach still und erquickend verbrachter Nacht dankerfüllt Abschied nahmen, ergriff die junge Frau mit einer heftigen Bewegung die Hand des Deutschen.

»Wenn Sie in die Heimat zurückkehren, dann grüßen Sie mein liebes Deutschland!« stieß sie in ausbrechender Erregung hervor. »Ich – ich werde Deutschland nie wiedersehen.« Und aufweinend eilte sie ins Haus. Liedtke seufzte tief auf – und als die beiden Abschiednehmenden ihm ins Gesicht blickten, da sahen sie, daß er bleich geworden war.

*

Von dem Missionar hatten die beiden Reisenden die genaue Lage von Kiu-fu erfahren. Zu ihrer großen freudigen Überraschung waren sie gar nicht weit davon entfernt. Nach einem fünfstündigen scharfen Ritt durch eine außerordentlich fruchtbare Tiefebene erblickten sie vor sich die Stätte, wo Kon-fu-tse, der größte Chinese aller Zeiten, von der abendländischen Welt Konfuzius genannt, geboren worden und wo seine Gebeine der Erde zurückgegeben worden waren.

Es war ein stiller, sonniger Nachmittag. Weiße Fäden schwebten in weichen Lüften und die Erde hauchte einen herbsüßen Duft aus. Es herrschte eine große Stille. Vom zartverschleierten, mattblauen Himmel herab schien die Sonne mit milder Glut. Eine Stimmung wie jahrhundertelanger Traum lag rings auf der stillen Landschaft.

Heinz Wilbrandt und Ben Rubber ritten im Schritt durch das gesegnete Land, auf Kiu-fu zu, das sie vor sich liegen sahen. War es die Stimmung der Landschaft, die sie so beherrschte – oder das seltsame Gefühl, sich auf einem Boden zu befinden, wo ein weltgeschichtlich bedeutender Mensch gelebt und gewirkt hatte? Oder war es die Wahrnehmung, daß um diese Landschaft die Jahrhunderte mit ihren Erkenntnissen und Errungenschaften in weitem Bogen herumgegangen waren?

Der Deutsche war sich klar darüber, daß gerade die letztere Erwägung auf ihn den stärksten Eindruck machte. Wohin das Auge blickte, sah man, daß diese Gegend von den Einflüssen der Zeit, die ändert, niederreißt und aufbaut, ganz unberührt geblieben war. Nur die niederreißende Einwirkung der Zeit war zu erkennen. Überall Spuren des Zerfalls. Alle Dinge, die sich dem Auge darboten, predigten stumm und doch unheimlich beredt das gleiche: daß hier der Mensch die Zeit und die Zeit die Menschen vergessen hatte.

Am Eingang einer langen Allee hielten die beiden Reiter und sprangen von den Pferden, um zunächst ein wenig zu ruhen, einen Bissen zu essen und einen Schluck aus der Flasche zu nehmen. Zugleich hofften sie, einen Menschen zu sehen, mit dem sie sich verständigen könnten, und der in der Lage war, ihnen den Weg zu weisen.

Diese Hoffnung erfüllte sich in jeder Hinsicht. Sie saßen noch nicht lange, da kam ein junger Chinese von gutem Aussehen und angenehmen Gesichtszügen daher, der beim Anblick der Fremden sichtlich staunte, seine Schritte verlangsamte und ihnen auf Französisch einen guten Tag bot. Bald saßen die drei nebeneinander, der Chinese in der Mitte. Er erzählte, daß er in Paris, London und Deutschland gewesen und die europäischen Verhältnisse ziemlich gründlich studiert habe. Und nun befände er sich auf einer großen Rundreise durch alle Teile Chinas, um die Zustände in seinem Heimatland mit denen anderer Länder zu vergleichen – und er seufzte beklommen, als er schilderte, wie zurückgeblieben ihm sein Land nun erscheine. Manches wünsche er ja nicht anders, denn man dürfe nicht China mit Europa und Amerika vergleichen, aber dennoch –

Kurz, er machte alle Anstalten, sich des längeren in Vergleiche aller äußeren Lebenserscheinungen zu ergehen. Aber da griff Ben Rubber kurz entschlossen ein. Mit äußerster Höflichkeit machte er dem jungen Chinesen begreiflich, was sie vorhatten. Sie seien im Begriff, das Grab des Kon-fu-tse zu besuchen und allerlei Interessantes über den Heiligen, sein Grab, die Umgebung und deren Bewohner zu schreiben. Sie seien Gelehrte, Schriftsteller, Naturforscher, und wünschten ihren Landsleuten daheim möglichst genaue Bilder und Schilderungen zu geben. Ob er bereit und in der Lage wäre, ihnen darin ein wenig zu Hilfe zu kommen – weil ihre Sprachkenntnisse leider nicht für alle Begriffe ausreichten, setzte er ein bißchen verschämt hinzu.

Nun, dazu war Ta-pi-kang (so hieß der junge Chinese) nicht nur in der Lage, sondern auch mit Freuden bereit. Zunächst erzählte er ihnen, daß diese lange Allee Shen-tao heiße und vom Orte Kiu-fu bis zu dem großen Friedhof hinführte, auf dem sich das Grab des Kon-fu-tse befände. Er rief einen uralten Mann herbei, der im Schatten eines Baumes döste, und befahl ihm, auf die Pferde zu achten. Der Mann war dazu bereit und schlang sich die Zügel dermaßen um Arme und Beine, daß er unfehlbar zu Tode geschleift werden würde, falls zufällig die Pferde das Bedürfnis bekommen sollten, durchzugehen. Das war aber nach dem mehr als fünfstündigen scharfen Ritt nicht zu befürchten.

Ta-pi-kang bat die beiden Fremden, ihm zu folgen, und sie schritten langsam die Allee entlang. Diese besteht nicht nur aus alten breitkronigen Bäumen, sondern auch aus zahlreichen Bildwerken und riesigen Ehrenpforten. Überall stößt man hier auf den nach europäischen Begriffen verzerrten chinesischen Kunstgeschmack. Der junge Chinese aber, der mit der Bedeutung dieser Kunstwerke gut vertraut war, gab ihnen Erklärungen, die sie in mancher Hinsicht zu einer Änderung ihrer Urteile veranlaßte. Zumal die großen plumpen Ehrenpforten, die den beiden Landfremden in ihrem Gesamteindruck häßlich erschienen, zwangen sie bei näherer Betrachtung des eingemeißelten Figurenwerkes zu einer richtigen Bewunderung – die aber mehr der Geduld als dem Kunstgeschmack der chinesischen Künstler galt.

Schließlich kamen sie auf den Friedhof und zum Grabmal des Kon-fu-tse. Hier aber wartete ihrer eine große Enttäuschung. Sie hatten ein prunkvolles Grabmal erwartet – statt dessen standen sie vor einem umfangreichen grasbewachsenen Hügel mit einer aufragenden, schon sehr verwitterten Platte, auf der in kaum noch lesbaren Schriftzügen die Bedeutung und der Ruhm des Kon-fu-tse geschildert werden. Aber dennoch, trotz dieser Enttäuschung und dem trostlosen Eindruck, den dieser Grabhügel hervorruft, konnten sich die beiden Fremden eines starken beherrschenden Gefühls nicht erwehren. Beide waren von der weltgeschichtlichen und kulturellen Bedeutung des Kon-fu-tse nicht restlos überzeugt – trotzdem hatten sie das Gefühl, als weile an diesem Grab ein Geist, der mit großen weiten Augen alle in seinen Bann zöge, die sich ihm nahen. Gleichviel, zu welchem Gott der Pilger betet, der seinen Wanderstab an diese Stätte der Stille setzt – er fühlt mit Ergriffenheit, wie sich ihm die Last der Jahrhunderte, die über dieses Grab hinweggeschritten sind, schwer auf die Seele legt. Und mit einer gewissen Erschütterung muß er daran denken, daß sich das Gedankenwerk und Seelenleben eines Millionenvolkes seit Jahrtausenden unfruchtbar um diesen weltabgeschiedenen Ort dreht.

Das waren die Gedanken des jungen Deutschen. Ben Rubber war nicht ganz so gefühlvoll. Als Vollblutamerikaner stand er mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit. Er hatte sich schnell mit diesem Riesenhügel abgefunden – und nun stellte er eilfertig sein hohes Dreibein aus Aluminium auf, schraubte sein Lichtbildgerät auf, um seiner einzigen Leidenschaft zu frönen: dem Photographieren. Sein deutscher Freund half ihm in der Regel dabei, denn auch Heinz Wilbrandt freute sich nicht wenig der reichen Bildausbeute dieser Fahrt. Diesmal aber ließ er den Amerikaner allein basteln. Langsam umschritt er den Rasenhügel – und siehe da – dort in der Sonne, im weichen, halbverdorrten Gras, lag ein Mensch – ein junger Chinese, der fest und sanft schlief. Und als Wilbrandt langsam und behutsam, um den Schläfer nicht zu stören, um ihn herumging und ihn auch von vorn betrachtete, da stieß er einen Schrei der Überraschung aus.

Der Schläfer schlug die Augen auf, blinzelte, fuhr in die Höhe – und begann vor dem Deutschen Bücklinge zu machen.

»Aber nein – Käsch – du bist es!« rief Wilbrandt, ergriff den jungen Mann bei den Schultern und schüttelte ihn. Darüber erschien Ben Rubber, aufgeschreckt durch des Deutschen Schrei – und nun begann auch er, Käsch durchzuschütteln. Dieser aber merkte wohl, daß das nichts anderes war als die Freude, ihn zu treffen. Und er lachte übers ganze Gesicht.

»Seid ihr schon lange hier?« fragte Wilbrandt.

»Seit zwei Tagen, Herr. Er ist noch nicht da – der andere – auf den Tso-tsing-wu wartet. Er ist furchtbar unruhig – oh – und so wütend! Ach, Herr, es geht mir schlecht.« Käsch begann zu schluchzen. »So arg schlecht! – Tso-tsing-wu ist ein böser Mensch.«

»Er schlägt dich doch nicht?« rief Wilbrandt.

»Jede Stunde, Herr«, seufzte Käsch. »Sehen Sie –« Er streifte den Ärmel seiner Jacke hoch und zeigte seine Arme. Da waren zahlreiche blutunterlaufene Streifen zu sehen, die nur von Schlägen mit einem starken Stock herrühren konnten. »Ich glaube, mein ganzer Rücken ist gefärbt von solchen Streifen. Tso-tsing-wu schlägt mich, wenn ich nur in seine Nähe komme. Ganz ohne Grund, nur um mich zu quälen.«

»Aber das ist ja unmöglich!« stammelte Wilbrandt. Er konnte seinen Blick nicht von den Malen abwenden, die der arme Käsch um seinetwillen erlitten hatte. Ihm war, als fühlte er selbst den Schmerz.

Auch Ben Rubber betrachtete die Striemen. Auf seiner Stirn lag eine drohende Falte und seine sonst so gutmütigen Augen funkelten. Sein Atem pfiff hörbar durch die Nase. Eine ganze Minute lang sprach keiner. Ta-pi-kang stand ein paar Schritte abseits und blickte ein wenig verwundert auf die Gruppe. Er schien sich überflüssig vorzukommen, denn er war sichtlich verlegen. Die zahlreichen halbverwitterten und zerbrochenen Weihrauchgefäße, die überall am Fuß des Grabhügels umherlagen, hatte er schon eingehend besichtigt. Nun trat er mit dem Hut in der Hand zu der Gruppe.

»Bevor ich mich von Ihnen verabschiede, meine Herren, möchte ich fragen, ob Sie schon ein Unterkommen haben. Wenn nicht, möchte ich Ihnen gern dienlich sein. Der Mann, bei dem ich wohne, ist ein Freund meines Vaters. Da ich morgen früh weiterreise, wird er gern bereit sein, Ihnen Unterkunft zu gewähren.«

»Dafür wären wir Ihnen sehr dankbar«, sagte der Deutsche erfreut. »Sie würden uns aus einer großen Verlegenheit befreien. Doch wie können wir uns Ihnen gegenüber erkenntlich erzeigen?«

»Durch Annahme meines geringen Angebots«, lächelte der Chinese. »Und wenn Sie eines Tages einem meiner Landsleute drüben in Europa einen Rat geben würden, wäre ich überreich belohnt. Wenn Sie sich hier noch ein wenig aufzuhalten wünschen, werfe ich eben noch einen Blick in den Tempel. Sie werden mich dort oder auf der Shen-tao antreffen.«

»Sehr wohl, und vielen Dank, Sir!« sagte Ben Rubber mit einer Verbeugung, die deutlich genug zeigte, daß er den jungen Chinesen für einen gebildeten Menschen hielt. Jener erwiderte die Verbeugung vor jedem einzelnen und ging schnell davon.

»Wie ist es möglich, daß ihr einen so großen Vorsprung vor uns gewinnen konntet?« fragte Ben Rubber. »Seid Ihr denn nicht, wie wir, den Hoangho hinaufgefahren?«

»O nein, Mister Rubber, wir wären dann noch lange nicht hier. Vielleicht wären wir dann überhaupt nicht hier angekommen. Gleich nach unserer Abfahrt hatten wir schon ein Schiffsunglück. Beinahe wären wir alle zusammen ertrunken. Die Dschunke ging auseinander, als wenn sie zusammengeleimt gewesen wäre. Keiner hat es begreifen können. Zum Glück war eine Fischerdschunke in der Nähe, die uns aufgefischt hat. Mit einer anderen Dschunke fuhren wir dann den Ma-kia-ho hinauf. Doch nur ein kurzes Stück, dann gingen wir an Land. Tso-tsing-wu kaufte Pferde, und wir ritten bis hierher.«

»Also der Spießgeselle deines Herrn ist noch nicht angekommen! Du mußt ihn wohl hier erwarten, wie?«

»Meist streicht Tso-tsing-wu selber hier herum. Nur wenn er ißt und schläft und Opium raucht, muß ich hier Wache halten. Hätte er mich hier schlafend angetroffen – o weh!«

»Also ist dieser Grabhügel der Treffpunkt zwischen Tso-tsing-wu und seinem Freund?« fragte Wilbrandt.

Käsch nickte eifrig. »Als mein Herr einmal gut gelaunt war, habe ich ihn gefragt, warum er eigentlich diese weite Reise mache, um mit seinem aus Europa kommenden Freund zusammenzutreffen. Da hat er geantwortet, der große Kon-fu-tse solle mit anhören, was sie besprächen, damit er sie in ihren Plänen unterstütze. Ich weiß auch schon, worüber sie sprechen werden. Über die Pläne des Geheimbundes I-ho-chuan. Und noch über andere Dinge. Tso-tsing-wu sagte, die Revolution in China würde von neuem ausbrechen und schlimmer werden, als alle vorherigen.«

»So so, hat er das gesagt?« brummte Ben Rubber und nickte ernst vor sich hin. »Er scheint also über die bevorstehenden Ereignisse sehr gut unterrichtet zu sein.«

»Glauben Sie denn an bevorstehende neue Umwälzungen?« fragte der Deutsche beklommen.

»Ach Gott, das sind keine Dinge des Glaubens«, antwortete der Amerikaner. »China kommt noch lange nicht zur Ruhe. Wer weiß, was noch alles in diesem blutgedüngten und von Leiden heimgesuchten Lande geschehen muß, bevor bessere Zeiten kommen.«

»Aber Tso-tsing-wu will von der Revolution nichts wissen«, behauptete Käsch geheimnisvoll. »Er sagt, dadurch würden die Pläne des Geheimbundes I-ho-chuan gestört.«

»Das ist natürlich!« rief Ben Rubber. »Diese Revolutionen haben ja im Grunde ganz andere Ziele, als die Fremden aus dem Land zu treiben. Wir werden nachher mit Ta-pi-kang darüber reden. Die Frage ist: was haben wir zunächst zu tun. Sollen wir diesen Hügel im Auge behalten?«

»Herr, das wäre nicht gut!« warnte Käsch. »Viele würden Sie hier sehen. Es würde sich herumsprechen und Tso-tsing-wu könnte davon erfahren. Er oder sein Freund könnten Sie hier sehen.«

»Käsch hat recht«, brummte Ben Rubber. »Das geht also nicht.«

»Lassen Sie mich das machen«, schlug Käsch vor. »Ich werde die Augen offen halten und Sie von allem benachrichtigen. Sagen Sie mir bitte, wo ich Sie finden kann.«

»So ist es richtig«, nickte der Amerikaner. »Ta-pi-kang wird uns zu dem Hause führen, wo wir wohnen sollen, und du wirst in Abstand hinter uns hergehen, um dir das Haus zu merken. Wir werden sorgen, daß du immer jemand von uns antriffst, wenn du mit Nachrichten kommst.«

Die beiden Herren wandten sich zum Gehen. Käsch aber hielt Wilbrandt am Rockärmel fest. »Herr, muß ich noch lange bei Tso-tsing-wu bleiben?«

Der Deutsche tauschte einen Blick mit Ben Rubber. Der überlegte.

»Wenn er dich wieder schlagen will, dann gehst du einfach davon und kommst zu uns. Wir werden dann sehen, was er tun wird.«

Sie verließen den Friedhof und trafen am Eingang der Allee den Studenten. Dieser führte sie zu dem Gebäude, in dem er wohnte. Es lag am Eingang des Ortes. Wer von Kiu-fu aus zum Tempel und zum Friedhof wollte, der mußte am Hause vorüber. Der Student verhandelte mit dem Besitzer des Anwesens, und nach einigem Hin und Her wurden sie aufgenommen, zwar ohne Freundlichkeit, doch auch ohne sichtbaren Widerwillen. Ein wenig verlegen über die mangelnde Zuvorkommenheit seiner Landsleute, versuchte der Student ihnen begreiflich zu machen, daß man in dieser Gegend mit Europäern fast nie in Berührung käme. Darum dürfe man den Leuten ein gewisses auf Gerüchten beruhendes Mißtrauen gegenüber den Fremden nicht übelnehmen. Sie dürften aber sicher sein, daß niemand ihnen feindselig gegenübertreten würde. Im Gegenteil hoffe er, daß seine Landsleute bald erkennen würden, mit wem sie es zu tun hätten. Im übrigen riet er dringend, vorliebzunehmen, da ein anderes Unterkommen für sie nicht zur Verfügung stehe. Ein wenig verlegen setzte er noch hinzu, daß der Hauswirt für die Beherbergung der Fremden keinerlei Entschädigung beanspruchte, sondern im Gegenteil eine solche aufs entschiedenste zurückwiese. Dieser Hinweis zeigte deutlich, wie wenig willkommen die beiden Männer in diesem Hause waren.

*

Den Rest dieses Tages verbrachten Wilbrandt und Rubber in Gemeinschaft mit dem jungen Chinesen. Bald kam die Rede auf die bevorstehenden Ereignisse, und Ta-pi-kang erwies sich auch auf diesem Gebiet als bestens unterrichtet.

»Die Zustände in China sind so, daß eine gewaltige Umwälzung unausbleiblich ist«, sagte er. Ein etwas verlegenes Lächeln ward in seinem Gesicht zu sehen. »Es ist nicht ganz leicht für mich, von diesen Dingen zu sprechen. Ich fürchte sehr, meine Herren, Sie könnten manches von dem, was ich sage, als eine Unfreundlichkeit auffassen.«

»Keine Sorge!« sagte Ben Rubber, »Wir, mein Freund und ich, kennen die Geschichte Ihres Landes genügend, um zu wissen, daß Angehörige fremder Länder sich oft in unangemessener Weise in die Geschicke Ihres Vaterlandes eingemischt haben. Wir werden Ihnen also Worte des Tadels gewiß nicht übelnehmen.«

Ta-pi-kang verbeugte sich und Dankbarkeit leuchtete aus seinem Blick. »Ja, es ist so«, sagte er. »Die Mauer, die China um sein Land gebaut hat, ist zugleich sein Wahrzeichen. Die Chinesen sind ein abgeschlossenes und selbstgenügsames Volk. Sie haben es nie geliebt, wenn ihnen fremde Dinge, mochten sie noch so schön und wertvoll sein, von außen her mit Gewalt aufgezwungen wurden. Ich bin überzeugt, daß es sich immer um Dinge handelte, die uns von großem Nutzen gewesen wären. Und die meisten von den Fremden, die uns gewaltsam damit beglücken wollten, hatten sicherlich den besten Willen. Aber meine Vorväter waren eigenwillig, sie sagten Nein. Und da waren viele Weiße beleidigt, daß die eigensinnigen Gelben sich gegen ihren Vorteil sträubten und von den Wohltaten nichts wissen wollten. Und sie wurden unfreundlich, ja sogar ungerecht – und einige gewalttätig und grausam. Und da sie so unendlich viel klüger und mächtiger waren als die Chinesen, sind sie zu der Auffassung gekommen, sie seien die Herren in unserem Lande. Und das hat dann zu so vielen beklagenswerten Dingen geführt, wie dem Boxeraufstand im Jahre 1900. Weiße, die sich in unserem Lande als Gäste fühlten und betrugen und den Chinesen wirkliche Freunde waren, haben sich noch nie über uns zu beklagen gehabt.«

»Das bestätige ich mit Überzeugung«, nickte der Amerikaner. »Ich habe es an mir selbst erlebt und möchte es aller Welt bekanntgeben.«

Ta-pi-kang verbeugte sich dankend. »Ich bin überzeugt davon, Sir. So wie der einzelne Mensch den anderen achten und ehren soll, so soll auch das eine Volk das andere behandeln. Mein Volk hat dieses Land besessen seit Anbeginn der Welt – das heißt, soweit Menschen in der Geschichte zurückblicken können. Andere Völker, die solches von sich sagen können, beanspruchen, daß die Welt ihre Rechte anerkennt. Und die Welt tut es. Sie betrachtet jene Völker als Herren ihres Landes und tritt ihren Rechten nicht zu nahe. Nur den Chinesen will man dieses Recht nicht zubilligen. Das ist weder gerecht noch klug. Denn die Chinesen sind ein sehr zahlreiches Volk. Und wenn sie auch heute noch nicht so überlegen sind wie die Deutschen und Engländer und Franzosen und Amerikaner, so sind sie doch überzeugt von ihrem Recht auf ihr Land, auf ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung. Und sie wünschen ganz dringend, daß die Welt dieses Recht anerkennt. Und der Tag wird kommen, da auch die Chinesen stark und modern und wirkungsvoll ausgerüstet sind. Dann werden ihre vielen Millionen im Rat der Völker schwer in die Waagschale fallen –und wohl dann dem Volk, das den Chinesen Treue gehalten, ihr Recht anerkannt und ihm ein ehrlicher Freund gewesen ist.«

Bei diesen Worten warf der junge Chinese dem Deutschen einen Blick warmer Freundschaft zu.

»Diese Forderung ist berechtigt«, nickte Ben Rubber. »Nur ein Narr kann sie bestreiten.«

Ta-pi-kang verbeugte sich sehr tief und seine Augen strahlten. Aber auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das ein ganz klein wenig Spott enthielt. »Ich freue mich unendlich, daß Sie, ein Amerikaner, so sprechen, Sir. Ich war auch in Amerika und habe mit manchem bedeutenden Amerikaner gesprochen – natürlich auch mit vielen Chinesen. Sie waren an sich alle unbedeutend, natürlich – aber es gibt auch Chinesen, die offene Augen und klaren Verstand haben. Und sie haben mir die Versicherung gegeben, daß unter den Amerikanern auffallend viele sind, die die Chinesen nicht anerkennen wollen, weder als gleich wertvolle Einzelwesen, noch als ernstzunehmende Nation. Sie stellen die Chinesen neben die Neger. Ferne sei es von mir, hiergegen zu protestieren, denn das könnte bei Ihnen den Eindruck erwecken, als verachte ich die Neger. Nicht wahr, die Neger haben gezeigt, wie entwicklungsfähig ein Volk ist, wenn man ihm Rechte und Freiheiten und die Gelegenheit zur Entwicklung gibt. Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt – das sollte der höchste Grundsatz auf Erden sein.«

»Hm, hm«, brummte Ben Rubber und schaute vor sich nieder. Er war gewiß ein guter Kerl und begeisterter Demokrat, aber mit dieser Gleichberechtigung durfte man ihm nicht kommen. Da versagte er, sobald es sich um die Neger handelte, die er nicht ausstehen konnte.

»Die Geschichte von China ist eine Geschichte von Wohltaten, die fremde Völker uns mit Gewalt aufdrängen wollten. Westliche Zivilisation und Technik und alles, was damit zusammenhängt – ich will nicht sagen, Kultur. Kultur hatte von jeher auch China. Eine andere Kultur als Amerika und Europa, gewiß. Jedoch – wir liebten nun eben diese und waren darin glücklich. Zur Kultur gehört auch die Religion. Auch die Religion der Weißen befand sich unter den Gütern, die die wohltätigen Fremden uns aufzwingen wollten. Sie wissen von dem furchtbaren Tai-ping-Aufstand um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, wie er entstanden ist. Ein Chinese, Freund der Missionare, Hung-siu-tsüan, wurde durch eifriges Lesen der Bibel zu dem Glauben gebracht, ein jüngerer Bruder von Jesus Christus zu sein. Das führte ihn zur Gründung einer neuen Sekte. Leider wurde daraus ein Aufstand, der den chinesischen Volkskörper mit jahrelangen Krämpfen durchschüttelte und unendlich viel Blut zum Fließen brachte. Er wurde endlich niedergeschlagen. Aber leider – es haben dabei fremde Truppen geholfen. Daraus entwickelte sich der geheime Haß der Chinesen gegen die Fremdherrschaft der Weißen, gegen ihre Anmaßung, Herrschsucht, Habsucht, Grausamkeit – o Verzeihung! Das wollte ich nicht sagen.«

Er atmete tief auf und seine Augen funkelten erregt. Doch er erhob um Verzeihung bittend die Hände. Leidenschaftliche Liebe zu seinem Vaterland, Erregung über die jahrhundertelange Schmach, die seinem Volke angetan worden war, und die anerzogene, ihm zur zweiten Natur gewordene Rücksicht und Höflichkeit – diese Gefühle lagen in ihm in hartem Kampf.

»Ich verstehe Sie ja so gut!« rief Heinz Wilbrandt herzlich. »Ich würde an Ihrer Stelle die gleichen Gefühle haben.«

Das scharfe Funkeln in den Augen des Chinesen verwandelte sich in ein warmes Leuchten.

»Ich danke Ihnen, Sir. Ich bin so glücklich, wenn man mich versteht. Wir werden so selten verstanden. Die Missionare der fremden Völker hätten es gut bei uns gehabt, wenn sie allein gekommen wären. Die meisten waren sanft und gut. Religion ist ein Gut, das der Mensch in seinem Herzen haben muß. Sie ist bei allen Menschen anders. Wenn ein Freund zu mir kommt und mir einen besseren und stärkeren Gott zeigt, als es der meine ist, dann verlasse ich meinen alten Gott und werde ein Diener des neuen. Viele Chinesen sind Diener des weißen Gottes geworden. Es wären noch viel mehr gewesen, wenn nicht mit den guten Missionaren so viele harte Menschen gekommen wären, die in der linken Hand den Geldbeutel, in der rechten den Revolver hielten. Diese haben wir gehaßt und hassen sie noch heute. Und –« er hob ergeben und zugleich bedauernd die Schultern – »so ist es gekommen, daß so viele von uns auch den weißen Gott und seine Diener haßten. Es war unrecht, ich gebe es zu. Aber dieses Unrecht, von uns begangen, ist von den Fremden verursacht worden.«

»Aber was jetzt in China vorgeht –« erinnerte Ben Rubber.

»Ja, Sir – ich bitte um Vergebung«, lächelte Ta-pi-kang. »Ich mußte dieses vorausschicken, um das Folgende verständlich zu machen. Die nächste Folge der Dinge war der große Boxeraufstand im Jahre 1900. Darüber allein könnte ich stundenlang sprechen, doch ich weiß, daß Ihnen das Wichtigste bekannt ist. Nur eins bitte ich erwähnen zu dürfen. Man hat damals die Sekte I-ho-chuan äußerst scharf verurteilt, hat ihren Angehörigen die Namen von Verbrechern gegeben. Und sicher waren unter den Kämpfern Menschen, die nicht gut waren. Leider ist es in der ganzen Welt und in allen Ländern und Völkern so, daß dort, wo Gewalt geschieht, Menschen zusammenströmen, die die Gewalt und alles Böse lieben. Aber die Anlässe zu jenem Aufstand, die tieferen Gründe, die Elemente, aus denen er sich entwickelte – alles das war nicht unedel. Denn alles das erwuchs aus dem dringenden Wunsch der Chinesen, Herren im eigenen Lande zu bleiben. Das Edikt der Kaiserin-Witwe Tze-Hi, die Fremden zu vertreiben und zu töten, beklagen wir heutigen Chinesen, soweit wir urteilsfähig sind; ebenso den Tod des Freiherrn von Ketteler, der ein braver Mann war.«

Das Gesicht des jungen Chinesen hatte eine schmutziggraue Färbung bekommen. Seine Augen waren für ein paar Sekunden geschlossen und seine Zähne rieben sich aufeinander. Doch er wurde bald seiner Bewegung wieder Herr.

»Damals mußten die Chinesen einsehen, daß sie machtlos waren gegen die mächtigen Weißen. Daraus folgte aber nicht, daß sie bereit waren, sich zu ergeben. Sie erkannten, daß sie sich die Waffen der Fremden aneignen mußten. Betrachten wir die damalige Bevölkerung unseres Landes! An der Spitze standen die Mandschu, die Aristokratie, die Verteidiger der alten Überlieferungen, die glühendsten Fremdenhasser. Unter ihnen stand das Bürgertum, die Kaufleute, Gelehrten, Künstler. Zu ihnen gehörten auch die Studenten, die zu Tausenden im Auslande fremde Sitten und Machtmittel kennen gelernt hatten. Diese Kaste war bereit, von den Fremden das Gute und Brauchbare zu übernehmen, unter Beibehaltung der alten chinesischen Kultur. Zutiefst stand das breite Volk, die Handwerker, Arbeiter, Kulis – und die Bauern, diese Millionen kleiner Bauern, die in jahrhundertelangem Säen und Ernten über ihre Acker gegangen waren, den Blick unausgesetzt zur Erde gerichtet. Sie haben nie etwas anderes gekannt als die Bearbeitung ihres Ackers, als Säen und Ernten. Bis die Verkündiger der fremden Lehre kamen, ihre Blicke vom Boden losrissen und ihnen neue Ziele zeigten. Die große Gleichmachung, den Kommunismus. Sie wissen, inzwischen war aus Rußland die große Sowjetrepublik geworden. Damals, zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, wurde zuerst der Name Sun-yat-sen laut, des Arztes und Trägers der Idee des internationalen Proletariats. Er ist es, der mit seiner Lehre die große Revolution vorbereitete. Er ist ganz der Mann der Tat, glaubt nur an die Gewalt und wendet sich darum an die große, träge, bewegungslose Masse – an die Verachteten und Träumenden, an die Kulis und Bauern. Und wir sahen, daß es ihm gelang, sie in Bewegung zu bringen. Sie, meine Herren, kennen den Verlauf des großen Aufstandes von 1911 bis 1912. In sechzehn Provinzen hatte die Revolution gesiegt. Die Mandschus waren beiseitegeschoben. China wurde Republik und Sun-yat-sen ihr erster Präsident. Aber er war es nicht lange. Da war noch ein Mann aus der alten Zeit: Yuan-schi-kai. Der war ein schlauer Politiker! Sie wissen, welch ein mächtiger Mann er war, als am 15. November 1908 fast gleichzeitig die alte Kaiserin-Witwe und der junge Kaiser Kuang-sü starben. Aber vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, daß man sich zuflüstert, Yuan-schi-kai habe beide vergiftet. Ob er es getan hat – wer kann's sagen! Jedenfalls wurde er all seiner Ehren und Titel beraubt und verbannt. Als aber dann 1911 die Revolution ausbrach, da mußte man ihn wiederholen, denn er war der klügste Mann seiner Zeit in China. Er kam, und es glückte ihm, die Mandschus zur Abdankung zu veranlassen. Daß danach Sun-yat-sen zum Präsidenten gewählt wurde, war für Yuan eine schlimme Niederlage. Doch er war im stillen tätig, verband sich einmal mit dieser, dann mit jener Partei, so daß Sun-yat-sen ihn offen des Verrats anklagte. Yuan aber war ein sehr schlauer Mann. Es dauerte nicht lange, da gelang es ihm, daß der Nationalrat ihn zum Präsidenten wählte. Darauf wandelte Sun-yat-sen seine alte Partei, die Tung-min-hui, in die Kuo-min-tang um, die nun alle revolutionären Kräfte des Landes umfaßte. Seine Macht wurde wieder groß, erlahmte jedoch abermals an der Schlauheit Yuan-schi-kais, der mit unendlicher Klugheit seine Fäden spann und 1916 fast soweit war, den Thron Chinas zu besteigen. Statt dessen – starb er.«

»Ja, und auffallend plötzlich«, nickte Ben Rubber. »Scheint nicht ganz mit natürlichen Dingen zugegangen zu sein.«

Ta-pi-kang blickte vor sich nieder. Als er merkte, daß die beiden anderen ihn gespannt betrachteten, sah er auf und lächelte. »Ich weiß nicht, ob er ermordet wurde. Man sagt es. Aber wenige werden Genaues über seinen Tod wissen. Er war auf seine Art ein großer Mann, doch der Name ›Verräter‹ wird ihm in die Ewigkeit folgen.«

»Man hätte denken können, daß nach dem Tod Yuan-schi-kais Ruhe eintreten würde«, bemerkte Wilbrandt.

»Nur der Fernstehende, Sir«, widersprach Ta-pi-kang. »In Wirklichkeit war es umgekehrt. Denn jetzt erst erkannte man, wie die Parteiströmungen China zerrissen. Man kann von zwei Hauptgruppen reden, den Kuo-min-tang im Süden und der konservativen Partei im Norden. Der unfähige Vizepräsident Li-yüan-hung kam an die erste Stelle und die Generäle konnten nach Belieben ihre Taschen füllen.«

»Die Generale?« wunderte sich der Deutsche.

»In Deutschland wäre das natürlich unmöglich gewesen«, bemerkte der Chinese. »Dort herrscht eine sorgfältige militärische Erziehung mit bestimmten Ehrengesetzen. Unsere Generale aber – wissen Sie, was sie früher waren? Räuber, Bandenführer, nicht selten Mörder. Um das Land von ihnen zu befreien, hat man sie angeworben und den Führern Ehrenstellen gegeben.« Ta-pi-kang hob seine Schultern. »Sie waren ja erprobt mutige Leute. Die Fremden haben recht, wenn sie sagen, wir seien noch sehr rückständig. Aber das wird sich bald ändern. Bald –«

»Und was steht jetzt bevor?« erinnerte Ben Rubber zum zweitenmal.

»Ich werde mich kürzer fassen«, lächelte der Erzähler. »Sie wissen, daß in den letzten Jahren bei uns alles durcheinander ging, wir hatten zwei Regierungen und zwei Parlamente, im Norden und im Süden. Sie werden wissen, daß im Norden die Anfupartei mit dem Sitz in Peking große Macht hatte. Sie hielt es mit den Japanern und wollte das alte Kaiserreich wieder aufrichten. Die Studentenunruhen vom 24. Mai 1919 haben diese Pläne zunichte gemacht. Die Anfupartei wurde gestürzt und ihr Anführer Tuan-tschi-jui zog sich nach Tientsin zurück. Sein schlimmster Feind, Tsao-kun, der Gouverneur von Tschi-li und der General Tschang-tso-lin übernahmen die Macht. Und man glaubte, nun werde Ruhe im Land einkehren. Über die beiden neuen Machthaber entzweiten sich sehr bald, Tschang-tso-lin wurde aus Peking hinausgedrängt und hat sich nordwärts hinter die Große Mauer zurückgezogen. Dort hat er in aller Stille seine Armee ausgebildet. Und jetzt kann ich Ihnen endlich sagen, was es Neues gibt. Gewisse Bewegungen unter den Truppen Tschang-tso-lins lassen darauf schließen, daß er auf die Küste losmarschieren und seinem Gegner, dem General Wu-pei-fu, eine Schlacht liefern wird.«

»Dann müssen wir schleunigst zurückkehren!« rief der Amerikaner wie elektrisiert. »Solche Dinge geschehen in Peking und Tientsin – und Ben Rubber sitzt hier im stillen Hinterland – ausgeschlossen! – Ach so –«

Sein Blick war auf das empörte und erschrockene Gesicht des Freundes gefallen.

»Richtig – das geht ja nicht! Was machen wir da? Wissen Sie was, Mister Wilbrandt? Unser Freund Ta-pi-kang hat so lange erzählt – jetzt erzählen Sie mal! Erzählen Sie ihm Ihre ganze Geschichte – das heißt, wenn Mister Ta-pi-kang so freundlich sein will, zuzuhören.«

»Ob ich will?« lächelte der Chinese erstaunt, »wenn Sie mich mit Ihrem vertrauen beehren wollen? Oh – ich bitte Sie sehr!«

Und Heinz Wilbrandt erzählte eingehend seine ganze Geschichte. Bis zu dem Punkt, wo sie sich augenblicklich befanden.

Als der Student alles wußte, saß er mehrere Minuten still in Gedanken.

»Sie verfolgen einen Schemen«, sagte er dann ernst. »Die Handschrift ist falsch.«

»Sind Sie davon ganz fest überzeugt?« fragte Rubber.

»Überzeugt? Ich weiß es. Das Original habe ich erst vor wenigen Wochen gesehen. Niemand kann es entwenden, entfernen, rauben, verkaufen.«

»Das deckt sich völlig mit dem, was uns schon die beiden gelehrten Mandarinen Tung-yang-tsien in Tientsin und Li-ping in Peking versichert haben«, sagte Heinz Wilbrandt. »Das ist uns also nichts Neues. Es handelt sich nicht um diese Feststellung. Ich muß Beweise beibringen – und möglichst das gestohlene Kästchen.«

»Jawohl, so ist es!« rief Ben Rubber. »Und wir werden die Sache weiterverfolgen bis zu irgendeinem Schlußpunkt.«

»Darf ich Ihnen dabei behilflich sein?« fragte Ta-pi-kang.

»Und das fragen Sie?« rief der Deutsche mit strahlender Miene, »wenn Sie das wollen – einen größeren Dienst könnten Sie mir ja gar nicht leisten.«

»Oh, ich tue das sehr gern. Zunächst werde ich mich mit Ihrem jungen Diener, den Sie Käsch nennen, in Verbindung setzen, vielleicht auch mit seinem Herrn und dessen Freund. Ich bitte um Verzeihung, daß ich vorhin am Grab des Kon-fu-tse mehreres hörte, was nicht für meine Ohren bestimmt war. Es geschah nicht aus Neugierde. Ich muß nun nachdenken. Und vor allen Dingen muß ich unserem Wirt sagen, daß ich morgen früh doch noch nicht abreise.«


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