Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Noch am Abend dieses Tages erstattete Ben Rubber Bericht. Er hatte sich vorläufig von allen dienstlichen Verpflichtungen befreit, um sich ganz der Angelegenheit des jungen Deutschen hingeben zu können, die ihn außerordentlich fesselte. Auch er war bei Tung-yang-tsien gewesen, und der hatte ihm gegenüber seine Überzeugung wiederholt, daß die Handschrift gefälscht sein müsse. Es hatte zwar viele Umwälzungen gegeben in China, und die herkömmliche Verehrung für das Alte und Überkommene war nicht mehr so unbedingt im chinesischen Volke vorhanden wie ehemals. Dennoch, so betonte der Mandarin, würde keine chinesische Regierung es wagen, solch einen Kulturschatz ins Ausland gehen zu lassen. Tung-yang-tsien hatte Ben Rubber ein prunkvolles Handschreiben an einen sehr hohen und angesehenen Mandarin der Pekinger Staatsbibliothek mitgegeben, an Herrn Li-ping, ein in modernem Geist aufgeklärter Mann und den Ausländern freundlich gesinnt war. Li-ping, so betonte Tung-yang-tsien, würde Herrn Wilbrandt gern alle dienlichen Auskünfte geben.
Also wurde beschlossen, am nächsten Morgen dem Mandarin Li-ping einen Besuch zu machen.
Hoi-so-ping konnte seinen Gästen am folgenden Morgen gute Pferde besorgen. Von Käsch geführt, der sich bis zur Wohnung Li-pings durchzufragen hatte und das auch mit großem Geschick besorgte, langten die Reisenden vor dem stattlichen Besitz des Würdenträgers an. Eine Mauer lief rings um das Anwesen herum, und der Deutsche konnte mit einiger Berechtigung die Vermutung äußern, daß die Chinesen anscheinend mit ganz besonderer Leidenschaft Umfassungsmauern bauten. Aber sie fanden sogleich den Eingang, ein Mauerpförtchen. Käsch bekam den Befehl, draußen mit den Pferden zu warten – und die beiden Europäer betraten unbedenklich das Anwesen. Das Haupthaus stand in der Mitte des umfriedigten Raumes. Abseits davon lagen mehrere niedrigere Seitengebäude, die aber anscheinend auch Wohnzwecken dienten. Die Zwischenräume waren zwischen den Gebäuden durch gutgepflegte Gartenanlagen ausgefüllt. Auch ein kleiner Weiher war vorhanden, über den sich eine weißlackierte, aus Bambus und Latten zusammengezimmerte Brücke schwang. Das ganze sah merkwürdig puppenhaft aus, war aber keineswegs unschön oder ungemütlich. Allenthalben sah man auch hier Schmuckformen in der Art, wie die Chinesen sie lieben, unter vielfacher Verwendung von Formen aus dem Tierreich.
Die beiden Freunde standen noch im Anschauen dieser fremdartigen kleinen Welt vertieft, als plötzlich eine zeternde Stimme ertönte. Ein alter Chinese, in einen langen schwarzen Seidenkaftan gehüllt, der ihm bis zu den Füßen reichte, auf dem Schädel ein schwarzes Seidenmützchen, kam auf sie zugelaufen – und schimpfte. Er schimpfte so, daß seine Stimme sich überschlug.
»Das ist doch wohl nicht der Mandarin selbst?« meinte Wilbrandt.
»Nein, der Hausmeister«, brummte der Amerikaner.
»Warum schreit denn der Mann so? Ist das etwa hierzuland eine besondere Art von Höflichkeit?«
»Nein – der Kerl ist wütend, weil wir hier hereingekommen sind, verstehe ihn wohl, werde ihn schon zusammenstauchen – hähähä!«
Inzwischen war der Chinese bei ihnen angelangt. Sein Gesicht war verknittert vor Wut, seine Augen sprühten, und er schimpfte hochgradig erregt. Dabei deutete er mit beiden Armen immer wieder nach dem Mauerpförtchen.
Die beiden Besucher ließen den Hausmeister ruhig eine Weile toben. Plötzlich aber tat Ben Rubber einen großen Schritt vorwärts und brüllte dem Gelben in chinesischer Sprache ein paar Worte ins Gesicht, die jenen augenblicklich zum Verstummen brachten. Seine Mienen bekamen den Ausdruck eines Erschreckens, ja eines wirklichen Grauens. Sein Mund blieb weit offen stehen, und mit weitaufgerissenen Augen starrte er auf den fremden Mann, der ihn eben in seiner eigenen Sprache angeredet hatte. Was mochte Ben Rubber wohl zu dem Chinesen gesagt haben? fragte sich Wilbrandt, das jenen in so maßlosen Schreck versetzen konnte? Denn der Chinese wich langsam rückwärts, mit abwehrend erhobenen Händen. Ben Rubber folgte ihm in gleichem Abstand, und also mußte auch Wilbrandt sich dieser Bewegung anschließen. Die Gruppe näherte sich einem der kleinen Nebengebäude – noch zwei, drei Schritt und der Chinese hatte die Tür erreicht. Bevor das aber geschah, griff Rubber in den Seidenkittel des Mannes und zwang ihn, stehen zu bleiben.
»Ausreißen, old boy – o no, gibt's nicht!« lachte er seinem Gegner in das bestürzte Gesicht, »He, Sir, zeigen Sie dem Kerl doch mal die Handschrift des Mister Tung-yang-tsien!«
Wilbrandt beeilte sich, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Er hielt den langen, roten Papierstreifen aufgerollt dem Chinesen vor das Gesicht. Die Wirkung war außerordentlich. Der Hausmeister schoß zwei Schritte vorwärts auf das Papier zu, starrte ein paar Sekunden lang darauf – auf die Anrede – die Unterschrift – das Siegel – und war plötzlich mit einem Satz im Hause verschwunden. Doch ehe die beiden sich von ihrem Erstaunen erholt und einen Entschluß gefaßt hatten, war er wieder da. Er hatte einen großen krummen Säbel in der Hand, den er mit einer verzweiflungsvollen Gebärde dem Inhaber des kostbaren Beglaubigungspapiers in die Hand drückte. Heinz Wilbrandt nahm unwillkürlich die Waffe – und im nächsten Augenblick lag der Chinese vor ihm auf dem Boden, mit der Stirn auf der Erde.
»Nanu, was soll denn das bedeuten!« rief der Deutsche und starrte verständnislos auf Ben Rubber. Der grinste.
»Oh, Sir, sehr einfach!« nickte er dem Deutschen zu. »Sie sollen ihm den Kopf abschlagen, weil er Sie beleidigt hat, den Freund des großen Tung-yang-tsien. Ist hier so Brauch, Sir.«
»Das Kopfanbieten – oder das Abschlagen?« verwunderte sich Heinz Wilbrandt.
»Manchmal beides«, versicherte Ben Rubber.
Heinz Wilbrandt schleuderte den alten, ziemlich verrosteten Säbel von sich, daß die Waffe ein paar Meter weit über die Erde dahinklirrte.
»Das ist ja ein dummes Theater!« rief er entrüstet. »Bin ich ein Scharfrichter? Ich habe das Geschimpfe des Kerls nicht verstanden und fühle mich nicht beleidigt. Und blutdürstig bin ich schon gar nicht. Schluß mit dem Blödsinn!«
Und er erfaßte den lebensüberdrüssigen Chinesen ganz einfach bei den Schultern und stellte ihn auf die Füße. Der schaute den jungen Fremden unsicher und verwirrt an – und als er sah, daß jener ihm ganz friedlich, fast freundschaftlich zunickte, entspannte sich seine Miene. Wilbrandt versicherte ihm – auf gut Glück in englischer Sprache –, daß seinem Leben nicht die geringste Gefahr drohe. Und sieh da, auf einmal verstand der gute Hausmeister auch Englisch. Wenigstens begann er, in dieser Sprache sich wortreich zu bedanken und gleichzeitig um Entschuldigung zu bitten für sein ruppiges Wesen. Es war ein furchtbares Englisch, das er radebrechte, doch zum Verstehen genügte es eben. Ben Rubber aber fühlte sich durch diese Mißhandlung seiner Muttersprache im tiefsten beleidigt. Er hielt sich die Ohren zu.
»Schrecklich! Scheußlich! Abscheulich!« rief er. »Aufhören damit! Sofort aufhören! Wir werden Chinesisch miteinander reden, verstehen Sie mich, Mister Chinamann?«
»Oh – yes«, meinte der Hausmeister zögernd, mit allerlei Vorbehalten in Miene und Stimme.
»Very well!« nickte Rubber gnädig, »Ping-pang, Sing-sang, Kling-klang, Bim-bam – verstehen Sie mich?«
»No, Sir!« sagte der Chinese mit großer Entschiedenheit.
Wilbrandt mußte lachen, vielleicht hatte der gute Ben Rubber etwas ganz anderes gesagt als »Ping-pang« und »Bim-bam« – aber in Wilbrandts Ohren hatte es so geklungen – und ihm fiel ein, daß Rixkens einmal lachend zu ihm gesagt hatte, Mister Rubber richte mit seinem Chinesisch hin und wieder große Verwirrung an.
»Dann verstehen Sie überhaupt kein Chinesisch!« schnauzte Rubber den Hausmeister an. »Ich habe ganz deutlich gesagt, daß Sie der größte Dummkopf zwischen Indien und dem Nordpol wären!«
»Oh, Sir!« lächelte der Gelbe erstaunt. Dann lachte er höflich und schien überzeugt zu sein, daß der fremde Herr einen guten Witz gemacht hätte.
»Also, bester Freund, hören Sie mal zu und verstehen Sie endlich!« Plötzlich wurde Rubber sachlich und benutzte wieder sein sichereres Englisch, »wir müssen dringend Herrn Li-ping sprechen. Geht das?«
»Oh yes, allright«, nickte der Hausmeister. »Ich will sehen.«
Aber er brauchte nicht zu sehen, denn im ersten Stock des Hauses beugte sich eben ein vornehm gekleideter älterer Chinese zum Fenster hinaus und rief seinem Hausmeister ein paar Worte zu. Der verneigte sich ein paarmal bis zur Erde. Als die beiden Europäer nach oben blickten, machte der Herr des Hauses ihnen eine Verbeugung, soweit das am Fenster und von oben herunter möglich war, und lud sie durch eine liebenswürdige Geste ein, näherzutreten. Der Hausmeister riß die Türe weit auf und führte die Besucher die Treppe hinauf. Droben hob er einen Türvorhang auf und bat die Herren, einzutreten.
»Bitte, beklagen Sie sich nicht über mich!« bat er im Flüsterton. »Machen Sie Ihren ergebensten Diener nicht unglücklich!«
»Keine Rede davon!« beruhigte ihn Ben Rubber, »wir sind sehr zufrieden mit Ihnen.«
Der ängstliche Hausmeister machte ein Gesicht, als sei er davon nicht restlos überzeugt. Er ließ hinter den Besuchern den Vorhang fallen und schlich davon. Die beiden Europäer befanden sich in einem sehr behaglichen Raum, halb europäisch, halb chinesisch eingerichtet. Der für jeden gebildeten Menschen schönste Zimmerschmuck war hier reich vertreten: eine Büchersammlung, die, in schlichten Schränken mit Glasscheiben untergebracht, den größten Teil der Wände einnahm. Man konnte also gleich erkennen, sich in der Wohnung eines Mannes von hervorragender Bildung zu befinden.
Die beiden hatten sich in dem anheimelnden Raum erst oberflächlich umgesehen, da erschien der Hausherr. Es gab zunächst die üblichen Verbeugungen, dann überreichte Wilbrandt das Schreiben Tung-yang-tsiens. Der Hausherr nahm es mit einer neuerlichen Verbeugung entgegen, las es aufmerksam durch und machte abermals zwei besonders höfliche Verbeugungen, vor jedem seiner Gäste besonders, die von diesen geziemend erwidert wurden.
»Leider muß ich Ihnen sagen, meine Herren, daß ich außer Chinesisch nur Deutsch spreche«, sagte Li-ping lächelnd. »Mein Englisch reicht leider nicht zu einer einwandfreien Verständigung.«
»Very well, also führen Sie das Wort«, wandte Rubber sich an seinen Freund Wilbrandt. »Aber eine Frage zuvor, Mister Li-ping. Ich spreche zwar fließend Chinesisch, doch mit dem Schriftlichen geht es mir wie Ihnen mit dem Englischen – es reicht im äußersten Notfall. Aber eins möchte ich gern wissen. Nämlich was unser Freund, der sehr ehrenwerte Herr Tung-yang-tsien, in diesem Schriftstück über uns gesagt hat. Ich habe schon andere darnach gefragt, aber die lachten nur. Sie werden's wohl selbst nicht verstanden haben. Ich finde, Mister Tung-yang-tsien drückt sich hier ein bißchen unklar aus.«
Ein humorvolles Lächeln ging über das kluge Gesicht des Chinesen.
»Hier ist eine Stelle, die bezieht sich auf Herrn Heinz Wilbrandt. Sie bezeichnet ihn als einen gebildeten, höflichen und liebenswürdigen Menschen, der jede Unterstützung verdient.«
»Bravo! Sehr richtig! Ausgezeichnet!« spendete Ben Rubber Beifall. »Herr Tung-yang-tsien ist ein bedeutender Menschenkenner. Und was steht da von mir?«
»Von Ihnen?« Li-ping überlas noch einmal das Handschreiben, und die Besucher bemerkten, daß sein Lächeln noch schalkhafter wurde. »Von Ihnen, verehrter Herr – hm – scheint in der Handschrift – hm – nichts Besonderes erwähnt zu sein.«
»Von mir nichts erwähnt?« ging Ben Rubber hoch. »Ausgeschlossen, verehrter Herr Li-ping! Gänzlich ausgeschlossen! Ich bin doch persönlich bei Herrn Tung-yang-tsien gewesen, habe mit ihm verhandelt. In chinesischer Sprache, Mister Li-ping – zum Teil wenigstens. Und von mir soll nichts erwähnt sein? Das kann nicht richtig sein! Bitte, sehen Sie doch noch einmal ganz genau nach! Ich muß es unbedingt wissen.«
Li-ping nickte und zog bereitwillig noch einmal das Schriftstück zu Rat. »Hm – mein sehr verehrter Freund und Amtsbruder Tung-yang-tsien hat hier eine scherzhafte Bemerkung über Herrn Ben Rubber gemacht. Es heißt hier: ›Der andere Herr, der aus Amerika, Herr Ben Rubber, ist ein rechter Maulheld.‹«
»Wie? Was? Maulheld? Ich?« entrüstete sich der Amerikaner. »Das steht da? Aber das ist denn doch – das ist –«
»Verstehen Sie bitte richtig, verehrter Herr!« bat Li-ping mit einem nur halb unterdrückten Schmunzeln. »Das Wort heißt natürlich hier anders. Ich habe versucht, es so sinngemäß wie möglich zu übersetzen. Aber Sie wissen, Übersetzungen geben oft einen Begriff nur undeutlich wieder. Herr Tung-yang-tsien wollte zweifellos mit dem Ausdruck Ihre große Beredsamkeit andeuten, Ihre Sprachgewandtheit und Schlagfertigkeit.«
»Ach so!« Der gute Ben war sofort wieder versöhnt. »Natürlich, so wird es sein. Und damit hat der sehr ehrenwerte Herr Tung-yang-tsien natürlich recht. Und nun, Mister Wilbrandt, sprechen Sie von dem Zweck unseres Besuches.«
Das tat Wilbrandt denn auch so kurz und klar wie möglich. Li-ping lauschte mit der größten Aufmerksamkeit. Man konnte ihm anmerken, wie lebhaft er sich für die Angelegenheit interessierte. Als Wilbrandt seinen Bericht abgeschlossen hatte, verharrte der Mandarin eine Minute lang schweigend und nachdenkend.
»Die Handschrift ist gefälscht«, sagte er dann. »Ich sage das mit einer solchen Bestimmtheit, weil ich die echte noch vor ganz kurzer Zeit in Händen hatte und jemand zeigte.« Er betrachtete die photographischen Aufnahmen, die Wilbrandt ihm zeigte, mit großer Aufmerksamkeit. »Die Fälschung ist geschickt gemacht und dem Original gegenüber sehr getreu. Ein Beweis, daß der, der sie anfertigte, Ruhe zu seiner Arbeit hatte und sich nicht zu überstürzen brauchte. Es kann sich nur um einen Angestellten der Staatsbibliothek handeln.«
»Glauben Sie, daß die Fälschung aus letzter Zeit stammt?« fragte Wilbrandt.
»Keinesfalls!« antwortete Li-ping schnell und lebhaft. »Sie ist sicher vor dem Weltkrieg geschrieben worden.«
»Bestehen für diese Annahme bestimmte Gründe oder ist es nur eine Vermutung von Ihnen?«
»Es ist keine Annahme, sondern eine Überzeugung, für die ich gewichtige Gründe habe. Vor einer Reihe von Jahren wurden in der Staatsbibliothek zu Peking gewisse Änderungen getroffen, die es ausschließen, daß eine solche Fälschung hergestellt werden kann. Es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen hierüber genauere Erklärungen geben.«
»Und früher war es leicht, Nachahmungen von solchen alten Schätzen herzustellen?«
»Ich will nicht sagen, leicht. Es war leichter als heute – besser, es war möglich, heute ist es nicht mehr möglich. Jene Änderungen, von denen ich eben sprach, wurden getroffen wegen einer gewissen Fälschung, die uns sehr viel Unruhe gebracht hat – sogar diplomatische Verwicklungen. Beinahe hätte sie sogar einen Krieg zur Folge gehabt.«
»Es besteht also die Möglichkeit, daß von zahlreichen kostbaren Werken der chinesischen Staatsbibliothek irgendwo in der Welt Fälschungen vorhanden sind?«
Li-ping lächelte und schüttelte langsam den Kopf.
»O nein, verehrter junger Freund, so dürfen Sie sich die Sache nun doch nicht denken. Auch früher hat es nur verhältnismäßig wenige Personen gegeben, die unauffällig und regelmäßig solche Stücke wie die Annalen des Kon-fu-tse in die Hände bekamen. Ich glaube, ich könnte Ihnen aus dem Gedächtnis die meisten jener Personen aufzählen, denen es in den letzten Jahren möglich gewesen wäre, infolge ihres Amtes eine solche Fälschung ausführen zu können. Ich sagte Ihnen schon, daß nur hervorragende Beamte der Bibliothek dafür in Frage kommen können. Für andere war es auch früher vollkommen unmöglich, solch eine Handschrift nachzuahmen.«
»Ein gewisser Lui-ping-shen befindet sich wohl nicht unter diesen Persönlichkeiten?« fragte Wilbrandt. Er tat die Frage, ohne auch nur im geringsten zu erwarten, darauf eine bejahende Antwort zu bekommen. Sie war ihm nur so entschlüpft – und während er sie aussprach, mußte er unwillkürlich über sich selber lächeln.
Um so erstaunter war er, als Li-ping lebhaft nickte und sagte: »Doch, auch ein gewisser Doktor Lui-ping-shen war unter den Beamten der Regierung, die damals wegen gewisser Verfehlungen aus ihrem Amt verstoßen wurden. Und gerade Lui-ping-shen war es, der jene Fälschung verübt hat, die für uns so unangenehme Folgen hätte haben können. Aber wie kommen Sie zu dem Namen?«
»Mein Gott – ich kenne den Mann!« rief Heinz Wilbrandt aufgeregt. »Ich habe ihn in Deutschland gesehen – er ist ein reisender Zauberkünstler. Er steht im Verdacht, das Kästchen mit der Handschrift aus dem Amtszimmer meines Vaters entwendet zu haben. Er oder sein Diener Yü-su.«
»Sein Bruder Yü-su«, sagte der Mandarin ernst. »Sein Zwillingsbruder. Aber ich meine doch, der wäre schon vor Jahren gestorben, haben Sie eine Ahnung, wo die beiden sich gegenwärtig befinden?«
»Lui-ping-shen befand sich, wie gesagt, auf einer Kunstreise durch Deutschland, trat in meiner Heimatstadt auf und reiste dann zu einem weiteren Gastspiel nach Hamburg – angeblich. Er ist nie in Hamburg eingetroffen. Seit dem Augenblick seiner Abreise ist er spurlos verschwunden, auch für die deutschen Behörden nicht auffindbar.«
Und da Li-ping gedankenvoll schwieg, fuhr der Deutsche nach einer kleinen Pause fort: »Natürlich ist es für meinen Vater nicht von großer Bedeutung, ob man ihm ein Falschstück der alten Handschrift zum Kauf angeboten hat, oder ob es echt war. Er und das ihm vorgesetzte Ministerium sind der Ansicht, daß die geforderte Summe bezahlt werden müsse – unter allen Umständen.«
»Diese Ansicht überrascht mich«, sagte Li-ping. »Angenommen nun, es stellt sich heraus, daß die beiden Verkäufer der Handschrift unehrliche Leute, Verbrecher sind –«
»Ja, wenn es möglich wäre, das festzustellen!« rief Wilbrandt.
»Ich will versuchen, Ihnen dabei zu helfen«, erklärte Li-ping. »Aber Sie werden verstehen, daß das nicht von heute auf morgen geschehen kann.«
»Davon bin ich überzeugt«, nickte der Deutsche und seufzte.
»Ich werde zunächst in Erfahrung zu bringen suchen, was das für Leute sind: der Mandarin Hoang-yü-tsing und der General Kuo-sung-lien. Sie dürfen schon jetzt überzeugt sein, daß, wenn nicht die Namen, so doch die Titel falsch sind. Ich werde mich auch mit Ihrem Botschafter und mit unserem Gesandten in Berlin in Verbindung setzen.«
»Für die dadurch entstehenden Kosten komme ich natürlich auf.«
»Sehr verehrter junger Freund, das ist natürlich nicht nötig«, wehrte Li-ping lächelnd ab. »Glauben Sie, der chinesischen Regierung wäre es gleichgültig, wenn draußen in der Welt Angehörige unseres Volkes umherziehen und derartige Dinge zum Verkauf anbieten – ganz gleich, ob es sich um echte Sachen oder Fälschungen handelt? Überlassen Sie das, was von hier aus in der Angelegenheit getan werden kann, nur ruhig mir. Und sobald ich etwas weiß, werde ich Sie benachrichtigen. Dazu ist nötig, daß Sie mich von Ihrem jeweiligen Aufenthalt in Kenntnis setzen. Und nun darf ich Sie bitten, mit mir zu frühstücken.«
Da die beiden Europäer überzeugt waren, den liebenswürdigen Mann ohnehin in seinen Gewohnheiten und Beschäftigungen schon genügend gestört zu haben, entschuldigten sie sich mit anderen Verpflichtungen und nahmen nach Versicherungen wärmsten Dankes Abschied von Li-ping.
Als sie wieder zu Pferd saßen, sagte Heinz Wilbrandt zu dem Amerikaner: »Wissen Sie, lieber Mister Rubber, ich bin im Begriff, meine alten Ansichten über China und die Chinesen gründlich zu ändern. Ich habe mich nie von der Überzeugung losmachen können, im Grund seien die Chinesen doch nur ein halbkultiviertes Volk –«
»Jawohl, ich verstehe, weil sie nicht unsere Kultur haben, meinen Sie?«
»In der Tat«, gab der Deutsche zu. »Aber man kommt hier zu anderen Ansichten. Dieser Herr Li-ping zum Beispiel ist ein Mann, vor dem man die größte Hochachtung haben muß.«
»Solcher Männer werden Sie noch viele finden«, nickte Ben Rubber. »Bei Ihnen ist diese Erkenntnis schnell gekommen. Manche lernen's nie. Wissen Sie, ganz unter uns: meine Landsleute drüben in Amerika haben ja genau denselben dummen Hochmut den Chinesen gegenüber wie die Europäer. Weil die chinesische Kultur von der unseren so ungeheuer verschieden ist, redet man von Unkultur. Wie viel aber könnten Amerika und Europa von den Chinesen lernen! Aber da steht ja unser verwünschter dummer Hochmut im Weg! Ich kann Ihnen nur raten, die Augen aufzumachen. Sie werden noch oft Gelegenheit haben, sich zu wundern. Sie sind ja glücklicherweise nicht so verbohrt!«