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Zwei Stunden später trat Rixkens vergnügt lächelnd in das Zimmer des jungen Deutschen.
»Sehen Sie doch, Doktor, was ich Ihnen hier bringe! Können Sie sich ungefähr vorstellen, was das ist?«
Damit breitete er eine Rolle von dünnem rotem Papier auf dem Tisch aus, einen Meter lang, dreißig Zentimeter breit. Der Rand war mit skizzenhaft hingeworfenen Zeichnungen verziert. Innerhalb der Einfassung befand sich ein Feld, das mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt war.
»Ein chinesisches Schriftstück, wie ich sehe. Wohl eine Zeitung?«
»Fehlgeraten! Es ist eine Einladung meines Freundes, des Mandarinen Tung-yang-tsien, an Sie, meine Tochter und mich, heute abend in seinem Palast einer Vorstellung seiner Theatergesellschaft beizuwohnen.«
»Ausgezeichnet!« rief Wilbrandt. »Doch wozu diese Tapetenrolle?«
»Nun, das Schriftstück enthält nicht nur die Einladung an uns, sondern außerdem den Namen und Inhalt des aufzuführenden Dramas und ein Verzeichnis aller darin vorkommenden Personen. Zu solchen Dingen braucht der Chinese viel Papier und Raum. Außerdem wollte der gute Tung-yang-tsien Ihnen, dem landfremden Deutschen, wohl ein wenig imponieren.«
»Was ihm auch, meiner Treu, gelungen ist«, lachte Wilbrandt. »Wollen Sie nicht die große Güte haben, mir das Ding als Andenken zu überlassen? Da es doch eine gewisse Verbindung mit mir hat?«
»Mit dem größten Vergnügen. Sehen Sie – hier steht Ihr Name. Meine Tochter wird Ihnen gerne den Text des Schriftstücks übersetzen.«
»Das macht mir Spaß. Diese Einladung wird einst ein kostbares Stück meines chinesischen Privatmuseums sein.«
Eine Stunde später beim Tee kam die Rede auf das chinesische Theater und Helene berichtete.
»Der Chinese ist ein leidenschaftlicher Liebhaber alles dessen, was mit der Schauspielkunst in Verbindung steht. Es gibt eine Unmenge von kleinen Theatergesellschaften, die von Ort zu Ort ziehen und ihre Bühne aufschlagen, wo sich gerade Gelegenheit dazu bietet. Die Mittel sind denkbar einfach: eine aus Brettern und Bambusstäben errichtete Bühne mit einfachen roten Baumwollvorhängen – und das Theater ist fertig. Die Zuschauer stehen oder sitzen je nach den Verhältnissen unter freiem Himmel, wenn nicht ein größerer Schuppen zur Verfügung steht, in dem das Theater aufgeschlagen werden kann. Eine Schranke von Bambusstäben, oft genug nur ein Strick teilt den Raum in zwei Teile, den vorderen für die zahlenden Zuschauer – den hinteren für jene, die man in Deutschland sehr treffend ›Zaungäste‹ nennt.«
»Also lediglich ein Theater fürs niedrige Volk«, vermutete der junge Arzt.
»Keineswegs!« widersprach Helene. »Der in Seidengewändern einhergehende Chinese verschmäht es nicht, ein solches Theater zu besuchen und dicht neben einem zerlumpten armen Teufel zu stehen.«
»Zu stehen?« verwunderte sich Wilbrandt.
»Wenn er sich keinen Sitz mitbringt. Sie können sich denken, daß das Einkommen dieser Schauspieler nicht eben groß ist und daß sie ihre Kunst unter den denkbar einfachsten und ärmlichsten Umständen ausüben müssen. Aber das tut der Begeisterung keinen Abbruch. In solch einem Theater kennt man keine Klassenunterschiede. Die Anteilnahme an den Vorgängen auf der Bühne verwischt alle sozialen Gegensätze. Vater und ich waren einmal in solch einem Theater. Es war sehr interessant.«
»Weiß der Kuckuck, das war es!« lachte Rixkens. »Es war in Peking. Dicht vor uns saß ein hoher Regierungsbeamter in starrender gelber Seide. Er hatte einen Bedienten bei sich, der ihm einen Stuhl trug und Erfrischungen mitgebracht hatte. Neben diesem vornehmen Gast hatten sich zwei schäbige Kerle, vielleicht Karrenschieber oder dergleichen, niedergekauert. Mitten während des Spiels begannen sie mit ihrem vornehmen Nachbarn eine Unterhaltung über das Stück und die Schauspieler. Dieser war nicht im geringsten verletzt dadurch, teilte vielmehr mit den beiden ein großes Stück Kuchen. Und es dauerte nicht lange, da schlüpfte ein junger Schauspieler, der nicht nur das Lob seiner Leistungen vernommen, sondern auch die Güte des Kuchens und den Duft von eben herbeigebrachtem Glühwein wahrgenommen hatte, von der Bühne herunter und bot sich freundlich lächelnd als vierter Gast an. Natürlich wurde er liebenswürdig aufgenommen. Aber Sie dürfen beruhigt sein: solch ein Theater ist das meines Freundes Tung-yang-tsien nicht«
*
Das bemerkte Doktor Wilbrandt denn auch schon beim Eintritt in die Räume des Mandarinen. Tung-yang-tsien begrüßte seine Gäste aufs freundlichste, ja mit einer gewissen Feierlichkeit. Und gleich nach dem Empfang führte er seine Besucher in den Theatersaal. Nach europäischen Begriffen mehr ein großes Zimmer als ein Saal. In der Mitte eine Festtafel, an einer Schmalseite die verhangene Bühne. In dem Raum befand sich etwa ein Dutzend Personen, Familienmitglieder und Freunde des Hausherrn. Abermals gab es eine feierliche Begrüßung, dann wurde Platz genommen.
Während des ersten Ganges des Festessens – das halb chinesisch, halb europäisch zusammengestellt war – schlug der Hausherr mit einem silbernen Hämmerchen auf ein winziges Gong. Da ging eine Tür auf und eine Gesellschaft von Musikern mit Geigen, Glastrompeten, Flöten und kleinen Trommeln marschierte in den Saal. Beim Vorübergehen machte jeder von ihnen vor dem Sitz des Hausherrn eine feierliche Verbeugung, die Tung-yang-tsien nicht weniger feierlich erwiderte. Dann begaben sie sich zu einem erhöhten Platz neben der Bühne – und nach einem kurzen Stimmen begannen die Künstler einen so entsetzlichen Lärm zu vollführen, daß Heinz Wilbrandt vor Schrecken der Bissen im Mund stecken blieb. Die Geigen begannen mit einem Akkord, als würde einem Dutzend junger Hunde gleichzeitig der Schwanz abgeschnitten, vier leistungsfähige Männer bliesen auf gläsernen Trompeten verzweifelte Weisen – sie bliesen, bis ihre gelben Gesichter bläulich wurden. Aber sie hörten dann keineswegs auf. Sie bliesen, bis ihnen der Schweiß an den Backen herunterlief. Sie bliesen herzzerreißend, unbarmherzig, höllisch – doch offensichtlich begeistert. Dazwischen lärmten mehrere Trommeln und Kastagnetten, als sei draußen ein emsiges Maschinengewehrfeuer im Gange.
Heinz Wilbrandt warf Helene, die neben ihm saß, einen Blick hilfloser Verzweiflung zu. »Mein Gott, was bedeutet das? Ist das eine Aufforderung zur Revolution? Zum Harakiri? Oder ist das chinesische Musik? Ist es ein Vorspiel zu dem Stück, das aufgeführt wird? So wie unsere Opern-Ouvertüren? Dann können wir uns auf etwas gefaßt machen!«
»Ich werde Ihnen alles erklären, so gut es in der Eile geht«, tröstete ihn Helene. »Sehen Sie, es fängt schon an.«
Die Musiker hatten plötzlich aufgehört, der Vorhang öffnete sich und eine chinesische Dame, reich in farbige Seide gehüllt, wurde sichtbar.
»Sie ist recht ansehnlich«, flüsterte Wilbrandt Helene zu.
»Er«, wisperte sie dicht an seinem Ohr und zwinkerte mit den Augen.
»Ich spreche von der Schauspielerin.«
»Ich auch. Aber ›sie‹ ist ein ›er‹. Frauenrollen werden hier von Männern dargestellt. Sie werden zugeben, daß er sie ganz brav verkörpert.«
In der Tat, Wilbrandt mußte zugeben, daß hier die Kunst der Maske eine vollkommene Täuschung erreicht hatte. Inzwischen hatte die »Dame« zu sprechen begonnen.
»Das gehört noch nicht zum Stück«, erläuterte Helene. »Sie erzählt, daß sie die Prinzessin Li, die Schwester des Prinzen King, spiele – daß sie den Prinzen Kung liebe und von ihm geliebt werde –, daß infolge dieser Liebe bittere Feindschaft zwischen Kung und King ausgebrochen sei. Daß die beiden sich gegenseitig umbringen würden und daß infolgedessen ihr leider auch nichts anderes übrig bliebe, als sich das Leben zu nehmen, was sie äußerst wirkungsvoll mit Gift tun würde.«
»Also eine Art Inhaltsangabe des Stückes?«
»Genau so. Und jeder Darsteller erzählt uns den Inhalt von neuem, aber von dem Standpunkt aus, den er im Stück vertritt. Man weiß also genau, was vorgeht, ehe das erste Wort des Stückes gesprochen wird. Aber jetzt geht es endgültig los.«
»Aber die Bühne ist ja noch kahl, wie bei einem Konzert, wo bleibt die Szenerie?«
»Aber die ist doch vorhanden!« lachte Helene. »Sehen Sie nicht die meterhohen Stäbe, die im Kreise auf der Bühne stehen, durch einen Strick miteinander verbunden? Und dahinter das zwei Meter lange Brett, das mit je einem Ende auf einem niedrigen Schemel ruht und mit dem einen Ende in den Ring von Stäben hineinreicht? Können Sie sich wirklich nicht denken, was diese sehr wirkungsvolle Szenerie vorstellt?«
»Wahrhaftig – nein!« bekannte Wilbrandt ein wenig benommen.
»Was denn anders als einen Burghof! Der Strick bildet die runde Burgmauer, das Brett die Zugbrücke. Ja, lieber Doktor, zu einem chinesischen Schauspiel müssen Sie Ihren ganzen Vorrat an Phantasie mitbringen.«
»Das scheint so. Aber sehen Sie doch, was der Prinz Kung für absonderliche Bewegungen macht!«
»In keiner Weise absonderlich. Er steigt zu Pferd. Sehen Sie, jetzt sitzt er im Sattel, nimmt den Zügel zur Hand. Das ist doch alles so klar!«
»Aber warum schimpft er denn so mörderlich?«
»Er schimpft nicht. Er spricht von seiner Liebe zur Prinzessin Li. Er ist ein sehr leidenschaftlicher Liebhaber.«
Das schien in der Tat so. Seine Gefühle machten ihm offenbar viel zu schaffen, denn er bedurfte einer beträchtlichen Lungenkraft und Zeit, um sich besagte Gefühle einigermaßen von der Seele zu reden. Dabei saß er immer noch auf seinem unsichtbaren Pferd. Plötzlich aber begann er ernstlich zu toben und griff in beängstigender Weise nach einem langen Krummschwert, das an seiner linken Seite hing.
»Um Gotteswillen, Fräulein Rixkens, was hat er vor?« fragte Wilbrandt besorgt.
»Er befindet sich auf dem Weg zur Burg, wo der Vater der Prinzessin sie, die Geliebte Kungs, verborgen hält. Er will sie befreien. Sehen Sie nur, welch ein heldisches Feuer aus seinen Augen sprüht!«
Plötzlich machte der Mann zu Pferd einen Sprung, als habe er einen Messerstich in den Rücken bekommen. Dann stand er still und atmete tief.
»Der Held ist mit einem gewaltigen Satz über die Mauer gesprungen und befindet sich nun im inneren Burghof. Er wird nun – aber sehen Sie, unser Gastgeber will etwas sagen.«
In der Tat hatte sich Tung-yang-tsien erhoben, fuchtelte mit den Armen durch die Luft und rief dem Schauspieler zu: »Ho, du da, Psi-lun, das war schlecht! Sehr schlecht! So springt ein Räuber aus dem Altyn-Tag Gebirgszug in Tibet über einen Graben, aber kein Prinz über eine Burgmauer. Du mußt den Sprung noch einmal machen, Psi-lun.«
Prinz Kung kehrte in die Wüste zurück, was mit einem großen Schritt geschehen war, und machte dann den gefährlichen Sprung noch einmal. Diesmal mit einer Eleganz, daß der Mandarin begeistert klatschte.
»Gut, sehr gut, Psi-lun! Komm her!«
Und tatsächlich: der Prinz Kung verwandelte sich in einen simplen Psi-lun, kam von der Bühne heruntergesprungen und erhielt für seine schöne Leistung ein Täßchen Tee nebst einigen kleinen Küchlein. Nachdem er sich die Leckerbissen zu Gemüte geführt hatte, kehrte er auf die Bühne zurück und war wieder der Prinz Kung.
So ging das noch ein paar Stunden weiter. Doktor Wilbrandt fiel aus einem Erstaunen ins andere. Manchmal hatte er Mühe, seinen Ernst zu bewahren. Aber er wußte, daß ein ernstes Stück gespielt wurde und daß er seinen Gastgeber schwer beleidigen würde, wenn er seiner Heiterkeit die Zügel schießen ließe. Aber Tung-yang-tsien war mit seinen Gästen außerordentlich zufrieden, bedankte sich wortreich für die große Aufmerksamkeit, mit der sie dem Schauspiel seiner minderwertigen Truppe zugeschaut hatten. Worauf Herr Rixkens im Namen seiner Tochter und des Freundes ernst und feierlich versicherte, daß sie noch nie durch ein Schauspiel so ergriffen gewesen seien. Schließlich überreichte der Mandarin Herrn Rixkens ein kleines Paket – und nach vielen Abschiedsredensarten verließen die drei Deutschen das gastliche Haus Tung-yang-tsiens.
»Raten Sie, was mein erhabener Freund mir eben überreicht hat? Nun, eine Bescheinigung, daß Sie ein Freund Chinas, ein Freund des ganzen Landes, besonders ein Freund von ihm, dem Mandarinen Tung-yang-tsien, Inhaber des blauen Knopfes, seien und daß alle guten Chinesen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen, Ihre Wege ebnen, Ihre Aufgaben erleichtern und alle Gefahren und Mühseligkeiten von Ihnen abwenden mögen.«
»Tatsächlich?« fragte Wilbrandt überrascht. »Nutzt denn das?«
»Das werden Sie schon sehen. Dieses Schriftstück öffnet Ihnen zahlreiche Türen – wenn auch nicht alle, denn auch in China ist der Autoritätsglaube nicht mehr so fest und unerschütterlich wie früher. Immerhin werden Sie für den Geleitsbrief Tung-yang-tsiens noch oft dankbar sein.«
Sicher war, daß Wilbrandt im Augenblick von dieser Dankbarkeit nicht viel empfand. Er empfand vielmehr nichts anderes als Müdigkeit. Er war wie gerädert durch die Erlebnisse der letzten Stunden. Gleich nach der Ankunft im Hause Rixkens begaben sich alle zur Ruhe. Aber Heinz Wilbrandt ging es nicht gut in dieser Nacht, denn er hatte einen fürchterlichen Traum. Er war gestorben und stand am Himmelstor vor dem heiligen Petrus. Aber der Gestrenge blickte ihn äußerst ungnädig an und hielt ihm eine Menge Sünden vor, die sein Gewissen bisher nie belastet hatten. »Du bist Arzt«, so sprach Sankt Petrus zürnend, »und hast oft und oft die Klagen deiner leidenden Mitmenschen hören müssen. Du hast ihnen Schmerzen zugefügt mit Messer, Schere und Zange, doch dein Herz ist kalt geblieben bei den Schmerzensschreien der Armen.« – »Aber ich habe ihnen doch nur helfen wollen«, stammelte der arme Sünder, »wenn mein Herz gebrochen wäre vor Mitleid, dann hätte ich nicht helfen können. Darum habe ich mich zur Härte gezwungen.« – »Und damit hast du schwer gesündigt!« fuhr ihm der Heilige zwischen die Entschuldigungen. »Ein armes kleines Mädchen, dem du einen Zahn zogst, hast du angeschnauzt, weil es wimmerte! Jawohl, das hast du getan! Du hättest es trösten müssen! Statt dessen hast du dem armen Ding noch einen weiteren Schmerz zugefügt! Und so mit Schuld beladen, willst du in den Himmel hineinspazieren? O nein, mein Sohn, das kann nicht sein. Das Gewimmer der Kranken hast du nicht hören wollen – so sollst du nun zur Strafe dieses Gewimmer tausendfach aushalten, hundert Jahre lang sollst du Kapellmeister der Hauskapelle des Mandarinen Tung-yang-tsien sein!« Als der arme Sünder dieses Urteil vernahm, stieß er einen furchtbaren Verzweiflungsschrei aus und brach vor dem Himmelstor zusammen – fiel von der dicken weißen Wolke herunter – bis auf die Erde – schlug mit dem Kopf gegen die Spitze des höchsten Himalayagipfels – und erwachte. Und fand sich erstaunt in einem Bett wieder und die Sonne lachte höchst vergnügt durch die schneeweißen Mullvorhänge zu ihm herein.