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Während der bisher auf chinesischem Boden verlebten Tage war Heinz Wilbrandt zu der Erkenntnis gekommen, daß seine Aufgabe keinesfalls binnen weniger Wochen erfüllt werden könne – und daß ihm nichts anderes übrig bliebe, als Chinesisch zu lernen, da nur die Kenntnis der Landessprache ihm die Möglichkeit gebe, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Er war ein Mann schneller Entschlüsse – und so begab er sich kurz entschlossen an das Studium. Schon Harlington hatte ihm dazu geraten. Auch Ben Rubber hatte ernst mit dem Kopf genickt, ihm aber die feste Versicherung gegeben, er würde in zehn Jahren nicht so viel Chinesisch lernen, um sich mit den Bewohnern des Landes unterhalten zu können. Chinesisch, sagte er, sei »die Sprache des Teufels«, vom Höllenfürsten erfunden und geeignet, vernünftige Menschen verrückt und ehrliche Leute zu Spitzbuben zu machen.
»Ich selbst habe ja allerdings die Sprache gelernt«, setzte er ein bißchen zögernd hinzu. Wilbrandt erkannte in seinen Worten deutlich den Mangel an Logik und ließ sich nicht abschrecken. Die erste Lernstunde hatte freilich einen entmutigenden Verlauf genommen. Es galt vor allen Dingen, sich die Urzeichen ins Gedächtnis einzuprägen, aus denen die Schrift zusammengesetzt ist. Das war aber, als sammelte er Aale in einem durchlöcherten Sack. Was oben hereinging, das schlüpfte unten wieder hinaus. Hatte er zwei bis drei von den verflixten Zeichen fest im Kopf, dann waren inzwischen ebensoviele rettungslos wieder daraus entwischt. Und nach vier Stunden mühevoller Arbeit, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, schob er verdrießlich die Lehrtafeln von sich, denn er hatte die feste Gewißheit, weit dümmer zu sein als am Anfang. Auch der »Kleine Chinese in der Westentasche«, den er sich schon gleich mitgebracht hatte, tat ihm keine guten Dienste. Ihm wirbelte der Kopf von all dem ing, ung, ang, itsch und futsch. Richtig »futsch« war nur seine Denkkraft, wie ihm schien. Unwillkürlich fühlte er sich an den Hinterkopf, ob ihm nicht etwa im Lauf der Stunden ein Zopf gewachsen sei. Er war wütend über sich selbst, daß er nicht einmal fähig war, so ein bißchen Chinesisch zu lernen, und hielt an sich selbst eine Ansprache, die, hätte er sie an einen anderen gerichtet, ihm den schönsten Beleidigungsprozeß an den Hals gedreht hätte. Aber vernünftigerweise setzte er dieser Rede einen kurzen, kräftigen Nachsatz hinzu, und der zeigte, daß er ein rechter Kerl war – nämlich den Nachsatz: »Jetzt mal gerade!«
Eben ging die Tür auf und Käsch schlängelte sich ins Zimmer herein. Wilbrandt runzelte drohend die Brauen und setzte schon zu einer Strafpredigt an, da der gute Käsch seit gestern nachmittag nicht mehr sichtbar gewesen war. Doch der Schlingel kam ihm zuvor.
»Herr, ich bin jetzt auch der Freund des Meisters«, flüsterte er geheimnisvoll.
»Welches Meisters?« fragte Wilbrandt schlecht gelaunt.
»Des Meisters Tso-tsing-wu, Herr! Ki-kuis Prinzipal!«
»So? Wie hast du denn das gemacht?« erkundigte sich der Deutsche mit erwachendem Interesse.
»Oh – ich habe ihm einen großen Dienst erwiesen. Ich – habe ihn nach Hause begleitet – ja – weil – weil er nicht gut gehen konnte – ja – weil er starke Schmerzen im Rücken hatte – und auch die Füße taten ihm sehr weh – und alles tat ihm weh – ja –«
»Merkwürdig!« wunderte sich Wilbrandt. »Wo trafst du ihn denn mit all diesen Gebresten?«
»Auf der Straße nach Hai-fong – eine Stunde jenseits der Großen Mauer.«
»Aber wie kamen Tso-tsing-wu und du auf die Straße nach Hai-fong? Du hattest da bestimmt nichts verloren.«
»Nein, Herr, verloren nicht«, gab Käsch unumwunden zu. »Aber Tso-tsing-wu hat doch da eine Teepflanzung – ja – und da war er doch gestern. Und hinter dem zusammengestürzten Tempel des Tao habe ich ihn erwartet –«
»Wieso erwartet?«
»Aber ich wußte doch ganz genau, daß die Palankinträger ausreißen würden und daß er allein nicht nach Peking zurückkriechen könne.«
»Ausreißen? Zurückkriechen?« Wilbrandts Verwunderung stieg.
»Nun ja, Herr! Wenn einer so verhauen wird! Und wenn der Bambusknüppel so dick ist! Dicker als mein Daumen, Herr! Ich habe Ki-kui vorausgesagt, daß er Tso-tsing-wu mit diesem Prügel totschlagen würde. Ihm war das aber ganz gleich. Es war nicht recht von Ki-kui, so einen dicken Stock zu nehmen. Seines Meisters Prügel ist viel dünner.«
»Wenn ich dich also richtig verstehe, habt ihr Tso-tsing-wu erst gemeinsam zuschanden geschlagen und dann hast du den Barmherzigen Samariter gespielt! O Käsch, das war hundsgemein!«
»O nein, mein Gebieter!« verteidigte sich der junge Mann. »Ich habe nur geschrien, nicht mitgeschlagen.«
»Geschrien?«
»Jawohl, Herr! Damit die Palankinträger wegliefen!«
»Und sie liefen?«
»O Herr, wie die Ratten! Und wir mußten schreien, damit man Tso-tsing-wus Geschrei nicht hörte! Und als Ki-kui nicht mehr schlagen und ich nicht mehr schreien konnte, da liefen wir weg. Ich lief aber nur bis zum Tempel des Tao. Dort lauerte ich auf Tso-tsing-wu. Er kam auch bald herangekrochen – ach, Herr, auf allen Vieren. Es sah so komisch aus! Da habe ich ihm denn geholfen. Bis er unter warmen Decken auf seinem Kang diwanartige Liegestatt lag. Er war so dankbar! Und am Schluß sagte er –«
Er brach ab und verzog das Gesicht. Es sah aus, als habe er Wespen im Mund. Dabei hob er seine Arme auf und streckte alle zehn Finger weit von sich. Alles in allem sah er aus, als habe man ihn eben aus einer Jauchegrube gezogen.
»Nun, was hat er am Schluß gesagt?« forschte Wilbrandt mißtrauisch.
»Ich soll morgen früh in seinen Dienst treten – anstelle von Ki-kui, den er verhauen und aus dem Hause werfen will – ja –«
»Zum Kuckuck, weiß er denn, daß Ki-kui – Mensch, Käsch, ich will doch nicht hoffen, daß du zum Schluß deinen Spießgesellen noch dazu verraten hast?«
»Verraten? O nein, mein Gebieter!« sagte Käsch mit Würde. »Ich habe Tso-tsing-wu nur gefragt, ob er Ki-kui an der Stimme erkannt habe. Vielleicht hätte ich es nicht getan, aber Ki-kui hat mir gestern erzählt, sein Herr habe einen guten Freund, der ein großer Zauberkünstler sei und Reisen in Europa mache –«
»Ist das wirklich wahr?« rief Wilbrandt elektrisiert.
Käsch nickte ernsthaft. »Und wenn ich jetzt Tso-tsing-wus Schreiber bin, dann werde ich alles erfahren, was Sie wissen wollen. Etwas Wichtiges habe ich schon herausgebracht. Tso-tsing-wu muß in den nächsten Tagen eine weite Reise machen – zum Tempel des Kon-fu-tse.«
»Ich denke, jede chinesische Stadt hat ihren Konfuziustempel.«
»Das wohl, Herr, aber diese Tempel sind nicht wichtig. Der einzige Tempel des Kon-fu-tse, der heilig gehalten wird, steht auf seinem Grab in Kiu-fu, in der Provinz Schantung, wo Konfuzius geboren wurde.«
»Und dorthin reist Tso-tsing-wu? Was will er denn dort?«
»Das ist ein großes Geheimnis, Herr. Ki-kui sagte mir, sein Meister wolle am Grab des heiligen Propheten mit einem Freund zusammentreffen, der weite Reisen durch Europa gemacht hat.«
Wilbrandt zwang sich zur Ruhe. »Hat der Schreiber dir auch gesagt, zu welchem Zweck er jenen Chinesen treffen will?« fragte er, und seine Stimme klang heiser.
Käsch zögerte ein wenig mit der Antwort. Als er aber den brennenden Blick des Deutschen sah, kam er mit der Antwort heraus.
»Er hat es mir gesagt, Herr. Ki-kui hat alle Geheimnisse seines Herrn ausgespäht, und er ist angefüllt mit Haß. Er hat mir anvertraut, daß Tso-tsing-wu einer der Obersten des Geheimbundes ›I-ho-chuan‹ sei.«
»Was ist das für ein Geheimbund?«
»Die Europäer nennen sie Boxer.«
»Aber es heißt doch, dieser verbrecherische Geheimbund habe sich aufgelöst und bestünde nicht mehr!«
Käsch hob ein wenig seine Schultern, lächelte zurückhaltend – und machte ganz den Eindruck eines Menschen, der mehr weiß als er sagen mag. Doch wieder brachten ihn die fordernden Augen seines Herrn zum Reden.
»Die Chinesen sind nicht der Meinung, daß die Mitglieder des Bundes I-ho-chuan, das heißt ›Das große Messer‹, Verbrecher sind. Sie sagen, China gehöre den Chinesen, und diese brauchten es sich nicht gefallen zu lassen, von Fremden schlecht behandelt zu werden. Darum haben viele sich zusammengeschlossen zum Bunde I-ho-chuan, um die Fremden aus China zu vertreiben.«
»Mir scheint, Käsch, daß du die Bestrebungen dieses Geheimbundes für gut und lobenswert hältst«, bemerkte Wilbrandt und betrachtete seinen Diener mit deutlicher Mißbilligung.
»Herr, ich bin Christ«, antwortete der junge Chinese schlicht. »Und ich habe einen guten Herrn, obwohl auch er ein Fremder ist. Und die Freunde meines Herrn sind auch gut, ich diene ihnen gern.«
Wilbrandt nickte, von dieser Erklärung völlig befriedigt, seinem Diener freundlich zu, was diesen zu weiteren Enthüllungen ermutigte.
»Man glaubt allgemein, der Geheimbund I-ho-chuan sei erloschen. Das ist aber nicht der Fall. Ich weiß es von Herrn Rixkens, der schon oft mit Tung-yang-tsien, dem Mandarin, über die Boxer gesprochen hat. Der Geheimbund I-ho-chuan sammelt neue Mitglieder und Gelder. Ki-kui sagte mir, Tso-tsing-wu sei einer der schlimmsten Fremdenhasser von ganz Peking, und er glaubt, daß auch der Mann, mit dem er in Kiu-fu zusammenkommen will, im Dienst des Bundes I-ho-chuan steht.«
Wilbrandt sprang auf und begann aufgeregt hin und her zu gehen. Die Gedanken jagten sich in seinem Hirn. Das waren die ersten hellen Lichter, die in das Dunkel seiner Mission fielen. Fingerzeige, denen er mit Aussicht auf Erfolg folgen konnte. Aber sie führten – das erkannte er wohl – in eine Welt von Geheimnis und Gefahren. Er war durchaus entschlossen, diesen Weg zu gehen. Gefahren fürchtete er nicht. Sein Herz schlug in schnellen Schlägen, freudig und hoffnungsvoll. Er war von der festen Überzeugung beseelt, daß ein freundliches Geschick seine Schritte leitete, da schon die ersten Tage seines Aufenthalts in China so günstige Ergebnisse gezeitigt hatten.
So sehr war Wilbrandt von seinen Gedanken beherrscht, daß er für eine Weile ganz die Anwesenheit seines treuen Dieners vergaß. Bis sein Blick auf den jungen Chinesen fiel, der sich still in einen Winkel des Raumes zurückgezogen hatte und von hier aus aufmerksam und abwartend jede Bewegung des Deutschen verfolgte. Wilbrandt winkte ihm mit einem aufmunternden Lächeln zu, und im Nu stand Käsch vor ihm.
»Habe ich meine Sache falsch gemacht, Herr?« fragte er schmeichelnd.
»Im Gegenteil, mein guter Käsch. Zwar bist du ein großer Bösewicht, aber für diesmal sollen dir deine Schandtaten vergeben werden. Also du wirst morgen früh deinen Dienst bei Tso-tsing-wu antreten. Sei aber vorsichtig, gib dir keine Blöße und verdirb nichts durch Übereifer. Und wenn es dir möglich ist, dann sage Mister Rubber Bescheid, ich hätte dringend mit ihm zu sprechen.«