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6.

Professor Wilbrandt durchlebte zwei aufgeregte, kummervolle Tage. Stundenlang wanderte er in seinem engen Gefängnis, dem öden Zimmer mit den zugenagelten Fenstern, auf und ab und grübelte, hier gab es nichts zu lesen, kein Schreibgerät, keine Bequemlichkeit. Stundenlang stand er am Fenster, starrte durch die von Staub halbblinden Scheiben, konnte aber nicht einmal ermitteln, in welchem Stadtteil er sich befand, denn er sah nichts als eine hohe Ziegelmauer und einige Dächer, die anscheinend Schuppen bedeckten. Dreimal am Tage erschien ein alter Chinese und brachte ihm das Essen. Der Mann verstand offenbar nicht eine Silbe Deutsch, denn zu allem, was der erregte alte Herr zu ihm sagte, schüttelte er nur grinsend den Kopf.

Am Abend des zweiten Tages ließ sich auch Li-chu-ang wieder sehen. Wilbrandt saß auf dem einzigen Holzstuhl am Tisch, hatte den Kopf zwischen die Hände gestützt und blickte still vor sich hin. Sein graues Haar hing ihm wirr um den Kopf und seine Augen waren entzündet von vielen schlaflosen Stunden. Als die Türe aufging und Li-chu-ang hereintrat, ließ Wilbrandt die Hände sinken und blickte erbittert und gramerfüllt auf den Chinesen.

»Guten Abend, hochverehrter Herr Professor!« verneigte sich Li-chu-ang bis zur Erde. »Ich sehe mit großem Schmerz, daß Sie nicht gut aussehen. Fehlt Ihnen etwas?«

»Das fragen Sie noch?« schnaubte der Professor erregt. »Sie sind der Mörder meiner armen Frau!«

»Ich war selbst bei Ihrer Gattin«, entgegnete der Chinese gelassen. »Da Sie sich weigerten, mir für die verehrte alte Dame ein Briefchen zu übergeben, habe ich mir die Freiheit genommen, zu ihr hinzugehen und sie über Ihr Verschwinden zu beruhigen. Ich muß gestehen, daß die verehrte gnädige Frau anfangs sehr verwirrt und unruhig war, auch gesundheitlich sich nicht ganz auf der Höhe zu befinden schien. Aber ich glaube, es ist mir gelungen, die verehrte Dame vollkommen wieder zu beruhigen. Sie ist überzeugt, daß Sie sich auf einer dringenden Reise befinden und in einigen Tagen zurück sein werden.«

»Das haben Sie meiner Frau erzählt – und sie hat es Ihnen geglaubt?« staunte Wilbrandt. »hören Sie mal, das ist eine knüppeldicke Lüge!«

»Es beliebt Ihnen, mich zu beleidigen«, sagte der Chinese und senkte bescheiden den Kopf. »Ich rege mich nicht darüber auf, denn ich weiß, daß Sie ein gerechter Mann sind und mir eines Tages das Unrecht abbitten werden.«

»Mann, sagen Sie mir wenigstens in dem einen Punkt die Wahrheit: ist meine Frau gefaßt und geht es ihr erträglich?«

»Ich glaube, diese Frage in jeder Hinsicht ehrlich bejahen zu können«, sagte der Chinese ernst. »Noch einmal, verehrter Herr Professor, ich bin nicht Ihr Feind! Ich wünsche Ihnen kein Unglück und Leid, nur Gutes. Darum beunruhigt es mich, zu sehen, daß Sie nicht wohlauf sind.«

»Nein, das bin ich nicht«, seufzte der Professor. »Ich fühle mich krank. Mein Kopf ist schwer. Mein Gedächtnis läßt nach. Ich habe weder Appetit noch Schlaf.«

»Oh, wie ich das bedaure! Keinen Appetit und keinen Schlaf – anscheinend können Sie es nicht vertragen.«

»Was kann ich nicht vertragen?« fuhr Wilbrandt mißtrauisch auf.

»Bitte, bleiben Sie ganz ruhig«, lächelte der Chinese. »Ich sprach von der chinesischen Küche, die gewisse Zutaten und Gewürze enthält, die nicht jedem bekommen –«

»Haben Sie mir Gift unter die Speisen gemischt?« schrie der alte Herr entsetzt auf.

»Aber – verehrter Herr!« sagte Li-chu-ang vorwurfsvoll. »Glauben Sie mir, wenn ich solche Gedanken hegte, wäre das Ihr sicherer Tod. Ich will aber doch Ihren Tod nicht. Ich will nur Ihr Bestes – und wie gesagt – den Plan der Kupfermine. Geben Sie mir den Plan heraus und Sie werden mit mir zufrieden sein.«

»Sie ermüden mich mit Ihren Forderungen«, sagte Wilbrandt entmutigt. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen soll. Ihre Forderung ist so unlogisch! Wenn ich den Plan wirklich hätte – was sollte ich damit! Glauben Sie, ich hätte Lust, Bergwerksbesitzer in China zu werden – oder mein Sohn?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte Li-chu-ang und schüttelte betrübt und hoffnungslos den Kopf.

»Ich habe in diesen Tagen andauernd über die Sache nachgedacht«, fuhr Wilbrandt nach einer Weile fort. »Könnte es nicht sein, daß das Kästchen ein Geheimfach hat, in dem der Plan versteckt ist?«

Der Chinese blickte dem Professor starr in die Augen, wieder wie vor zwei Tagen verzog sich sein Gesicht wie unter einem inneren Krampf. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, sagte er leise: »Ich verstehe Sie vollkommen. Sie wollen mich durch diese Frage glauben machen, Sie wüßten nichts von diesem Plan. Aber begreifen Sie doch bitte: ich darf daran nicht glauben! Denn wenn ich daran glaube, dann glaube ich zugleich an den Untergang meiner Familie. Von dem Augenblick an, da Sie dieses Haus verlassen, ohne daß Sie mir den Plan übergeben haben, bin ich samt unserer ganzen Familie zugrundegerichtet. Ich habe in den letzten zwei Nächten Ihr Amtszimmer durchsucht, aber ohne Ergebnis. Ich habe nichts gefunden.«

»Sie waren in meinem Amtszimmer?« staunte Wilbrandt. »Das ist einfach nicht möglich! Erzählen Sie mir nicht solche Räubergeschichten!«

»Wenn Sie wieder frei sind«, sagte der Chinese mit einem herzzerreißenden Lächeln, »dann finden Sie in der untersten Schublade Ihres Schreibtisches den versprochenen Säbel des Kaisers Tao-kuang. Ich habe ihn in der letzten Nacht dorthingelegt. Ein Zeichen, wie fest ich auf Ihr Einsehen baue.«

Er blickte dem Professor bei den letzten Worten mit einem Ausdruck von Furcht und Hoffnung in die Augen, der diesen erschütterte. Ein Gefühl von Mitleid und fast Zuneigung zu diesem unglücklichen Mann keimte in seiner Seele auf.

»Ich kann Ihnen nicht helfen – leider!« seufzte er.

Da erhob sich Li-chu-ang und ging schweigend hinaus.

*

Beim Abendessen erhielt der Gefangene außer Tee und Kaffee ein Fläschchen Rotwein, Wilbrandt aß wenig, trank aber erst den Wein und hinterher einen Schluck Tee. Dann überfiel ihn plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Er mußte sich ins Bett legen, bevor er völlig ausgekleidet war, und versank augenblicklich in tiefen Schlaf.

Als er erwachte, schien die Sonne ins Zimmer. Zu seinem Erstaunen stand vor seinem Bett ein Schutzmann. Er rieb sich die Augen – glaubte im ersten Augenblick, er schliefe und träumte noch.

»Was ist los?« murmelte er. »Wo bin ich – ah – ich erinnere mich – aber – die Polizei – hier im Hause –«

»Jawohl, die Polizei!« bestätigte der Beamte ernst und streng. »Wer sind Sie und was machen Sie hier?«

»Aber Sie sahen doch – geschlafen habe ich«, erklärte der alte Wilbrandt. Es lag ihm ungeheuer fern, den Beamten aufzuziehen. Die Antwort war ihm in seiner halben Schlaftrunkenheit nur so entfahren. Aber der Schutzmann fühlte sich in seiner Würde verletzt.

»So? Geschlafen? Was haben Sie hier verloren? Wie sind Sie hierhergekommen? Wohnen Sie hier? Wer sind Sie – zum Donnerwetter!«

»Der Museumsdirektor Professor Wilbrandt – Sie wissen, Völkerkundemuseum –«

»Nun erzählen Sie mir mal keine Räubergeschichten, verstanden?« rief der Beamte barsch. »Wenn Sie glauben, Sie könnten mich verhohnepipeln, dann sind Sie schief gewickelt, Männeken. Papiere her!«

»Papiere?« brummte der Professor, »hm – ich war nur eben auf einem kleinen Abendspaziergang, als ich überfallen und hierhergebracht wurde. Da hatte ich keine besonderen Papiere bei mir. Aber da am Stuhl hängt mein Rock. Wenn Sie mal nachsehen wollen – ein paar Briefe oder so was werden Sie ja wohl in den Taschen finden.«

Der Schutzmann betrachtete den Mann im Bett mit grimmiger Miene. Er traute ihm nicht – aber die gewählte Sprache des Mannes fiel ihm doch auf. Er langte sich den Rock heran und leerte umständlich alle Taschen.

»Museumsdirektor? Überfallen? Verschleppt – wenn das nur nicht alles Schwindel ist!« brummte er, während er Papiere, ein Taschentuch, eine Zigarrentasche, ein Schlüsselbund und noch ein paar Kleinigkeiten auf dem Tisch ausbreitete. »Die Geschichte scheint mir nicht mit rechten Dingen zuzugehen.«

»Darauf können Sie sich verlassen«, nickte Wilbrandt. »Auch darauf, daß ich Ihnen die Wahrheit sage. Sehen Sie, das sind Briefe an mich, und in der Zigarrentasche ist mein Name eingepreßt – und hier in meiner Uhr auch –«

»Kann alles geklaut sein«, lehnte der mißtrauische Beamte ab. »Gehen Sie mal mit aufs nächste Polizeiamt!«

»Dann werden Sie aber wohl einen Wagen nehmen müssen«, wandte der alte Herr ein. »Natürlich auf meine Kosten. Ich bin krank und schwach und kann nicht weit gehen.«

»Die nächste Polizeiwache ist um die Ecke herum, keine dreihundert Schritt weit. Das werden Sie ja wohl können. Wagen gibt's nicht.«

Der Professor zog sich unter den Augen des Schutzmanns an, dann wurde er aus dem Hause geführt. Alle Türen standen weit auf, kein Mensch war im Hause, vor der Türe aber lungerten ein paar Gaffer umher, die den Verhafteten neugierig und schadenfroh anstarrten.

Wilbrandt gelangte ganz leidlich zur Polizeiwache, wo der Beamte seinen Gefangenen abgab und Bericht erstattete. Bewohner der Straße hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, daß seit einem Tage und einer Nacht die sonst immer verschlossene Haustür weit offen stand. Haus und Straße standen nicht im besten Ruf. Ersteres habe allerdings seit Wochen neue Mieter gehabt, von denen man kaum etwas sah und hörte. Als nun aber das Haus so einladend offenstand, die Räume zu ebener Erde aber sämtlich leer waren (woher die Leute das wußten, war nicht zu ermitteln, da keiner sich dazu bekannte, im Hause gewesen zu sein), hatten die Nachbarn angenommen, daß da was nicht richtig sei und hatten dem Schutzmann Bericht erstattet. Der hatte das Haus gründlich durchsucht und endlich den friedlich im Bett liegenden schlafenden Mann gefunden. Und hier war er denn nun. Worauf das Interesse des Kommissars sich von seinem Untergebenen auf den alten Mann richtete – Herr konnte man schon nicht mehr sagen in Anbetracht seines vernachlässigten Äußeren.

Wilbrandt machte nun seine Angaben – und als Folge davon begann der Kommissar zu telephonieren. Wilbrandt hörte sich das eine Weile geduldig mit an, dann machte er den Vorschlag, seinerseits einmal ein Gespräch führen zu dürfen. Gewiß – warum nicht! Und der Herr Kommissar staunte nicht wenig, als dieser sonderbare alte Mann ohne weiteres das Ministerium anrief, den Kultusminister verlangte und mit diesem eine freundschaftliche Unterhaltung begann, der der Kommissar, der sich natürlich mit in das Gespräch eingeschaltet hatte, mit wachsendem Erstaunen folgte. Als Wilbrandt schließlich bat, Exzellenz möge irgend jemand herschicken, um ihn zu beglaubigen und der Minister erklärte, er würde sogleich selbst kommen, war dem Beamten aller Spott über die Angaben des verhafteten abhandengekommen. Und der Schutzmann zeigte eine Miene, als fürchte er nunmehr die gewaltigsten Donnerwetter, die je seit Beginn seiner Dienstzeit über ihn herniedergegangen waren. Diese Besorgnisse aber erwiesen sich bald als ganz unbegründet. Professor Wilbrandt war von der Weisheit der Staatsordnung überzeugt und wußte sehr wohl, daß auch einmal ein Unschuldiger in das Getriebe dieses gefährlichen Räderwerks geraten kann. Der Schutzmann wurde mit einem Taler beschenkt und dann hinausgeschickt, was jenen so in Verwirrung versetzte, daß er sich wichtig wie die Hauptperson eines Märchens vorkam. Und als nach zehn Minuten ein Wagen vor der Polizeiwache hielt, dem der Minister eilig und nicht ohne lebhafte Spannung entstieg, fand er drinnen seinen Freund Wilbrandt ernsthaft und sehr friedlich mit dem Kommissar über den Fall sinnend und grübelnd – vor allem über die merkwürdige Frage, was den Chinesen veranlaßt haben könne, das Feld zu räumen und die Mausfalle weit offenstehen zu lassen. Es hatte sich schon die verblüffende Tatsache ergeben, daß Wilbrandt annähernd fünfzig Stunden geschlafen hatte. Mehr als ein ganzer Tag und zwei volle Nächte waren in seinem Leben verflossen, ohne daß er an ihnen irgendeinen Anteil genommen hatte.

Nachdem auch der Minister sich über den rätselhaften Fall weidlich verwundert und dem Kommissar wiederholt strengste Untersuchung anempfohlen hatte (obwohl die Polizei nicht zu seiner Amtsabteilung gehörte), fuhr er Wilbrandt nach Hause, wo dann das Erzählen, verwundern und Kopfschütteln von neuem begann.

Wer aber beschreibt erst des Professors Erstaunen, als er in der untersten Schublade seines Amtszimmers ein wahres Wunderwerk der Waffenkunst fand – den Säbel des Kaisers Tao-kuang!


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