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Den 9. Januar 1786.
. . . Ich wurde in meiner stattlichen Rede an die großen Herren drollig genug durch eine noch stattlichere unterbrochen, mit der mich mein Wirt hinterrücks anfiel, der, während ich mich mit Kaiser und Reich unterhielt, unbemerkt mit meinem Frühstück eingetreten war, und, sobald er seine Hände frei hatte, sich mit vielem Anstande nach mir zukehrte. An der Türe sah ich zugleich einen hagern Kerl, der, bis auf sein ominöses Gesicht in die Draperie eines Scharlachmantels geschlagen, wie die Maske eines römischen Zensors dastand. »Ich habe«, fing der Wirt an, »die ganze Nacht der Vorsehung gedankt, die meinem Hause das Heil widerfahren ließ, einen Mann wie Sie zu bewirten.« – Oho! dachte ich, dieser herrenhutische Eingang verspricht nicht viel gutes für meinen Beutel; aber hierin irrte ich mich. – »Immer habe ich gewünscht, den Reisenden, die vor meinem Gasthofe halten, noch ehe ich sie bewillkommne, an das Herz zu reden, und ihnen mit einem großen feierlichen Gedanken gleichsam in die Pferde zu fallen.« – Ich spitzte voller Erstaunen die Ohren. – »Was soll man sich bei den Sinnbildern so vieler Wirtshäuser denken, bei dem goldenen Hammel, der silbernen Striegel oder dem Kreuze von Malta? Ich versuchte es im Anfange meiner Wirtschaft mit dem Bilde meiner Frau. – So lange das Bild noch frisch war, tat es auch Wirkung. – Nach und nach ward es aber bleich – die Gäste blieben aus, und ich war entschlossen, es ausmalen zu lassen. Es ging aber anders: denn in eben dieser Epoche geschah es, daß mich der Prinz auf einem Besuche, den er seinem großen Vetter in Wien abstattete, als Mundkoch mitnahm, und nach seiner Zurückkunft mit dem Titel seines Haushofmeisters entließ. Auf dieser Reise lernte ich erst, ich muß es gestehen, den feinen Geschmack der französischen Küche mit dem nahrhaften der deutschen verbinden. Ich sah Joseph den Zweiten nicht ohne Nutzen einigemal speisen, und glaubte es dem Andenken dieser belehrenden Reise schuldig, kein ander Bild auszuhängen als das seinige. Sieben Jahre hängt es nun da; doch fängt es jetzt auch an, unscheinbar und den Leuten gleichgültig zu werden; ich merke es nur zu sehr schon in meiner Wirtschaft. Da flüsterte mir meine Frau diese Nacht zu: – »Andres! Die Erzählung der fremden Bedienten liegt mir immer im Ohr und läßt mich nicht schlafen. Das Wunder, das ihr Herr gestern getan hat, wird bald genug Lärm machen; denn so etwas wächst wie ein Schneeball. Weißt du was! der Herr muß gut sein, da er Wunder tut – und wir brauchen ein neues Schild. – Sein Porträt würde sich unter allen am besten dazu schicken. – Ich dächte, du bätest ihn darum. Unsere Wirtschaft würde sicher dabei gewinnen; denn nagelneuer kann man keinen Heiligen auftreiben. – Tue es, lieber Mann, damit uns kein anderer Gasthof zuvorkömmt.« – So sagte meine gute Frau, und gewiß ist es nicht bloß Eigennutz, sondern Frömmigkeit, die ihr diesen Wunsch abnötigt. – Schlagen Sie uns solchen nicht ab, würdiger Mann! Nur eine Stunde – und dieser geschickte Künstler – –« Hier bewegte sich der Scharlachmantel, und sein Handwerkszeug fiel mir mit Entsetzen in die Augen. Ich fuhr wie aus einem schweren Traum auf und sah im Spiegel, daß ich so rot war, wie die Draperie des Malers. – Das, dachte ich, soll auch gewiß der einzige Anstrich sein, den der dir gibt.
»Halten Sie inne«, fiel ich dem Wirt mit äußerstem Verdruß in die Rede, »und verschonen Sie mich mit solchen – Anträgen: ich will das Beiwort, das sie wohl verdienten, verschlucken. Kanonisieren Sie, wen Sie wollen, nur mich nicht. Mein sogenanntes Wunder, von dem ich gestern bei Ihnen ausruhte, war, deutsch gesprochen, nichts mehr und weniger als eine Posse: das können Sie mir nachreden, ohne mir Unrecht zu tun. Ein Herr wäre wahrlich übel daran, wenn er für alles das stehen müßte, was seine einfältigen Bedienten um den Küchenherd von ihm posaunen.«
Ich ging ernst und mit großen Schritten die Stube auf und ab. Der Wirt schwieg, und ich sah es ihm an, daß er bei jedem hitzigen Worte, das ich ausstieß, immer mehr an meiner Heiligkeit irre ward. Du mußt wohl, dachte ich, ein wenig einlenken. – Sind doch schon klügere Leute durch solche Albernheiten verblüfft und verrückt worden. – »Es tut mir leid,« drehte ich mich gelassener zu ihm, »daß Sie einen geschickten Maler hierher bemüht haben; aber Sie sollen nichts dabei einbüßen. Ich will gern das Mißverständnis bezahlen, in das meine Leute Sie gebracht haben, von den vielen Lichtern und Schüsseln des gestrigen Abends an, bis auf den Fleischergang dieses Herrn. Setzen Sie nur alles auf meine Rechnung. Dafür bitte ich mir aber wiederholt aus, daß Sie allen Reisenden, die Sie über mein Wunder in Avignon dogmatisieren hören, das Verständnis öffnen, und entschuldigen Sie mich aufs beste bei Ihrer lieben Frau. Wenn ich Ihnen beiden etwas raten soll, so behalten Sie ja das Bild unsers guten Kaisers fernerhin bei. Es wird Ihrem Hause gewiß das meiste noch einbringen. Warum sollte es andern Reisenden nicht gehen wie mir? Es erinnerte mich an die guten Tafeln von Wien – das Wasser kam mir in den Mund, und ich kehrte bei Ihnen ein.« –
Dieses brachte den Mann ganz wieder zu seiner Besinnung. »Sie haben recht,« sagte er nach einigem Nachdenken; »Wien ist die hohe Schule der Kochkunst, und ein Wirt, der das Seinige dort gelernt hat, sollte eigentlich in keinem Lande verderben. – Das Bild des Kaisers – ja – ja – weil der Herr Maler einmal hier ist, so mag er es heute noch auffrischen. Es bleibt doch noch immer das anlockendste Schild.« – »Oh, ganz gewiß,« fiel ich ihm ein; »es erweckt nicht allein große Gedanken, sondern auch lüsterne. Aber ich möchte gern beizeiten nach Aix. – Schicken Sie mir meine Bedienten herauf und sorgen Sie für das Anspannen.«
Ich warf ihm ein Schnippchen nach, und meine Wundergestalt auf einen Stuhl, sobald er sich mit seinem Künstler getrollt hatte. – »So darf man«, sagte ich mit höhnischem Verdrusse, »nur eine Torheit in der Welt begehen, oder dem dummen Haufen ein Blendwerk vormachen, wenn man wünscht, sich modeliert, gemalt oder in Kupfer gestochen zu sehen, den Kirchen, den Wirtshäusern, den Büchersälen zum Schilde zu dienen. Da forschen denn Zeitgenossen und Nachkommen nach dem Ausdruck unsers Geistes – denken, so muß ein großes Genie aussehen, und, um der Larve ihres Vorbildes gleich zu werden, verzerren sie ihre eigenen. Nein, bei Gott! so ein Affengeschlecht, als wir Menschen sind! – Und du,« – fuhr ich in meiner Galle gegen das Trio fort, das hereintrat, »du Bastian – abergläubischer, dummer Kerl, und ihr beiden elenden Puppenspieler – was zum Teufel gehen euch meine Wunder an? Wenn euch nach der Ehre gelüstet, einem Heiligen zu dienen, so sucht euch einen; denn wahrlich, euer Unverstand allein wird mich nicht dazu machen. Erwähnt einer von euch das vermaledeite Avignon noch mit einer Silbe, so sind wir geschiedene Leute. Ich will dieses Nest durchaus vergessen und mich nicht bei jedem Bissen Brot und von jedem Esel daran erinnern lassen. Das ist mein letzter Bescheid!«
Sie standen so einfältig und niedergebeugt vor mir, wie Ladendiener vor ihrem Handelsherrn in dem kritischen Augenblicke, wo er ihnen seinen Bankerott ankündigt. Ich sah es ihnen an, daß sie bei meiner Herabwürdigung mehr noch an die ihrige dachten; denn jeder Pinsel, er mag in einer Livree stecken oder in einem Hofrocke, fürchtet an Wert zu verlieren und in Finsternis zu versinken, wenn der Nimbus seines Gebieters erlischt. Zwei traten stillschweigend nach meiner Erklärung ab. Nur der Epilogus schien etwas noch auf dem Herzen zu haben und fing mit seinem gewöhnlichen Anstande an, es auszukramen.
»Unter allen guten Eigenschaften eines Bedienten«, erhub er seine Theaterstimme, »steht wohl die Ehrlichkeit – –« – »Keine Chrie, Herr Volksredner,« fiel ich ihm ins Wort, »die verbitte ich mir. Sage es ohne Umschweife. Was hast du anzubringen – nun?« – »Nun denn, nämlich,« stotterte er, »ich bin so glücklich gewesen, eine Entdeckung zu machen.« – »Und die besteht?« – »Ja, mein Gott! wie soll ich Ihnen antworten? Ich darf den Ort nicht nennen – Eigentlich braucht es auch nicht – es steckte ja nur in der Livree, die Sie dort kauften.« – »Kerl«, fuhr ich ihn an, »das einemal sprichst du wie ein Buch, das andremal noch schlechter – Wo ist denn hier der mindeste Zusammenhang?« – »Sie wollen ja keinen,« versetzte er mit weinerlicher Stimme; »Ihr Verbot hat mich so – so irre gemacht, daß ich für alles in der Welt in diesem Augenblicke nicht auf einer Schaubühne stehen möchte – man würde mich auspfeifen; und doch ist das, was mir geschehen ist, ein wahrer Coup de théatre. – Werden Sie nur nicht wieder ungeduldig, mein Herr! – Heute früh, als ich mich in meinen neuen Rock warf – wo muß ich gestern nachmittag mein Gefühl gehabt haben? – stellen Sie sich meine Überraschung vor, entdeckte ich einen verborgenen Schubsack. – Ja, den wird mir nun freilich niemand streitig machen; wem aber gehören die Sachen, die ich darin fand? Das ist die Frage. Gehören Sie Ihnen, der die Livree bezahlt hat? – dem Bedienten, der sie vor mir trug und verkaufte? – seinem Herrn, der sie anschaffte? – mir, dem sie jetzt auf dem Leibe sitzt? – oder dem unbegreiflichen Trödler, der – –«
Indem blies der Postillon, und ich griff nach meinem Hute. – Das tat Wirkung. – Der Schwätzer fuhr nun in die Tasche und zog seinen Fund hervor, der, in Makulatur geschlagen und mit einem schmutzigen Bande umwickelt, nicht viel Wichtigeres als einen Pfefferkuchen erwarten ließ. – »Oh, Sie werden gleich sehen, daß es keiner ist,« antwortete er meiner spöttischen Vermutung, »wenn Sie noch so lange verziehen wollen, bis ich das Paket aufgeschnürt habe.« – Ich hätte ihm den Gefallen nicht getan, wenn meine Neugier auch noch so groß gewesen wäre. »Das will ich bei Gelegenheit schon selbst tun,« antwortete ich; »denn dir will ich gewiß keine geben, dein Geschwätz fortzusetzen.« – Und so schob ich das Paket oben zwischen die Weste und ging. – »Nein, mein Herr,« flüsterte er mir noch auf der Treppe ins Ohr, – »es ist wohl ein bißchen mehr als ein Pfefferkuchen – bei dem hätte ich mir kein Gewissen gemacht – es ist eine Schreibtafel – ich habe noch keine von der Schönheit gesehen, und es steckt eine arabische Handschrift darin, die ich aber weiter nicht untersucht habe.« – »Das will ich glauben,« antwortete ich kurz. – »Aber«, hielt er mich noch auf der letzten Stufe bei dem Ärmel, »wem gehört sie denn nun?« – »Wem anders,« fuhr ich ihn an, »als dem Herrn des lüderlichen Burschen, der vor dir in der Liverei steckte. Einer von euch ist wie der andere. Eure Unordnung, eure Plaudereien und eure doppelten Schubsäcke sind den Teufel nicht wert.« . . .
Ich fand jetzt zum ersten Male, und werde es, fürchte ich, öfter finden, daß ich ein paar Bediente an den Puppenspielern zu viel hatte; denn ich wäre gern Bastianen aus meinem Wagen los gewesen, wenn ich nur einen andern unbesetzten Platz für ihn gehabt hätte. So saß er mir hier gegenüber mit seiner freundlichen Miene, in der allerlei Erinnerungen lagen, die mir in diesen Augenblicken eben kein besonderes Vergnügen machten. Ich habe dir schon von der sprechenden Ähnlichkeit erzählt, die er mit seiner Schwester hat. Wie ich die Augen aufschlug, kam es mir vor, als ob mich Margot ansähe und mich eben durch eine naive Frage außer Fassung bringen würde. Hätte ich ihr wohl nur die einfache Erkundigung: Wie haben Sie sich die Zeit über befunden? beantworten können, ohne zu lügen und rot zu werden? Es ist doch eine ganz eigene Sache um das Gewissen; es findet in jedem Kinde seinen gestrengen Richter; und zu welcher grausamen Folter wird ihm nicht der flüchtigste Hinblick auf ein unschuldiges Herz! Ich fühlte meine Brust immer beklemmter, und durch eine Verwechslung des Sinnlichen mit dem Geistigen, die gewöhnlicher ist, als man glaubt, schob ich es sehr philosophisch auf das Seelenfieber, das ich mir in Avignon zugezogen hatte, ohne eher zu mutmaßen, daß wohl eine äußere Ursache daran schuld sein könne, als bis ich vor Unruhe mir die Weste aufriß und nun das Paket, das offenbar meine Hitze vermehrt hatte, herausfiel.
Es kam mir recht wie gerufen. Meine Brustbeschwerde ließ nach, und die Neugier schaffte mir Zerstreuung. Kaum hatte ich es auseinander, so sah ich mit Erstaunen, in welchem hohen Grade mein Epilogus ehrlich gewesen war, wenn er anders Juwelen besser kennt als das Arabische. Das goldene Schloß an der Schreibtafel war mit Brillanten besetzt, davon sich einer drücken ließ, um es zu öffnen; die arabische Handschrift aber war nichts mehr und nichts weniger als ein deutscher Brief von mehreren Bogen, ohne eine andere Unterschrift als einen einzigen Buchstaben: indes schloß ich noch aus dem wenigen was mir das Rütteln des Wagens zu lesen erlaubte, daß er von einem Landjunker herrührte, der – was denkst du wohl? – den guten Geschmack – Gott weiß aus was für Ursachen – förmlich in Klage nimmt. Es hätte mir vielleicht die Zeit vertreiben können, einen Herren dieses Zeichens über einen solchen Gegenstand schwatzen zu hören; nur stellte ich mir den Spaß nicht groß genug vor, um deshalb meinen Wagen auf der offenen Landstraße halten zu lassen. Ich schlug also den Brief wieder zusammen bis auf ein andermal: als ich ihn aber an seinen vorigen Ort bringen wollte, schob sich etwas dazwischen, das ich für ein Schnallenfutteral hielt. Die sind doch nicht auch etwan von Brillanten? dachte ich, häkelte den Deckel auf, und Himmel und Hölle! und »Halt – halt, Postillon!« rief ich, »ich muß an die Luft. – Fahrt langsam fort – ich werde nachkommen.« – So sprang ich heraus, blieb an der Straße stehen wie ein Meilenzeiger, und staunte lange vor mich hin, eh ich bemerkte, daß Bastian neben mir stand und mich ängstlich beobachtete. »Warum«, fragte ich ihn mit hinfälliger Stimme, »bist du nicht sitzen geblieben?« – »Ach, lieber Herr, weil ich glaubte, es sei Ihnen etwas Gefährliches zugestoßen.« – »Das ist es auch, Bastian, so ein unerwarteter Anblick – – ich glaubte, der Schlag würde mich rühren. – Da sieh selbst zu, ob ich recht gesehen habe! Erkennst du – – –« – Bastian warf, wie er den Deckel des Futterals zurückzog, funkelnde Augen auf das Miniatur-Gemälde, das er hier erblickte, und schien sich und mich und die ganze Welt darüber zu vergessen. – »Nun?« fragte ich nach einer Weile. – »Ach, wunderschön!« rief der junge Bursche. »Ich bin zwar nicht so glücklich weiter etwas von dem Porträt zu kennen – als das Gesicht; wenn aber alles an der lieben Mamsell so treffend gemalt ist als das, so habe ich in meinem Leben nichts Gleicheres gesehen. – Armes Klärchen!« fuhr er lächelnd fort, »der Tag ist schwül – wie behaglich mag es dir vorkommen, so allein zu sein und sich zu lüften! – Ach, wie würdest du zusammenfahren, wenn du wüßtest, daß dich ein Maler belauschte. – Der Schalk! Gewiß hatte er sich neben dir eingemietet, wie wir, guckte durchs Schlüsselloch, zeichnete, pinselte, ohne Atem zu holen, und hat dich nun – ach Gott und wie? über und über verraten! – Lieber Herr! sagte ich es denn nicht schon vor acht Tagen, wie ich das schöne Kind zuerst am Fenster sah, nichts weiter sah als das Köpfchen – daß es ein Engel wäre? Und kann wohl ein, ich frage Sie auf ihr Gewissen, ein Cherubim reiner und durchsichtiger glänzen, als diese unvergleichliche Figur?«
Jetzt merkte ich erst, wie unrecht ich tat, den feurigen Jüngling mit der ganzen unverhüllten Gestalt dieses Engels bekannt zu machen, denn ob ich gleich noch vor kurzem in meinem Tagebuche dieser Art Kabinetts-Malerei das Wort sprach, so setzte ich doch, wie du weißt, gewisse Bedingungen voraus, unter denen sie allein von Nutzen sein könne; und diese fielen freilich ganz bei meinem guten Bastian weg. Es ward ihm unglaublich schwer, sich von der schönen Ware zu trennen, die ihm hier, vermutlich zum ersten Male, zur Schau vorgelegt wurde. Es gehören freilich mehr Jahre und andere Erfahrungen dazu, als die seinigen waren, um über diesen Prunk der Natur gleichgültig hinweg zu gaffen.
»Aber wie konnte Sie das schöne Bild so erschrecken?« fragte Bastian, indem er es mir mit einem Seufzer zurückgab. – »Wie es das konnte?« antwortete ich ziemlich verlegen: »weil ich, wie du schon gehört hast, an nichts, was in Avignon lebt und webt, erinnert sein will, am wenigsten an ein Geschöpf, das der hohen Schönheit nicht wert ist, mit der es die Natur beschenkt hat.« – »Ach, bei allen den Fehlern des Originals, bei allem, was Sie dem guten Kinde Schuld geben,« antwortete Bastian, »wird doch gewiß jedermann so ein Bild gern sehen, und es ist wohl glücklich, daß Sie gestern der Prophetenwirt auf die Spur des Eigentümers gebracht hat! Er wird sich nicht wenig freuen wenn er es wieder erhält!« – »Ja, ja,« sagte ich, »er hat es teuer genug erkauft, und bezahlt noch daran.« – »Was muß sein Kammerdiener für ein alberner Mensch sein!« fuhr der meinige listig fort. »Wenn mir so etwas zum Aufheben anvertraut würde, ich wollte gewiß das sorgfältigste Auge darauf haben.« – »Oh, ich kenne deinen Diensteifer,« antwortete ich lächelnd: »aber jetzt hast du Bewegung nötig; lauf nach dem Wagen und laß ihn halten.«
Nun war ich allein, konnte nun, wie ich so gern tue, meine Empfindungen gegen mich laut werden lassen, konnte nach Belieben mit den Füßen stampfen und in die Luft reden, ohne daß jemandem hinter oder neben mir Angst werden, oder daß er mich fragen durfte: Was fehlt Ihnen? – »Ein heimtückischer Streich!« rief ich, und warf grelle Augen auf die Miniatur. »Abscheulich schönes Geschöpf. wie weit glaubte ich mich schon von dir und deinem Andenken entfernt, während sich dein Bild, großer Gott! an meinem beängsteten Herzen erwärmte, und sich nun auf einmal so reizend und unverschämt meinen Augen darlegt, wie es deine Kasuisten erlauben! Konnte der Zufall«, fragte ich bitter, »keinen andern Boten auftreiben als mich, um das Gemälde dieser heiligen Buhlerin über die Grenze zu bringen?« – Einen Augenblick war ich entschlossen, es an einem Stein zu zermalmen. Die Ehrfurcht für die Kunst allein, die Achtung für fremdes Eigentum, hielten mich ab. Nun, so will ich denn wenigstens, dachte ich, dieser Kreatur, ob sie gleich sonst nicht verdient, die Feder eines rechtlichen Mannes zu beschäftigen, ein Monument setzen, und ihrem Bilde eine Warnung anhängen, die seine blendenden Farben so gut wie vernichten, und den lüsternen Herren, denen es nach mir unter die Hände kommt, die Lust schon benehmen soll, das Original aufzusuchen. Ich hoffe, die keuschen Musen, wenn sie wirklich keusch sind, sollen es mir vergeben, daß ich dem Rücken dieser Heiligen den Stempel ihres Lebens zum Korrektiv ihres verführerischen Anblicks aufdrücke. Eine widrige Beschäftigung! ich gestehe es gern; da sie aber nur dahin zielt, den Lieblingen meines Herzens, den jungen Unerfahrnen, denen, wie meinem armen Bastian, die Natur so heftig zusetzt, daß sie darüber alles verhören, was ihnen die Sittlichkeit vorpredigt – die Augen über diesen kasuistischen Kontreband zu öffnen; so ist die Frage, ob in dem ganzen Martial ein einziges so gemeinnütziges Epigramm steht, als das meinige hoffentlich werden soll.
Unter diesem Selbstgespräche setzte ich mich, ohne weiter zu zweifeln, ob ich auch diesen Ehrenplatz verdiene, in den Schatten eines Lorbeerbaums, der nicht weit von dem Wege stand, spitzte meinen Silberstift und schrieb nun auf die Rückseite des elfenbeinernen Blattes folgende Adresse an die Vorderseite, wobei ich nicht viel andres tat, als die Herzensbewegungen meines guten Bastians getreu zu übersetzen, und am Ende ein kurzes Sapienti sat beizufügen:
Ach, welch ein Engel setzt hier mir Herz und Augen in Brand! Wirft nicht ein Spiegel, wie der, uns den verlornen Stand Der Unschuld wieder zurück? Baut dort in schattiger Lage Nicht noch die Tugend ihr Nest, wie seit dem ersten Tage, Als Gott ihr stolzes Gefühl mit einem Kleinod verband, Für das, der alles genannt, doch keinen Namen erfand? Dein Aug' in Ehren, doch, Freund, vor der Entscheidung der Frage Leih' erst dein prüfendes Ohr der tausendzüngigen Sage. Dies Wunder Gottes, spricht sie, so weit das Aug' und die Hand Es zu begreifen vermag, steh' als ein eisernes Pfand, Gleich andern Wundern der Welt, in Mönchs- und Pfaffenbeschlage, Und – doch bedarf es wohl noch, daß ich um Worte mich plage? Was dir ein Engel verspricht, mit solchen Geistern verwandt, – Flieh die Erfahrung – versteht sich ohne Glossen am Rand. |
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Sobald ich die Schöne mit dieser Aufschrift gebrandmarkt und mein Mütchen gekühlt hatte, ward ich ruhig und heiter, wie ein Mann nach einer getanen mühseligen Pflicht, steckte das Bild in die Schreibtafel und schwur, es nicht wieder vor meine Augen zu bringen. So gar lange wird es ohnedies nicht in meiner Verwahrung bleiben; denn schwerlich möchten die Ärzte in Montpellier den rechtmäßigen Eigentümer vorher entlassen, eh' ich hinkomme, wiewohl er ohnehin dies Souvenir nicht so gar nötig haben wird, um sich lebhaft an sein Liebchen zu erinnern.
Während des Hingangs nach meinem Wagen überlegte ich, wie ich die vielen Tage, die ich durch meinen abgekürzten Aufenthalt in Avignon gewonnen hatte, um vieles nützlicher in der Hauptstadt der Provence anwenden wollte, nahm meinen geographischen Wegweiser zu Hülfe, überlas alle die Merkwürdigkeiten, die er mir dort versprach, und freute mich herzlich der guten Gesellschaft, die, seiner Versicherung nach, dort so einheimisch sein soll, als es in Avignon die schlechte ist. Mit diesen Gedanken beschäftigt, erreichte ich meinen Wagen, und eine Stunde nachher die Stadt [Aix] . . .
. . . Ihr habt doch noch nicht abgepackt? rief ich meinen Leuten entgegen, die an der Türe des Gasthofs auf mich warteten. – Noch nicht, antworteten sie. – Nun, so laßt in diesem Augenblicke anspannen.
Ich trat unterdes in das Speisezimmer und fand die Tafel gedeckt, um die schon einige geistliche Herren in hungriger Erwartung herschritten. Der Wirt war ganz betroffen, als er meinen sonderbaren Befehl hörte, überreichte mir den Küchenzettel und zählte mir alle seine Weine an den Fingern her; da aber auch das nicht verfangen wollte, fragte er mich, ob ich denn schon bei den Kapuzinern das unüberwindliche Kruzifix, die Manufaktur der Makaroni und die Sammlung der Reliquien bei den Nonnen der Heimsuchung Maria gesehen hätte, die einzig in ihrer Art wäre? – Kein Reisender würde es so leicht verabsäumen, der nur einen Gran – – – »Sollte sich wohl«, unterbrach ich ihn geschwind mit der Gegenfrage, »der zweite Kniegürtel der Mutter Gottes darunter befinden?« – »Kann wohl sein,« antwortete der Wirt, »denn die Sammlung ist die vollständigste in der ganzen christlichen Welt.« – »Aber warum fragen Sie eben nach dem zweiten?« fiel ein junger Abbé ein. – »Weil der eine«, erwiderte ich, »vorige Woche in Avignon versteigert wurdet – »Und wer ist denn so glücklich gewesen, ihn zu erstehen?« fuhr er mit sichtbarer Neugierde fort. – Daß man es doch nicht lassen kann, auch in unbekannter Gesellschaft, und wäre sie noch so schal, sich eine wichtige Miene zu geben! »Ich, mein Herr,« warf ich mit vornehmer Gleichgültigkeit hin, und zog mir darüber den ganzen Troß auf den Hals. – Der eine wollte wissen, wie hoch er mir zu stehen käme? der andere, aus welchem Stoff er bestände? und ein dritter bat sich die Gefälligkeit aus, ihm solchen zu zeigen. Ich bedauerte unendlich, daß er nicht mehr in meinen Händen sei. Da das kostbare Stück von der Toilette einer Dame herrühre, habe ich für billig gehalten, es wieder an eine zu bringen, die sich aber, wenn die Herren nach Avignon kommen sollten, gewiß ein Vergnügen daraus machen würde, es ihnen vorzulegen. – »Und ihre Adresse um Vergebung?« riefen zwei zugleich, und einer so hastig als der andere. Wäre die meinige, die du oben gelesen hast, nicht deutsch gewesen, und hätte ich es nicht verschworen, mir das Bild wieder unter die Augen zu bringen, wer weiß, was ich getan hätte! Unstreitig etwas ganz Überflüssiges – denn kaum, daß ich ihnen geantwortet hatte: Es ist eine junge Heilige, namens Klara, so fingen sie alle zugleich an, mir in das Gesicht zu lachen. – »Oh, meine Herren,« stimmte ich mit ein, »wie ich sehe, ist Ihnen das fromme Mädchen so gut bekannt, als mir selbst, und so habe ich Ihnen denn auch weiter nichts zu sagen.« – Sie setzten sich nun mit großer Lustigkeit zu Tische, die ich ihnen von Herzen gönnte, und ich steckte zu einiger Entschädigung des Mittagsmahls, da es doch sehr wahrscheinlich war, daß ich es ungenossen würde bezahlen müssen, das Brot von dem Kuverte ein, das für mich hingelegt war. – »Da tun Sie wohl,« winkte mir der Wirt zu, »denn in Marseille ist es kontreband.« – »Und warum das?« fragte ich. – »Weil dies Produkt unsrer Gegend, wie Sie auch selbst finden werden,« antwortete er, »so vorzüglich gut ist, daß es uns die reichen Marseiller verteuern würden, wenn die Ausfuhr davon erlaubt wäre. Indes können Sie doch bei meinem Vetter, dem Wirt im heiligen Geiste,« flüsterte er mir in das Ohr, wie er mich an den Wagen begleitete, »täglich so viel davon bekommen, als Sie nur wollen, wenn es Ihnen einerlei ist, es unter einem andern Namen zu essen.« – »Es wird doch nicht eingesegnet?« sagte ich lächelnd, dankte ihm für die gute Anweisung, die er mir gab, fuhr nun um vieles besser gestimmt durch die leeren Gassen, und hoffentlich zum letztenmal bei dem dummen Minoritenkloster vorbei [dem lustigen Marseille zu] . . .
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Ich flog, wie ich nur erst die Vista erreicht, und die große Handelsstadt und den Spiegel des Meers vor mir liegen hatte, durch das reizendste Land, das sich die schwelgerischste Einbildungskraft nicht schöner zu malen imstande ist. Schade nur, daß es nicht unter dem Zepter des großen Freigeists steht, wie jene geweihten Zwerge ihn schimpfen! Wie würde Friedrich dieses Feuer der Natur, dieses fruchtbare Klima, diese Weizenfelder und Ölgärten, und die Kräfte dieser bräunlichen lebhaften Menschen benutzen, die jetzt bald von diesem, bald von jenem verdammten Heiligen ihrem Tagewerke entrissen und, in Prozessionen zusammengetrieben, aus einem Narrenfeste in das andere zu Grabe gehetzt werden!
Das stärkende Brot, unerachtet ich keinen Brocken davon verstreute, konnte mich doch nicht ganz über die Besorgnis beruhigen, daß ich Marseille nicht zeitig genug erreichen würde, um in dem heiligen Geiste noch einen gedeckten Tisch zu finden. Ich betrog mich zu meinem Vergnügen. In einer Seestadt, wo kein Wind bläst, der nicht den Speisewirten einen Trupp Ausgehungerter zuführt, finden alle Nationen, zu allen Zeiten des Tags und in jedem Gasthofe, die Einrichtung einer Feenwirtschaft. Unzählige dienstbare Geister nehmen den Ankömmling in Empfang. Immer fertige Gerichte rauchen ihm entgegen, und keiner verläßt den Speisesaal, der nicht in seinem Klauderwelsch Gott für die sinnliche Freude der Sättigung, und für das bängliche Leben dankt, das er ihm wieder um einen Tag fristete. Um wie viel klüger kam ich mir vor, daß ich mich weder durch den Hunger, noch durch die Tischgesellschaft in Aix hatte verführen, und um den mannigfaltigen physischen und geistigen Genuß betrügen lassen, den mir hier eine neben dem Weltmeere errichtete Tafel – den mir die verschiedenen Sitten, Trachten, Gesichter und Zungen versprachen, die das erste menschliche Bedürfnis um mich herum aneinander reihte! . . .
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Ich konnte mich von dem angenehmen Schauspiele dieser Tafelrunde nicht trennen, selbst da meine Rolle dabei gespielt war. Ich blieb noch immer ritterlich daran sitzen, und erlauerte dadurch ein Vergnügen, das ich seit meiner Reise entbehrt, und auf das ich in diesem Augenblicke am wenigsten gerechnet hatte. Denn eben als ich mich insgeheim über den blinden Nationalstolz und über das Vorurteil eines Spaniers lustig machte, der uns allen beweisen wollte, daß die Mandeln zu Cadix weit voller und schmackhafter wären, als die hiesigen, erschienen zwo junge, artige Damen mit einem ältlichen Mann an der Seite, warfen fröhlichen Muts ihre Staubmäntel ab und setzten sich nach der Anweisung der frischen Kuverts, die der Wirt für sie hinlegte, in meine Nachbarschaft. Je näher sie kamen, desto weißer schien mir ihre Haut, desto glänzender ihre Augen, desto gütiger ihre Blicke zu werden: aber sie entzückten mich erst über die Maßen, als ich sie gegeneinander sprechen hörte; denn sie sprachen – deutsch. Nun habe ich immer geglaubt, es erfordere schon die allgemeine Achtung gegen das schöne Geschlecht, daß man nie ein paar Mädchen fortschwatzen lasse, in dem Falle, daß man ihre Sprache versteht, ohne sie in Zeiten von diesem Umstande zu benachrichtigen. Ich tat es daher auch jetzt. Es standen frische Erbsen vor mir, ich bot sie der mir nächsten mit der Anmerkung an, daß dieses Gericht für Deutsche etwas sehr Neues vom Jahre wäre. – »Ganz gewiß,« antwortete sie; »unter vier Monaten würden wir«, du kannst denken, wie ich überrascht wurde, »schwerlich in Berlin welche geschmeckt haben.« – »Wie, meine liebe Nachbarinnen?« fuhr ich lebhaft fort. »Sie sind Berlinerinnen?« – »Das sind wir,« versetzte sie lachend: »wundern Sie sich darüber?« – »Freilich sollte es mich wundern,« antwortete ich, »daß ich erst ein paar hundert Meilen von Hause so ausgezeichnete Landsmänninnen kennenlerne.« – Hier drehte sie sich lustig nach der andern Seite: »Schwester, der Herr will mir weiß machen, er wäre von Berlin; melde es doch dem Vetter, der versteht sich besser aufs Examinieren, als ich.«
Ich bog mich etwas vorwärts, um den Herrn in das Gesicht zu fassen, und fand die Anspielung seiner schönen Nichte sogleich nur zu deutlich erklärt; denn diese Physiognomie konnte niemanden angehören, als einem Visitator, und es fand sich auch nachher, daß ich richtig gesehen hatte. Mir war jedoch jetzt mehr daran gelegen, seiner reizenden Nichte, als ihm, mein Indigenat zu beweisen; ich fing es aber am unrechten Flecke an. Ich nannte ihr alle meine Berliner Freunde und Bekannten; aber leider gehörte keiner davon zu den ihrigen, und von allen den stolzen Namen, mit denen ich das Maul voll nahm, war auch nicht einer von ihrer Bekanntschaft! Selbst von dir, lieber Eduard, hatten sie nie gehört, so schön sie auch waren. Ich war trostlos. Indes schien mir noch nicht alles verloren. – »Nennen Sie mir,« sagte ich, »nur einige Personen aus Ihrem Zirkel; es müßte nicht gut sein, wenn wir nicht am Ende zusammentreffen sollten.« – Aber da ging es eben so unglücklich. Ich wußte ihr auf keine ihrer höhnischen Fragen, weder wo der Monddoktor wohne, noch wen die alte Sibylle auf dem Johannismarkte geheuratet habe, noch auf andere dergleichen Dinge, womit sie mich in die Enge trieb, den geringsten Bescheid zu geben, und ich sah wohl, daß ich so lange bei ihr für einen Prahler gelten würde, bis ich mich durch andere Umstände legitimierte, die besser zu den ihrigen paßten. Ich erbot mich daher, sie nach Tische auf ihr Zimmer zu begleiten und mich dem scharfen Examen ihres Herrn Vetters zu unterwerfen. Sie versicherte mich, daß es ihnen lieb sein würde, setzte bis dahin ihren Verdacht beiseite, und schwatzte nun von allerlei gleichgültigen Dingen, die mir aber gar nicht unwichtig schienen, so lange sie ihr weißes, freies, deutsches Gesichtchen mir zukehrte, in das ich mit wahrer Vaterlandsliebe blickte. Als sich ihr Herr Vetter gesättigt hatte, standen wir alle auf seinen Wink auf; ich bot seinen beiden Nichten den Arm, er schlenderte hinter uns her, und sie hatten nichts dawider, daß ich befahl, uns einige Erfrischungen auf die Stube nachzubringen.
Mein Vorstand bei dem Herrn Vetter war sehr kurz. Nach zwei Worten war er von der Wahrheit meines Vorgebens überzeugt, ich erhielt Ehrenerklärungen von den Damen, und wurde nun mit gegenseitiger Freude für ihren Landsmann erkannt; denn in einer je größern Entfernung von der Heimat man einen Mitbürger findet, desto lieber wird er uns. Es ist, als ob der Gedanke eines gemeinschaftlichen Vaterlandes erst außerhalb desselben Stärke bekäme. Die äußern Verhältnisse, wodurch er dort nur zu leicht geschwächt wird, verlieren ihren Druck durch die Weite des Wegs. Der Abstand der Vornehmen von den Geringen scheint sich von selbst aufzuheben, wo die Abstufungen fehlen, die den Zwischenraum ausfüllen, und man umarmt sich aus patriotischem Gefühl, ohne lange zu fragen, zu welcher Kaste gehört ihr? Es tat mir so wohl, wieder einmal neben Menschen zu sitzen, die seit ihrer Jugend, wo nicht einerlei Gesellschaft mit mir genossen, doch dieselben Glocken, dieselben Trommeln gehört hatten – den Tiergarten so genau kannten als ich, und, so gut wie ich, gegen Berlin alle andern Städte verachteten, durch die sie gekommen waren. Wir wechselten unsere politischen Bemerkungen, wie unsere eigne Geschichte, auf das traulichste gegeneinander aus. Ich wäre, glaube ich, aus Überfluß des Herzens imstande gewesen, ihnen mein geheimes Tagebuch vorzulesen, wenn es die Zeit erlaubt hätte, und sie waren ebensowenig zurückhaltend gegen mich. Vorzüglich machte sie ein Glück schwatzhaft, das ihnen über dem Meere bevorstand. Die Sache hing so zusammen.
Eine Schwester des Herrn Visitators und Tante seiner beiden Bruderstöchter, die – sagte die eine – in ihrer Jugend bildschön war, hatte in dem Siebenjährigen Kriege einen französischen Proviant-Bedienten geheuratet, der, nach unglaublichen Abenteuern zu Wasser und zu Lande, sich endlich mit ihr in St. Domingo niederließ, sich dort – fiel hier der Visitator ein – erstaunliches Vermögen erwarb, und auf seinem Todbette es seiner Witwe vermachte. Durch die Länge der Zeit war das gute Weib nun auch hinfällig geworden. Sie soll, lispelte die andere Nichte, sehr kränkeln, und kann sich fast gar nichts mehr zugute tun. Ihr vieles Geld kann sie auch nicht mit aus der Welt nehmen. Das bedachte sie, und Gott rührte ihr Herz, daß sie sich noch in Zeiten nach ihren armen Verwandten umsah, und sie mit dem Versprechen zu sich einlud, ihnen ihre Erbschaft zuzuwenden. Der Herr Vetter suchte sogleich, wie er diesen wichtigen Brief erhalten hatte, um Entlassung aus preußischen Diensten an, die er auch auf das allergnädigste erhielt, und reist nun, überflüssig mit Gelde versehen, das ihm seine liebe Schwester von Bankier zu Bankier anwies, mit den beiden einzig übrig gebliebenen Sprößlingen der Familie einem Reichtum entgegen, auf den er, wie er mich heilig versicherte, in seinem ganzen Leben nie rechnen konnte. Indes verschwört es der gute Mann nicht, wenn er bald genug zum Besitze dieser Glücksgüter gelangen sollte, wieder in seine Vaterstadt zurückzukehren; denn er stellt sich es doch als einen großen Spaß vor, sich einmal allen den Augen in einem gewissen Anstande zu zeigen, die ihn von Jugend an nur als einen Lump gekannt hätten.
Ich unterdrückte das Lächeln, zu dem mich diese entfernte Hoffnung des ehrlichen Mannes so kurz vor seiner Hinreise, und die treuherzig wichtige Miene, mit der er sie vorbrachte, nur zu sehr reizten. Der Gedanke ist so natürlich, Eduard: es scheint uns ja allen, so viel wir unser auch sind, das größte Glück fast kein Glück mehr, wenn wir es immer entfernt von unserer Heimat genießen, und nicht die Freiheit haben sollen, unsere alten Bekannten und Schulgesellen damit zu blenden. Ich hörte, wie du aus meiner genauen Wiedererzählung schließen kannst, zum ersten Male einem Visitator mit aufmerksamer Geduld zu; ob ich mich gleich nicht für ebenso verbunden hielt, während er sprach, bei seinen gemeinen Gesichtszügen zu verweilen, da ich die Wahl hatte, meine Augen indes mit zwei andern deutschen Gesichtern zu vergnügen, die freilich nicht so alltäglich waren, als das seinige. Doch ich ward bald genug seiner ganzen redseligen Person los.
Der Kapitän, dem die Witwe zu St. Domingo die Überfahrt ihrer Verwandten als eine Rückfracht verdungen, sowie sie jenen zugleich die Zeit, wo sie mit ihrem Führer zusammentreffen sollten, bestimmt hatte, ließ ihnen jetzt wissen, daß er wegen seiner nunmehr beendigten Geschäfte sie mit ihrer Habe au Bord erwarte, um noch diese Nacht abzusegeln. Mit dieser Nachricht schickte er ihnen zugleich Träger, um die Koffer zu holen. Der arme Visitator und seine Nichten hätten nun wohl gern noch diese Nacht auf festem Boden von ihrer Landreise ausgeruht; da es aber die Umstände nicht erlaubten, so gaben sie sich heroisch darein, und, nachdem er hastig eine Tasse von der Schokolade und zwei Gläser von dem Champagner hinuntergestürzt, die der Kellner für meine Rechnung eben auf den Tisch gepflanzt hatte, so eilte er seinen Koffern nach, versprach seine Nichten abzuholen, wenn es Zeit zur Abfahrt wäre, und überließ uns mit einem freundlichen Winke den Überrest der Kollation.
Das Zimmer kam mir zwar viel aufgeräumter und geputzter vor, als er weg war: doch machte mich das große Zutrauen eines Onkels nicht wenig stutzig, der mich in der Dämmerung, bei solchen Erfrischungen, mit solchen Mädchen allein lassen konnte, die jetzt in der lustigsten Laune von der Schokolade zu dem brausenden Wein übergingen, und abwechselnd, dem festen Lande, wie sie sagten, zur letzten Ehre, trällernd um den Tisch tanzten, bis es für diese Art Leibesbewegung zu dunkel ward. Fürchte aber nur nicht zu sehr für mich, Eduard. Denn, ungeachtet die Gefahr wuchs, als die funfzehnjährige Schwester, nach wohl errungener Müdigkeit, der sechzehnjährigen den Tummelplatz allein überließ und sich mit der Bitte in das anstoßende Kabinett begab, sie möge sie ja nicht eher wecken, bis es die höchste Not sei – und, ob ich dir auch gern gestehe, daß ich in einem gefährlichen Augenblicke vorher, wo die erhitzten Schönen ihre Halstücher abwarfen, und mir nur desto vorteilhafter in die Augen fielen, mir insgeheim die spitzfindige Frage vorlegte, ob nicht der strengste Sittenrichter – auf den zwar traurigen, aber doch möglichen Fall, daß diese Rosenknospen auf dem Meere verloren gingen – mir die wenigen im Raub gepflückten Blätter immer noch lieber gönnen würde, als einem Haifische? – und ob es gleich nicht dunkler werden konnte, als die noch muntere Schwester einen Sitz neben mir auf dem Kanapee einnahm und mich launisch aufforderte, ihr die Seekrankheit, vor deren neuer Bekanntschaft sie sich am meisten fürchte, aus dem Kopfe zu treiben: so schützte mich doch – und ich setze es dankbar auf die Rechnung des vielen Guten, das sich daher entspann – die Erfahrung der vorigen Woche vor jedem kasuistischen Gedanken. Ich nahm vielmehr von unserer baldigen Trennung Gelegenheit, dem schönen Geschöpfe, das neben mir saß, noch einige gute Lehren mit auf den Weg zu geben.
»Ihre Bekanntschaft, meine lieben Landsmänninnen,« sagte ich mit rührender Stimme, »hat mir meinen heutigen Tag recht wert gemacht, und es wird mich herzlich freuen, wenn ich erfahre, daß es Ihnen in der Entfernung wohl geht. Bald eilen Sie nun auf den Flügeln des Windes einem Lande des Wohllebens und der Freude entgegen. Mit so vielen Reizen geschmückt, als Ihnen beiden die Natur gab, werden Sie dort mehr Aufsehen machen, als selbst in Berlin; und dort, wo bewahrte Unschuld, mit Schönheit verbunden, ungleich seltener ist als Reichtum, wird gewiß bald eine glückliche Ehe – auf die Sie in unserer verarmten Vaterstadt noch lange, vielleicht vergebens, hätten warten müssen, Ihr Teil werden. Es muß auch von nun an Ihr einziges Ziel sein, lieben Kinder. Denken Sie, wenn Sie es erreichen, und mit dem stolzen Bewußtsein einer unbefleckten Tugend die Freuden der Liebe ernten, die Sie zu geben und zu nehmen bestimmt sind – denken Sie dann an das Wahre und Uneigennützige meiner Vermahnung. Erinnern Sie sich, in welcher für Sie und mich gefährlichen Stunde ich sie Ihnen an das Herz legte – in der Stunde unsers Abschieds – unter der Einladung der Nacht – während der fröhlichsten Stimmung Ihres Bluts, das Sie, wenn ich es sagen darf, meine lieben Kinder, ein wenig leichtsinnig durch unbekannte hitzige Getränke in eine Wallung gebracht haben, die der Aufmerksamkeit auf uns selbst nur zu nachteilig ist.« –
Es ging mir zwar hier wie manchem andern Prediger. Die eine Hälfte des Auditoriums, an das meine Rede gerichtet war – schlief, und die mögliche Erbauung der andern – mußte ich Gott anheim stellen. Indes hätte ich doch um vieles nicht der Hülfe entbehrt, die ich mir gegen meine eigene Zerstreuung dadurch leistete, daß ich meinen Vortrag an eine Seele mehr richtete, als mir zuhören konnte. Diese Kleinigkeit benahm der Dunkelheit, die uns umgab, alle Gefahr; denn ich weiß nicht, ob ich mich so deutlich und ohne Stocken über den Wert der Tugend würde erklärt haben, wenn ich an die Bequemlichkeit meiner Kanzel, in Verbindung mit dem lieben Kinde, so einzeln, wie es neben mir saß, und entfernt von seiner Schwester, gedacht hätte, die, wie du gehört hast, nicht eher gerufen sein wollte, als » bis es die höchste Not wäre«. Doch da dieser Sinnenbetrug, wie ich wohl merkte, in die Länge nicht dauern konnte, so ließ ich es mit dieser kurzen Probe genug sein.
»Hum!« sagte ich zum Schluß, »ungerufen, sehe ich wohl, ist es im heiligen Geiste nicht hergebracht, daß man den Passagieren Licht bringt.« Ich griff nach dem Schellenzuge. – Die Schnur lag straff, und um sie ziehen zu können, suchte ich die Quaste. Aber gütiger Gott! wohin hatte die sich versteckt, und wie erschrocken fuhr meine Hand zurück! Ich bat das schöne Mädchen tausendmal um Verzeihung; aber, kannst du es glauben? sie hörte mich nicht. Das müde Kind war, trotz meiner Predigt, so tief eingeschlafen, wie in der Kammer die Schwester, und machte mir jetzt keine kleine Angst. Da sie gerade unter der Klingel saß, so war es zwar sehr begreiflich, wie die seidene Trottel, durch ihr Köpfchen gehoben, bei der geringsten Bewegung dahin gleiten konnte, wo ich sie fand; aber wie sollte ich sie nun aus der Klemme bringen, in die sie geraten war? und ich brauchte doch Licht. Da war nun weiter nichts zu tun; ich mußte mich aus der Verlegenheit ziehen, wie es möglich sein wollte. Ich fingerte auf das behutsamste und ward endlich der Quaste habhaft, die so warm war als die Hand, mit der ich sie faßte, und nun stürmte ich in die Klingel. Sogleich stürzte der Aufwärter mit zwei Kerzen herein. Ich wollte schmählen – »Oh, sie brennen schon lange,« entschuldigte er sich, »aber wir wagen nie, eher Licht zu bringen, als es die Herren verlangen.«
Alles das Geräusch konnte die schlafende Schöne nicht erwecken. – Es war wahrlich eine scharfe Kritik auf meine Predigt. – Ich trat ihr endlich mit den Lichtern unter die Augen, nahm jedoch mit Vorbedacht in jede Hand eins – aber sie rührte sich nicht. Dagegen konnte ich sie desto aufmerksamer betrachten. Es war zum Malen, wie fest der sanfte Schlaf die braunen Augenwimpern zusammendrückte, ein feines Lächeln um den Mund, Karmin um die Wangen zog, und mit kurzen Atemzügen eine Brust hob, bei der sich niemand verwundern durfte, daß die Quaste so fest lag. Ich überließ mich dem Vergnügen dieser süßen Beschauung ohne Bedenken, denn durch die Schokolade, den Wein und durch meine Predigt, die zusammen das Mädchen einschläferten, hatte ich es ehrlich bezahlt. Genau genommen, ging auch diese – ob sie gleich keine lebendige Seele vernahm als meine eigene, deshalb nichts weniger als verloren; denn ungerechnet, daß man sich selbst nicht ungern hört, ward es jetzt nur zu sichtbar, wie erbaulich sie auf mich zurückgewirkt hatte. Ich war mit mir zufrieden, hatte, unter dem Schutze des heiligen Geistes, Kirche, wo nicht für andere, doch für mich gehalten; und ich lasse mir es nicht abstreiten, daß jenes großmütige Gefühl meiner warmen Hand, das ich mit der seidenen Quaste zurückbrachte, mehr Verdienstliches hat, als die paar Groschen, die ein Geizhals in den Klingelbeutel wirft, und sich wunder etwas darauf einbildet.
Ich setzte nun die beiden Lichter, nach dem angenehmen Dienste, den sie mir geleistet hatten, wieder auf den Tisch, und mich mit der heitersten Ruhe an das Fenster. Als ich aber den Mond in den dunklen Wolken über dem Meer hängen sah, und die jetzige Sicherheit der guten Kinder unter meiner Wache mit den Gefahren verglich, denen sie so unbefangen entgegen schliefen, – da, Eduard, war mir ganz bänglich ums Herz, und es überfiel mich ein Frost, so oft ein Lärm im Hause vermuten ließ, man würde sie nun wecken und zu ihrer Bestimmung abrufen. Indes verging noch eine glückliche Stunde für sie, bis zur Mitternacht.