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Erstes Buch.
Die frühe Jugend des Henry Esmond bis zu der Zeit, da er Trinity College in Cambridge verläßt

Die Schauspieler in den alten Tragödien trugen ihre Jamben nach einer Melodie vor, wie wir lesen, sie sprachen durch Masken und trugen Stelzen und einen großen Kopfputz. Man fand, daß die Würde der tragischen Muse ein solches Zubehör forderte, daß man sie nicht anders sprechen lassen durfte als in Takt und Versmaß. So mordete die Königin Medea ihre Kinder zu den Klängen einer getragenen Musik, und als König Agamemnon umkam, »tödlich gefällt« (um Herrn Drydens Worte zu brauchen), da stand der Chor dabei in gefaßter Haltung und beklagte rhythmisch und feierlich die Geschicke dieser großen gekrönten Häupter. Die Muse der Geschichte hat sich mit Zeremonien beschwert, so gut wie ihre Schwester vom Theater. Auch sie trägt Maske und Kothurn und spricht im Takt; auch sie beschäftigt sich noch heutigentags nur mit den Angelegenheiten der Könige und bedient sie unterwürfig und würdevoll, wie eine Oberhofmeisterin, die nichts zu schaffen hat mit den Angelegenheiten der gewöhnlichen Leute. Ich habe noch den alten König Ludwig den Vierzehnten von Frankreich auf der letzten Staffel des Greisentums und der Abgelebtheit gesehen – dieses Sinnbild und Muster alles Königtums, der sich nur rhythmisch bewegte, der nach den Gesetzen seiner Hofmarschälle lebte und starb und in seiner Heldenrolle beharrte bis zuletzt –, und ohne die Dichtung war er nur ein kleiner alter Mann mit Pockennarben, einer mächtigen Perücke auf dem Kopf und roten Absätzen an den Schuhen, die ihn größer scheinen lassen sollten, vielleicht ein Held für ein Buch, für ein bronzenes Standbild, ein Deckengemälde, eine römische Götterstatue, im Grunde aber nichts als ein Mann für die Frau von Maintenon, für den Barbier, der ihn rasierte, oder für Herrn Fargon, der ihn zur Ader ließ. Ob wohl die Geschichte je die Perücke absetzen wird, ob sie je den Schranzenstandpunkt vergessen wird? Werden wir einmal etwas von Frankreich und England zu sehen bekommen außer Versailles und Windsor? Ich sah dort die Königin Anna, wie sie die Parkhänge hinunterstürmte, das Pferd ihres kleinen Wagens lenkend, hinter den Spürhunden her – ein rotes, erhitztes Weib, nicht entfernt ihrem Standbild ähnlich, das seinen steinernen Rücken der Kathedrale von St. Paul zukehrt und sein steinernes Antlitz dem mühsam sich aufwärts schiebenden Wagengewühl von Ludgate Hill. Sie war weder klüger noch gebildeter als du und ich, und doch knieten wir, wenn wir ihr einen Brief oder ein Waschbecken reichten. Warum aber soll die Geschichte knien bis ans Ende der Zeiten? Mir scheint, sie soll sich von den Knien erheben und eine natürliche Stellung einnehmen, statt weiter den Rücken zu krümmen wie ein Kammerherr und sich rückwärts aus der Tür zu schieben, wo ein Herrscher zugegen ist. Kurz, ich hätte die Geschichte lieber bürgerlich als heroisch, und ich bin überzeugt, daß Herr Hogarth und Herr Fielding unsern Kindern eine viel richtigere Vorstellung geben werden von den englischen Sitten unsrer Zeit als alle Zeitungen und Berichte, die uns vom Hofe kommen.

Wir hatten einen deutschen Offizier bei Webb, mit dem wir Scherz zu treiben pflegten und dem die Armee eine Geschichte glaubte (ich selbst hatte sie erfunden), er wäre der älteste Sohn des erblichen kaiserlichen Großstiefelausziehers und der Erbe dieser Würde, die der Stolz seiner Vorfahren gewesen. Denn zwanzig Generationen dieses Geschlechts hätten die Ehre eines kaiserlichen Fußtritts erfahren, jeweils von dem Fuß, von dem sie nicht gerade den Stiefel zogen. Der alte Lord Castlewood, dessen Familienchronik dies Buch zum Teil enthält, soll viel stolzer auf sein Amt bei Hofe gewesen sein (als Obermolkenmeister und Aufseher der königlichen Speisekammern) als auf den Ruhm seiner Vorfahren. Ja, so hoch schätzte er die höfischen Würden, daß er sich fröhlich zugrunde richtete für das undankbare, verschwenderische Geschlecht, das sie ihm verliehen hatte. Sein Blut aber war ebenso alt wie das der Stuarts, denen er diente; denn was die Herkunft angeht, so sind die nicht edler als ein Dutzend englischer und schottischer Familien, die ich mit Namen nennen könnte. Der alte Herr versetzte sein Silbergeschirr für König Karl den Ersten, verpfändete seinen Landbesitz und verlor den größten Teil davon durch Geldbußen und Beschlagnahmen. Ireton belagerte und stürmte sein Schloß, wo sein Bruder Thomas, was er ihm nie vergab, kapitulierte und sich mit dem Feinde verglich, und wo sein zweiter Bruder Edward, ein Geistlicher, als pflichttreuer Seelsorger und Kanonier bei der Verteidigung fiel. Der beherzte alte Royalist, der beim König ausharrte, während sein Haus in Trümmer fiel, floh mit seinem einzigen Sohn, der damals noch ein Knabe war, ins Ausland; er kehrte mit ihm zurück, um bei Worcester zu fechten, und nachdem in dieser verhängnisvollen Schlacht Eustace Esmond getötet worden war, ging er wieder in die Verbannung. Auch späterhin, nach der Restauration, verließ er niemals den Hof des Königs (für dessen Heimkehr wir dem Höchsten im Gebetbuch danken), des Königs, der sein Land verkaufte und sich von Frankreich bestechen ließ.

Welches Schauspiel ist erhabener als das eines großen Königs in der Verbannung? Wer ist würdiger der Verehrung als ein tapferer Mann im Unglück? Herr Addison hat eine solche Gestalt gezeichnet in seiner edlen Tragödie »Cato«. Aber denkt euch den fliehenden Cato, wie er sich in einer Schenke betrinkt, auf jedem Knie eine Dirne, dazu ein Dutzend treuer betrunkener Unglücksgenossen und ein Wirt, der nach seinem Gelde schreit: da ist es aus mit der Würde des Mißgeschicks. Die Muse der Geschichte wendet sich schamhaft von dem pöbelhaften Schauspiel; sie kehrt dem Verbannten, seinen Bechern und Pfeifen, den Kneipgesängen, die er mit seinen Freunden johlt, den Rücken und schließt die Tür, auf der seine unbezahlte Zeche angekreidet steht. Ein Mann wie Karl hätte einen Ostade oder Mieris zum Hofmaler haben müssen. Eure Knellers und Le Bruns können nur plumpe, sinnlose Allegorien malen; und es ist mir immer als eine Entweihung erschienen, den Olymp für eine so weinbefleckte Gottheit heraufzubeschwören.

Über des Königs Gefolgsmann, den Viscomt Castlewood, der seines Sohnes beraubt war, zugrunde gerichtet durch seine Treue, bedeckt mit so manchen Narben und Spuren der Tapferkeit, alt und des Landes verbannt, sollten seine Verwandten, denke ich, lieber schweigen. Wenn dieser Patriarch einmal im Rausche hinfiel, so sollten sie nicht pfui! über ihn rufen noch die Vorübergehenden heranholen, um über sein rotes Gesicht und seine weißen Haare zu lachen. Muß denn ein Strom, der rein und klar aus dem Felsen sprudelt, durch liebliche Wiesen dahinrollt, glänzende Nebenarme auswirft und speist, in einer schmutzigen Dorfgosse enden? Manches Leben, das edel beginnt, endet nicht besser. Der Betrachter sollte über solche Lebensläufe nicht ohne Scheu und Ehrfurcht sinnen, wenn er den Wendungen ihrer Geschichte nachspürt. Ich habe im Leben zuviel vom Erfolg gesehen, um noch den Hut zu ziehen und ihm zuzujubeln, wenn er in goldner Kutsche vorbeifährt; ich würde auch ein Wörtchen reden mit den Nachbarn meinesgleichen, daß sie nicht in allzu großäugiger Bewunderung gaffen oder allzu laut ihren Beifall rufen. Ist es der Bürgermeister von London, der mit Gepränge zum Festmahl und zum Mansionhouse fährt? Ist es der arme Jack von Newgate, mit Sheriff und Henker, die ihn nach Tyburn geleiten auf seiner letzten Fahrt? Ich schaue in mein Herz und denke, so gut wie der Bürgermeister bin ich auch, und weiß, ich bin geradeso schlecht wie der arme Jack. Gebt mir eine Kette und einen roten Talar und tischt mir einen Pudding auf, so will ich euch die Rolle des Ratsherrn aufs beste spielen und will nach dem Essen über Jack das Urteil fällen. Laßt mich hungern, haltet mich fern von Büchern und ehrlichen Menschen, erzieht mich zu Würfeln, Branntwein und Ausschweifung, setzt mich auf die Heide von Hounslow und laßt einen Geldbeutel in der Nähe sein – ich werde ihn nehmen. »Und man wird dich verdientermaßen hängen«, sagt ihr, in dem Wunsch, diesem langweiligen Gerede ein Ende zu machen. Ich sage nicht nein dazu. Ich kann die Welt nur hinnehmen, wie ich sie nun einmal vorfinde, den Strick mit einbegriffen, solange er Mode ist.

Erstes Kapitel
Berichtet, wie Francis, der vierte Graf, in Castlewood einzieht

Als Francis, der vierte Graf Castlewood, im Jahre 1691 die Erbschaft seines Namens antrat und bald darauf von seinem Schlosse Castlewood in der Grafschaft Hants Besitz ergriff, da war außer der Dienerschaft fast der einzige Bewohner des Hauses ein Junge von zwölf Jahren. Um den schien sich niemand zu kümmern, bis die Frau Gräfin am Tage ihrer Ankunft auf ihn stieß, als sie mit der Haushälterin das Schloß durchwanderte. Der Knabe saß in dem Raum, den man die Bücherei nannte oder die gelbe Galerie. Da hingen die Familienbilder; unter andern das schöne Bildnis Georgs, des zweiten Grafen, des jüngst Verstorbenen, von Dobson gemalt, das seine Witwe nicht nötig befunden hatte mitzunehmen, während sie ihr eignes Konterfei, auf dem Herr Peter Lely Ihro Gnaden als Jägerin vom Hofstaat Dianas dargestellt hatte, auf ihren Witwensitz zu Chelsea bei London kommen ließ.

Die neue, schöne Gräfin von Castlewood fand den traurigen, einsamen kleinen Insassen dieser Galerie vertieft in ein großes Buch, das er aus der Hand legte, als er merkte, daß eine Fremde sich ihm näherte. Da er wußte, wer diese Fremde war, so erhob sich der Junge und machte eine schüchterne Verbeugung vor der Herrin seines Hauses.

Sie streckte ihre Hand aus – ja wahrlich, wann würde diese Hand sich nicht ausstrecken, wo sie Freundlichkeit erweisen, Kummer lindern und Unglück beschützen kann! »Das ist unser Verwandter«, sagte sie; »wie heißt du, Vetter?«

»Ich heiße Henry Esmond«, sagte der Knabe und sah zu ihr auf in einer Art von Verzückung, denn sie hatte ihn überrascht wie ein göttliches Wunder und erschien ihm als das reizendste Geschöpf, das er je mit Augen gesehen. Ihr goldiges Haar schimmerte im Sonnenlicht, ihre Haut war von blendendem Schmelz, ihre Lippen lächelten, und aus ihren Augen strahlte eine Güte, die Henry Esmonds Herz vor Überraschung klopfen ließ.

»Er heißt Henry Esmond, freilich, Mylady«, sagte Frau Worksop, die Haushälterin, eine alte Tyrannin (die Henry Esmond aber mehr neckte als haßte), und sah bedeutungsvoll nach des verstorbenen Herrn Bildnis, das noch jetzt in der Familie ist, wo er adlig und streng dasteht, mit der Hand auf dem Schwertgriff, auf dem Mantel den Orden, den ihm der Kaiser während des Krieges gegen die Türken auf der Donau verliehen hatte.

Als sie die große und unleugbare Ähnlichkeit zwischen dem Bild und dem Knaben sah, errötete die junge Gräfin, ließ rasch seine Hand fahren, die sie noch in der ihren hielt, als sie zu dem Bild aufsah, und ging die Galerie hinunter, von der Haushälterin gefolgt.

Als sie zurückkam, stand Henry Esmond noch auf demselben Fleck, die Hand, wie er sie hatte fallen lassen, auf dem schwarzen Rock.

Ihr Herz wurde weich, wie ich glaube – und das hat sie später auch zugegeben –, bei dem Gedanken, sie tue irgendeinem Sterblichen, groß oder klein, eine Unfreundlichkeit an. Als sie umgekehrt war, hatte sie die Haushälterin mit einem Auftrag durch die Tür am hintern Ende der Galerie entlassen; als sie nun zu dem Jungen zurückkam, da nahm sie mit einem Ausdruck unendlichen und zärtlichen Mitleids in ihren Augen seine Hand wieder auf, legte ihre andre schöne Hand auf seinen Scheitel und sprach zu ihm ein paar Worte, so freundlich und mit so liebevoller Stimme, daß der Knabe, der noch nie so viel Schönheit geschaut, meinte, die Berührung eines höhern Wesens oder eines Engels drücke ihn zur Erde nieder; er beugte das Knie und küßte die schöne schützende Hand. Bis zur letzten Stunde seines Lebens wird Esmond die Gräfin im Gedächtnis tragen, wie sie damals sprach und aussah – die Ringe an ihren schönen Händen, den Duft ihres Kleides, den Glanz ihrer Augen, die in Überraschung und Güte aufstrahlten, ihre Lippen, die sich im Lächeln öffneten, die Sonne, die einen goldnen Schein rund um ihr Haar wob.

Als der Knabe noch in dieser demütigen Stellung verharrte, trat hinter ihm ein stattlicher Herr herein, mit einem vierjährigen kleinen Mädchen an der Hand. Der Herr brach in ein lautes Gelächter aus über die Dame und ihren Verehrer mit der kleinen wunderlichen Gestalt, dem blassen Gesicht und dem langen schwarzen Haar. Die Gräfin wurde rot und schien durch einen flehenden Blick die Heiterkeit ihres Gatten unterdrücken zu wollen; denn es war Mylord, der Graf, der da hereinkam, und den der Knabe kannte, denn er hatte ihn einmal gesehen zu des verstorbenen Lords Lebzeiten.

»Das also wäre der kleine Priester!« sagte Mylord und sah zu dem Jungen nieder, »willkommen, Vetter!«

»Er sagt Mama seine Gebete auf«, meinte das kleine Mädchen, das sich an des Vaters Knie drückte. Darüber brach Mylord in ein neues großes Gelächter aus, und Vetter Henry schaute sehr töricht drein. Es fielen ihm wohl ein halbes Dutzend Antworten ein, aber das war Monate später, als er das Abenteuer überdachte. Im Augenblick fand er kein Wort der Erwiderung.

»Le pauvre enfant, il n'a que nous«, sagte Mylady mit einem Blick auf ihren Herrn, und der Knabe, der sie verstand, obwohl sie sicher glaubte, daß er nicht verstand, dankte ihr von ganzem Herzen für ihre gütigen Worte.

»Und er soll hier der Freunde nicht entbehren«, sagte Mylord mit freundlicher Stimme, »nicht wahr, kleine Trix?«

Das kleine Mädchen, das Beatrix hieß und das ihr Vater mit diesem Kosenamen nannte, sah Henry Esmond mit einem Paar großer Augen feierlich an; dann stahl sich ein Lächeln über ihr Gesicht, das so schön war wie eines Cherubs Antlitz; sie kam auf ihn zu und streckte ihm ihre kleine Hand hin. Ein heftiger, köstlicher Schmerz der Dankbarkeit, des Glückes und der Liebe erfüllte das Herz des verwaisten Knaben, als die Beschützer, die der Himmel ihm sandte, mit so rührenden Worten und Zeichen der Freundlichkeit und Güte ihm entgegenkamen. Noch eine Stunde vorher hatte er sich ganz allein auf der Welt gefühlt. Als an jenem Morgen das große Geläut der Kirche von Castlewood an sein Ohr klang, das den neuen Herrn und die Herrin willkommen hieß, da hatten die Glocken ihm nur Angst und Schrecken geläutet; denn er wußte ja nicht, wie der neue Gebieter mit ihm verfahren würde, und die, bei denen er früher Schutz gesucht, waren vergessen oder tot. Stolz und Zweifel hatten ihn auch im Schlosse zurückgehalten, als der Pfarrer, die Dorfbewohner und die Dienerschaft des Hauses hinauszogen, um Lord Castlewood zu begrüßen. Denn Henry Esmond war kein Diener, wenn auch ein Abhängiger, kein Mitglied der Familie, wenn er auch ihren Namen trug und von ihrem Blute war. Im Tumult des Lärms und der Zurufe bei der Ankunft des neuen Herrn, für den ein kostbares Festmahl bereit stand, für den Freudenschüsse tönten und das Hurrageschrei der Pächter und Bedienten, als sein Wagen sich näherte und in den Schloßhof rollte, hatte keiner des jungen Harry Esmond gedacht, der ungesehen und allein in der Bücherei saß, bis der Tag sich neigte und seine neuen Freunde ihn fanden.

Als Mylord und Mylady Miene machten, zu gehen, da bat das kleine Mädchen, das den Vetter noch an der Hand hielt, er solle mit ihnen kommen. »Du wirst immer die alten Freunde um der neuen willen verlassen, Trix«, sagte der Vater gutmütig und ging, seine Gräfin am Arm, die Galerie hinunter. Sie wanderten durch den jetzt längst verödeten und ausgeräumten Musiksaal, durch die Zimmer der Königin Elisabeth im Uhrturm und hinaus auf die Terrasse, wo man in den schönen Sonnenuntergang sah, auf die großen dämmernden Wälder, über denen eine Wolke heimkehrender Krähen zog, auf die Ebene und den Fluß mit dem Dorf Castlewood jenseits und auf purpurn schimmernde schöne Hügel. Auf der Terrasse war der kleine Erbe von Castlewood, ein Kind von zwei Jahren; er entsprang den Armen seiner Dienerin, als er die Mutter erblickte, und rannte übers Gras auf sie zu.

»Wenn du hier nicht glücklich sein kannst, Rachel«, meinte Mylord und blickte ins Land hinaus, »dann bist du schwer zufriedenzustellen.«

»Ich bin glücklich, wenn ich bin, wo du bist«, sagte sie, »aber am glücklichsten waren wir doch im Walde von Walcote.« Mylord fing an, seiner Frau zu erklären, was sie vor sich hatten und worüber der kleine Harry viel besser Bescheid wußte als er – nämlich die Geschichte des Hauses: wie durch jene Pforte der Page die Erbin von Castlewood entführte und so die Herrschaft an die jetzige Familie kam; wie die Rundköpfe den Uhrturm stürmten und bei der Verteidigung Mylords Vater erschlagen wurde. »Ich war damals erst zwei Jahre alt«, sagte er, »aber zieh sechsundvierzig von neunzig ab, und wie alt werde ich wohl sein, Vetter Harry?«

»Dreißig«, sagte seine Frau und lachte.

»Viel zu alt für dich, Rachel«, gab Mylord zurück und sah zärtlich auf sie nieder. Wahrlich, sie war wie ein junges Mädchen und damals kaum zwanzig Jahre alt.

»Du weißt, Frank, ich tue dir alles zuliebe«, sagte sie, »und ich verspreche dir, ich will älter werden mit jedem Tag.«

»Du mußt nicht Frank sagen zu Papa; du mußt Papa jetzt Mylord nennen«, sagte Fräulein Beatrix und warf das Köpfchen zurück. Die Mutter lächelte, der gutmütige Vater lachte, und auch der zappelnde kleine Junge lachte, ohne zu wissen, warum – aber gewiß, weil er glücklich war –, wie damals alle glücklich zu sein schienen. Wie fest doch solche unbedeutenden Worte und Begebenheiten, die Landschaft und die Abendsonne und die lächelnde, plaudernde Familiengruppe im Gedächtnis haften!

Als die Sonne untergegangen war, wurde der kleine Erbe auf den Armen der Dienerin ins Bett geschickt und verschwand brüllend vom Schauplatz. Aber der kleinen Trix wurde an diesem Tage erlaubt, zum Abendessen zu bleiben. »Du kommst auch, Vetter, nicht wahr?« sagte sie.

Harry Esmond wurde dunkelrot. »Ich – ich esse Abendbrot mit Frau Worksop«, sagte er.

»Verdammt noch mal«, sagte Mylord, »du ißt mit uns, Harry. Einer Dame kann er es nicht abschlagen, was, Trix?« Sie alle staunten, als sie Harry essen sahen; denn darin leistete der arme Junge Fabelhaftes. Die Wahrheit zu sagen, er hatte nichts zu Mittag bekommen. Niemand hatte an ihn gedacht im Trubel der Vorbereitungen für den Empfang des neuen Herrn.

»Kein Mittagessen! Armes, liebes Kind!« sagte Mylady und lud ihm Fleisch auf den Teller, und Mylord füllte einen Becher für ihn und sagte, er solle eine Gesundheit ausbringen. »Der König!« rief Junker Harry und stürzte den Wein hinunter. Mylord war bereit, die Gesundheit zu trinken und manch eine andre auch, nur allzu bereit. Er duldete nicht, daß Doktor Tusher, der Pfarrer von Castlewood, der sich zum Abendbrot eingefunden hatte, beim Erscheinen der süßen Speisen den Rückzug antrat. Er habe noch nicht lange genug einen Kaplan, meinte er, um seiner müde zu sein. So leistete Seine Hochwürden bei Tabak und Punsch Mylord noch etliche Stunden Gesellschaft und zog heim, mit leise schwankenden Schritten, einmal übers andre erklärend, Mylords Leutseligkeit übertreffe alles, was ihm je von der huldreichen gräflichen Familie an Güte erwiesen worden sei.

Dem jungen Esmond aber, als er in sein kleines Zimmer trat, war das Herz voll von Staunen und Dankbarkeit gegen die neuen Freunde, die ihm dieser glückliche Tag gebracht. Er stand auf und wartete, lange ehe das Haus sich rührte, voll Verlangen, die schöne Frau und ihre Kinder zu sehen und den gütigen Beschützer und Herrn. Seine einzige Angst war, die Freundlichkeit des Willkommens von gestern könnte auf irgendeine Art zurückgenommen oder gewandelt werden. Aber da kam die kleine Beatrix in den Garten gelaufen, und die Mutter folgte und grüßte Harry so freundlich wie zuvor. Er erzählte ihr ausführlicher über die Geschichten des Hauses, die man ihn zu des alten Lords Zeiten gelehrt hatte, und sie hörte ihm eifrig zu. Dann sagte er ihr, in Gedanken an den Abend vorher, er verstehe Französisch und danke ihr, daß sie ihn in Schutz genommen.

»Du sprichst Französisch?« sagte sie errötend, »dann mußt du es uns lehren, mich und Beatrix.« Sie fragte ihn noch mancherlei, was ihn selbst betraf; aber es ist wohl gut, das genauer und ausführlicher zu erzählen als durch die kurzen Antworten, die der Knabe seiner Herrin gab.


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