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Sofern die Gabe der Dichtung zur gemeinsamen Ausstattung der menschlichen Natur gehört, eine poetische Literatur aber wenigstens bei allen gebildeten Völkern angetroffen wird, so hat der Angehörige des einzelnen Volkes zu dieser Literatur ein doppeltes Verhältniß. Er wird sich zum Zwecke der poetischen Erbauung zunächst zwar an die Dichtungen seiner eigenen Nation halten, doch, je gebildeter er ist, desto mehr auch von denen anderer Nationen Kenntniß nehmen.
Von diesen trennt ihn die Scheidewand der Sprachverschiedenheit; die der Gelehrte mittelst seiner Sprachkenntnisse, der Ungelehrte mit Hülfe von Uebersetzungen zu übersteigen sucht. In dieser letztern Beziehung befindet sich nun der Deutsche, den Genossen andrer neueren Völker gegenüber, in entschiedenem Vortheil. Wie sein Land im Herzen des gebildetsten Erdtheils gelegen ist, so nimmt auch seine Sprache eine gewissermaßen centrale Stellung ein. Nicht sowohl genealogisch wie die lateinische, daß sie die Wurzel und damit der Schlüssel eines weiten Kreises von abgeleiteten Sprachen wäre (in engerem Umfang ist sie es wohl), als vielmehr so zu sagen typisch, daß die poetischen Formen aller andern Sprachen sich in keiner so rein abdrücken lassen wie in ihr. Die deutsche Sprache ist ein Pantheon, worin neben den einheimischen Bildwerken in Marmor oder Bronze zugleich die vorzüglichsten der auswärtigen in vollendeten Gypsabgüssen aufgestellt sind. Sie ist die einzige unter den lebenden Sprachen, welche die Fähigkeit hat, die Dichtungen der verschiedensten Völker alter und neuer Zeit in ihren ursprünglichen Maßen wiederzugeben. Den Engländern hat Pope den Homer in paarweise gereimten fünffüßigen Jamben, den Franzosen Delille den Virgil in den unvermeidlichen Alexandrinern übersetzt; da letzteres Versmaß in Frankreich zugleich das dramatische ist, so verfallen ihm hier auch Aeschylus und Sophokles, für welche in England wenigstens der reimlose fünffüßige Jambus zu Gebote steht; für Pindar, Horaz und andre Lyriker wird in beiden Sprachen, wo man nicht, wie weislich meistens bei dem erstem, die Prosa vorzieht, zu gereimten Liedermaßen gegriffen. Wir Deutsche können, seit Voß für Homer, A. W. Schlegel für Shakespeare und Calderon die Bahn gebrochen, alles, was vom Ganges bis zum Tajo während nahezu dreitausend Jahren dichterisch hervorgebracht worden, in Übersetzungen lesen, die uns außer dem Geist und Gehalt auch die sprachliche und metrische Form bis in die feinsten Wendungen hinein empfindbar machen. Aus dieser Eigenschaft unsrer Sprache und den Leistungen der deutschen Uebersetzungskunst erwächst den Bildungslustigen unsres Volks eine Gelegenheit, ihren Gesichtskreis und ihre Empfindungsweise über die nationalen Schranken hinaus zu erweitern, die nicht hoch genug angeschlagen werden kann, und zum Theil auch schon unsern großen Dichtern und ihren Schöpfungen zu gute gekommen ist. Die französische Sprache ist Weltsprache geworden, indem sie sich als Verkehrsmittel allen Völkern aufzudrängen oder bei ihnen einzuschmeicheln mußte: die deutsche ist es, sofern sie die edelsten Erzeugnisse aller andern Sprachen sich und ihrem Volke zu assimiliren weiß.
Indeß, die Anregung, die wir von den großen Dichtungen anderer Zeiten und Völker empfangen, mag noch so bedeutend und nachhaltig sein: das ganz intime Verhältniß findet doch für jeden nur zu den Dichtern des eigenen Volkes statt. Hier athmen wir die Luft unsrer heimischen Berge und Fluren; hier umweht uns Geist von unsrem Geist; hier begegnen wir der Sinnesart und Sitte, in der wir selbst erwachsen sind. Möglich, daß Shakespeare größer ist als Goethe; möglich auch, daß der Sirius größer ist als unsre Sonne; aber unsre Trauben reift er nicht.
Die deutsche Dichtung hat bekanntlich zweimal geblüht; einmal im Mittelalter zur Zeit der schwäbischen Kaiser, das andremal in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis in den Anfang des jetzigen herein. Zu den Erzeugnissen der ersteren Blüthezeit verhalten wir Jetztlebenden uns beinahe wie zu auswärtigen: wer nicht Fachmann ist, bedarf zu ihrem Verständniß einer Uebersetzung (deren wir übrigens auch hier vortreffliche besitzen); und auch die Sitten und Vorstellungen der deutschen Ritterzeiten sind uns kaum weniger fremd als die römischen im Zeitalter des Augustus oder die englischen aus den Tagen der Elisabeth. Dazu kommt, daß diese altdeutschen Dichtungen durchschnittlich doch mehr relativen historisch-nationalen, als absoluten menschlich-poetischen Werth haben: wer sich mit dem Nibelungenlied, den Spruchgedichten Walters von der Vogelweide, und etwa noch Tristan und Isolde vertraut gemacht hat, der kann das Uebrige zur Noth entbehren.
Die rechte und volle Erbauung quillt uns nur in unsern Dichtern aus der zweiten Periode, den Vätern und Großvätern unsrer heutigen Geistes- und Gemüthsbildung, deren weisen und holden Gesängen dankbar und lernbegierig zu lauschen, wir billig kein Ende finden. Hier jedoch ist für den uns zugemessenen Raum, um wenigstens den Größten einigermaßen gerecht zu werden, kein anderer Rath, als selbst die Großen zu übergehen; und so werde ich mich, wie viel auch von andern zu sagen wäre, auf Lessing, Goethe und Schiller beschränken.
Welch ein Segen für das deutsche Volk darin liegt, daß am Eingang seiner classischen Literaturepoche ein Mann wie Lessing steht, ist nicht zu ermessen. Das ist noch das Mindeste, daß er so universell auftritt: Kritiker und Dichter, Archäolog und Philosoph, Dramaturg und Theolog; und daß er auf allen diesen Gebieten neue Gesichtspunkte fand, neue Wege wies, tiefere Schachte erschloß; sondern diese Einheit des Schriftstellers und des Menschen, des Kopfes und des Herzens ist das Herrliche an ihm. Seine Gesinnung ist so lauter wie sein Gedanke, sein Streben so rastlos wie sein Stil. Es ist die Wahrheitsliebe und Wahrheitstreue selbst, die in seiner Person an der Schwelle unsrer Literatur Wache hält.
In der Sammlung seiner Werke steht zwar Manches, das entweder für das große Publikum zu gelehrt, oder im Drange des Tagesbedürfnisses geschrieben, mit den Tageserscheinungen, worauf es sich bezog, veraltet ist; dennoch ist nichts irriger als die noch vielfach verbreitete Meinung, bei Lessing sei es genug, sich an seine Dramen zu halten. Im Gegentheil, wenn wir den Nathan abrechnen, so musterhaft an sich und geschichtlich epochemachend auch seine beiden andern Hauptdramen sind, so hat man doch noch nicht einmal den wahren Lessing, wenn man nur diese von ihm kennt. Und selbst der Nathan wird erst durch die theologischen Streitschriften, aus denen er gleichsam als Blüthe herausgewachsen ist, in seinen Zielen und seiner Bedeutung ganz verständlich.
Aber auch unter den übrigen kritischen und polemischen Schriften, wie viele frische, lebendige Quellen sprudeln da. Welches Labsal und welcher Sporn für den Gymnasiasten, der so eben mit seinem Professor den Horaz zu lesen angefangen hat, das Vademecum für den Pastor Lange von Laublingen; wie lernen wir ächte und unächte Gelehrsamkeit und Gelehrtengesinnung unterscheiden in den gegen Klotz gerichteten antiquarischen Briefen; wie fallen uns die Schuppen von den Augen, wenn wir zuerst im Laokoon mit ungeahnter Schärfe und Tiefe die Grenzen der Künste gezogen sehen; welche Lichter über das Wesen der Tragödie, über den falschen Classicismus des französischen Theaters, die Riesengröße Shakespeare's gehen uns auf in der Hamburgischen Dramaturgie; wie belauschen wir den Bibliothekar unter seinen Schätzen, und zugleich den geistigen Freiheitskämpfer in der Zwiesprache mit großen Vorgängern, im Berengarius Turonensir, der uns unmerklich von dem Felde der antiquarischen Kritik auf das der theologischen hinüberführt.
Und damit auch erst betreten wir das innerste Heiligthum der Lessing'schen Schriften, wie er selbst damit auf die Höhe seiner Laufbahn trat. Die Zugaben zu den Reimarus'schen Fragmenten weisen hinter dem Ruin des biblischen Buchstabens unerschrocken auf eine davon unabhängige Geistesreligion; die Streitschriften wider Göze sind ewige Vorbilder in ihrer Art, schonungslos gegen den Widersacher, aber nicht, wie Streitschriften so oft, zu Gunsten eines eiteln literarischen Ich, sondern lediglich im Dienste der Wahrheit, als deren geweihten Priester der Streitende sich darstellt. Und welche reinen, friedsam glänzenden Perlen finden sich der Kette dieser kriegerischen Schriften eingefügt in der Erziehung des Menschengeschlechts und dem Testament Johannis; wovon die erstere ihr mildes versöhnendes Licht über die ganze Religionsgeschichte breitet, das andere trotz des geringen Umfangs durch hohe Formschönheit und wunderbar tiefen Gehalt an Werthe dem Nathan ebenbürtig zur Seite steht. Von diesem noch besonders zu reden, muß als überflüssig erscheinen; es wäre denn dieß, wenn doch jede Religion herkömmlich ihre heiligen Bücher hat, daß für die Religion der Humanität und Sittlichkeit, zu der wir uns bekennen, Lessings Nathan das heilige Grundbuch bildet.
Ueber Goethe fängt es sich schwer an zu reden, weil es schwer ist, über ihn zu endigen. Er ist allein eine Welt, so reich und mannigfaltig, daß von uns Epigonen keiner hoffen darf, ihn auch nur in der Auffassung zu erschöpfen. Uebrigens befinden wir uns zu ihm heute bereits in einer viel günstigeren Stellung als die Generation vor uns, weil uns die weitere Entfernung einen richtigeren Sehwinkel angewiesen hat. Zu seinen Lebzeiten und noch in den ersten Jahrzehnten nach seinem Hingang mochte der und jener von seinen Mitstrebenden als gleich groß und selbst als größer erscheinen; wie in der Nähe eines Hochgebirgs bisweilen ein Vorhügel, dem wir noch näher stehen, uns den Hauptberg zu überragen oder doch ihm gleichzukommen scheint. Jetzt sind wir ihm schon so ferne gerückt, daß wir bestimmt ermessen können, wie selbst der ansehnlichste Gipfel neben ihm, nämlich Schiller, trotz seiner an sich beträchtlichen Höhe, die seinige bei weitem nicht erreicht. Er tritt uns jetzt entgegen als das Urgebirg, das unsern Horizont beherrscht, und durch die ihm entströmenden Quellen und Bäche weithin unsre Fluren tränkt. Die Stimmen des Neides und Unverstandes, die vor 30 Jahren noch darin wetteiferten, ihn zu verkleinern und zu verketzern, sind verstummt oder werden nicht mehr angehört. Wir alle heute lebenden Deutschen, selbst solche nicht ausgenommen, die Goethe's Werke gar nicht gelesen hätten, wenn sie nur im Uebrigen der Bildung unsrer Zeit nicht verschlossen geblieben sind, wir alle verdanken ihm mittelbar oder unmittelbar mehr als wir wissen, und ein gutes Theil des Besten was wir haben.
Seine Werke bilden für sich allein eine Bibliothek, so reichhaltig, so voll der gesündesten kräftigsten Nahrung für den Geist, daß einer füglich alle andern Bücher daneben entbehren könnte, und doch dabei nicht zu kurz kommen würde. Und auch bei ihm wie bei Lessing sind es keineswegs blos die eigentlich poetischen Schriften, die Gedichte, Dramen, Romane, um die es sich handelt, sondern im engern oder weitern Sinne gehören die übrigen mit dazu. Umfaßt schon Goethe's dichterische Productivität einen mächtig weiten Kreis, so dehnt sich sein geistiges Vermögen überhaupt in unabsehbare Fernen aus. Der Kenner aller Falten und Tiefen des Herzens durchforscht zugleich die Tiefen und Schichten der Gebirge; der seine Beobachter des menschlichen Lebens und seiner Verhältnisse sucht zugleich die Gesetze des Lichts und der Farben zu ergründen; der Schöpfer so vieler harmonischen, im reinsten Ebenmaß aufgebauten Dichtungen weiß dem Geheimniß auf die Spur zu kommen, wie die schaffende Natur den aufsteigenden Bau des organischen Lebens auf unsrer Erde zu Stande bringt. Und hinwiederum wirkt dieser Sinn für die Natur, für ihre unerschöpfliche Lebensfülle wie für ihr stilles gesetzmäßiges Schaffen und Walten, auf Goethe's gesammte Poesie zurück. Viel Gewaltiges, aber nichts Gewaltsames; bei aller Mannigfaltigkeit nirgends Unordnung; bei aller Tiefe keine Trübe.
Goethe hat in allen Dichtungsarten Großes hervorgebracht: als Lyriker ist er vielleicht der größte Dichter aller Zeiten. Es kommt wohl daher, daß, wie er selbst bekennt, seine Dichtungen, vor allen natürlich die lyrischen, lauter Gelegenheitsgedichte sind, nur Selbsterlebtes schildern, das er aber zugleich so in die Höhe des allgemein Menschlichen, des Idealen und Typischen zu entrücken weiß, daß demselben alle Erdschwere abgethan ist, und die Gedichte als reine Genien uns umschweben. In den Liebesliedern seiner Jugend hat er diese Gefühle so ausgesprochen, daß, indem wir darin seine persönliche Liebesgeschichte lesen, wir zugleich die Geschichte aller Jugendliebe, wie sie zu allen Zeiten ist und sein muß, zu lesen glauben. Auf der andern Seite scheint z. B. unter den Balladen Der Sänger ganz aus idealen Vorstellungen der alten Ritterzeiten gebildet; da er doch in der That vielmehr durchaus den persönlichen Verhältnissen des Dichters entnommen ist. Der Sänger, der die vom König gebotene goldne Kette ablehnt, ist Goethe selbst, den sein Herzog vertrauend mit den Kanzlers-Lasten und Ehren beladen hat, die er zwar dem Fürsten und dem Lande zu lieb auf sich nimmt, und auch für seine Dichtung fruchtbar zu machen weiß, während er sich doch immer wieder in das seiner innersten Natur allein gemäße freie Dichterleben zurücksehnt.
Unmöglich kann ich hier auch nur die vorzüglichsten von Goethe's lyrischen Dichtungen im Einzelnen erörtern: weder die geselligen Lieder mit ihrem körnigen Gehalt und urkräftigen Behagen; noch die Balladen, die vom einfach-träumerischen Naturbild im Fischer, dem neblig-nordischen Erlkönig, bis zur vollendeten griechischen Plastik in der Braut von Korinth, der südlichen Klarheit und Farbenpracht in Der Gott und die Bajadere aufsteigen; nicht die Hymnen: Meine Göttin, Grenzen der Menschheit u. a., die neben den erhabenen Gedanken und Bildern zugleich das feinste Gefühl für den Rhythmus der deutschen Sprache beurkunden; nicht die weisen Sprüche, die orientalisch-glühenden Liebesgedichte des Divan, die in dem wunderbaren: In tausend Formen u. s. f. gipfeln, wo dem mystisch verzückten Dichter die Geliebte unmerklich in das All verschwebt; oder die unvergleichlichen Stanzen der beiden Zueignungen, der Gedichte und des Faust. Nur mit einem Worte kann ich auch der reizend-mannigfaltigen Venezianischen Epigramme und der Elegien gedenken, sowohl der zarten und rührenden Euphrosyne, als der lust- und lebensvollen Römischen, wo der deutsche Dichter mittelst tieferer Beseelung der classischen Form mit Tibull und Properz um die Palme gerungen und sie auf ihrem eigenen Boden überwunden hat.
Das Gleiche pflegt man in Bezug auf Euripides von Goethe's Iphigenie zu sagen, und es ist auch vollkommen wahr, bis auf den Punkt, der das dramatische Moment der Dichtung betrifft. Euripides war ein entschieden dramatisches Talent, wie Schiller es war; von Goethe hat uns, nachdem Andere an der Sache herumgetastet, zuerst Gervinus bestimmt gezeigt, daß er ein solches nicht gewesen ist. Von seinen Schauspielen wirken eigentlich nur Clavigo und theilweise Egmont bei der Aufführung recht dramatisch: den herrlichen Erstling Götz schloß sein regelloser Bau von den Brettern aus, und in der spätern Bühnenbearbeitung hat ihn Goethe, der die ursprüngliche Stimmung nicht mehr zu finden wußte, jämmerlich verdorben: und diese sämmtlichen Stücke, seiner Grundlage nach auch Egmont, gehören den frühern Jahren des Dichters an. In Weimar begann hierauf und in Italien vollendete sich seine Hinwendung zum classisch-idealen Stil, die seinem Erfolg als Dramatiker nicht förderlich gewesen ist. Denn das Drastische und Packende, das seinen früheren Stücken nicht gefehlt hatte, verlor sich nun ganz, und ohne das ist auf der Bühne keine volle Wirkung möglich. Iphigenie, Tasso, die natürliche Tochter, sind, lediglich als Dichtungen betrachtet, durch den Adel der Gesinnung, die Reinheit der Empfindung, die Tiefe der Menschenkenntnis, die Architektonik des Baues und den Wohllaut der gemessenen Sprache vollendete Kunstwerke der höchsten Art; aber in allen überwiegt die ruhige Betrachtung oder lyrische Ergießung die Handlung allzusehr, als daß sie als Dramen befriedigen könnten.
Wenn Götz in der ersten Redaction den Titel führte: Geschichte Gottfrieds von Berlichingen, dramatisirt, so ist dieß der bezeichnende Ausdruck für die Art, wie überhaupt Goethe die dramatische Form in Anwendung bringt. Der Dialog, das unmittelbare Auftreten und Reden der Personen, war für ihn nur das Mittel, die Gegenstände lebendiger und gegenwärtiger vorzustellen; daß dies im Drama in der Form einer vorwärts dringenden und sich absatzweise zum Schlusse treibenden Handlung zu geschehen habe, wußte er wohl und suchte es nach Möglichkeit zu leisten; doch kam er nicht aus seiner eigenen Natur und bildet nur die äußere, nicht die innere Gestalt seiner dramatischen Dichtungen.
Nirgends ist dieß augenscheinlicher als an seinem Faust, für dessen Beurtheilung der dramatische Maßstab nicht der rechte ist. Er steht poetisch zu hoch, daß er diese Formfrage, wie auch den Anstoß an der Incongruenz der zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenem Stile gedichteten Theile (incongruent unter sich, und doch zusammen ein harmonisch ansprechendes Ganze, wie die Theile der Heidelberger Schloßruine) tief unter sich läßt; er ist unser deutsches Centralgedicht, erwachsen aus der innersten Eigenthümlichkeit des germanischen Geistes, der großartigste und gelungenste Versuch, das Welt- und Lebensräthsel poetisch zu lösen, eine Dichtung, deren gleichen, an Tiefsinn und Ideenfülle, zu den naiv-lebensvollsten Bildern ausgestaltet, keine andre Nation aufzuweisen hat. Hiemit rede ich allerdings nur von dem ersten Theile des Gedichts, der, in den schönsten Jugendjahren des Dichters begonnen, in seinem besten Mannesalter vorläufig abgeschlossen worden ist. Daß der Gedanke, sein Hauptwerk zu vollenden, ihm durch das ganze Leben nachging, ist ebenso natürlich, als daß, wie er endlich als Greis zur Ausführung schritt, es ihm nicht mehr gelingen, er nur noch ein allegorisch schemenhaftes Produkt hervorbringen konnte.
Neben der lyrischen Begabung herrschte in Goethe's Dichteranlage die epische vor: dieses klare ruhige Wiederspiegeln einer mannigfaltigen schönen Welt lag ebenso wie das reine und mächtige Austönen eines leicht- und tiefbewegten Innern in seiner Natur. In der innigsten Verschmelzung treten uns beide Seiten in Goethe's Erstlingsroman, dem Werther, entgegen; die Briefform ist durchaus lyrisch, das äußere und innere Geschehen kommt uns, die kurzen Zwischenreden des Erzählers abgerechnet, nur durch das Medium der erregten Empfindung des Helden zu. Der Roman wirkte mit pathologischer Gewalt in einer von verwandten Stimmungen durchzogenen Zeit; während wir jetzt in freierer Stellung von der Wärme und Innigkeit des Gemüthslebens, das er uns erschließt, der Frische der Natur- und Lebensbilder, die er vor uns ausbreitet, dem Zauber einer Sprache, auf der gleichsam noch der Thau des ersten Schöpfungsmorgens liegt, uns erst zur Mitempfindung, dann zur Bewunderung hingerissen finden.
Goethe's Haupt- und eigentlicher Lebensroman ist Wilhelm Meister, wo nun das lyrische und das epische Element in der Art auseinandertreten, daß ans dem klar und sanft hingleitenden Flusse der Erzählung die schönsten Lieder wie kleine bewimpelte Nachen schwimmen. Wilhelm Meister ist kein Werk aus Einem Gusse; begonnen im Jahre 1777, ist er in langsamem Vorschreiten, so daß bisweilen in einem Jahre gerade ein Buch, als gleichsam ein Jahresringe sich ansetzte, unter Hofbelustigungen und Dienstgeschäften, oft zurückgelegt und immer wieder vorgenommen, zuletzt durch die italienische Reise und dann die politischen und Kriegswirren der folgenden Jahre ganz in den Hintergrund gedrängt, erst im Jahr 1796, also beinahe 20 Jahre nach den ersten Anfängen, vollendet worden. Da aber zugleich der Dichter alles dasjenige darin niedergelegt hat, was er in einem so langen und für ihn so fruchtbaren Zeitraum erlebt, erfahren und in sich zur Reife gebracht hatte, so kam es, daß dieser Roman, wie Goethe selbst sich ausdrückte, eine der incalculabelsten Produktionen wurde, wozu ihm fast selbst der Schlüssel fehlte. Was er überhaupt nicht liebte, bei einer Dichtung nach der Idee, als gleichsam dem Facit oder der Moral davon; fragen zu hören, mußte ihm demnach bei Wilhelm Meister besonders verdrießlich sein. »Man sucht einen Mittelpunkt,« äußerte er gegen Eckermann, »und das ist schwer, und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das vor unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch blos für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt: Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand. Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höhern Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziel gelange.«
Sofern Goethe auch hier seine Dichtung nur aus den Stoffen des eigenen Lebens formte, läßt sich dieß noch bestimmter fassen. Den Stachel einer Jugendliebe im Herzen war er nach Weimar gekommen, hatte hier, während eine neue Welt von Menschen und Verhältnissen sich ihm erschloß, im Zusammenhang mit einer fürstlichen Liebhaberei ein persönliches Verhältniß zum Theater gewonnen, und sich als Dichter wie als Dramaturg vielfach damit befaßt. In Kurzem jedoch entwickelte sich der Hofmann zum Staatsmann, neben den Lustbarkeiten trat er immer tiefer in die öffentlichen Geschäfte ein, lernte auf amtlichen Reisen das kleine Land, seine Zustände und Bedürfnisse kennen, bemühte sich um die Hebung des Ackerbaues wie des bürgerlichen Gewerbes, suchte dem Bergbau aufzuhelfen und für gemeine Nothstände Rath zu schaffen. Dieser Gang, den der Dichter genommen, spiegelt sich wieder in seinem Roman. Wilhelm beginnt als der verliebte zum Theater entlaufene Kaufmannssohn, erwirbt sich, während seine Liebschaften als unhaltbar zergehen, seine schauspielerischen Projekte und dramaturgischen Ideale sich Schritt für Schritt als Täuschungen erweisen, nebenher durch die Bekanntschaften, die er macht, und die Gesellschaftskreise, die er durchgeht, eine vielseitige innere und äußere Bildung, und sieht sich zuletzt, durch seine bürgerlichen Mittel Gutsbesitzer geworden, durch die Liebe der Schwester und die Hochschätzung des Bruders in eine Adelsfamilie aufgenommen, die mit der feinsten Weltsitte die edelsten menschlich-bürgerlichen Gesinnungen verbindet. So hat er die volle harmonische Entwicklung seiner Fähigkeiten, wie die menschenwürdige ihn und Andere beglückende Wirksamkeit auf verworrenen und oft dunkeln Wegen und an ganz andrer Stelle, als wo er sie am Anfang suchte, doch zuletzt wirklich gefunden.
Hiemit konnte der Roman für geschlossen gelten; doch fand sich Goethe mehr als 20 Jahre später bewogen, den Lehrjahren seines Helden noch dessen Wanderjahre folgen zu lassen. So manches Treffliche nun auch in Gedanken und Ansichten diese Fortsetzung enthält, so sehr sie insbesondere des Dichters warmen Antheil an den socialen Fragen der Zeit beurkundet, so geht doch der Gedankengehalt in der dichterischen Form nicht mehr auf, das Interesse an den Personen des Romans und ihren Schicksalen hat ein Ende, und wir finden uns, ähnlich wie im zweiten Theile des Faust, mehr und mehr in eine symbolische Schemenwelt versetzt. Das poetische Bedürfniß findet sich nur durch die Novellen einigermaßen befriedigt, die der Dichter, leider gerade die besten unvollendet, dem Roman einverleibt hat, und die nun der Leser, wie ungezogene Kinder die Rosinen und Mandeln aus einem zähen Kuchenteig, aus dem Uebrigen herausklaubt. Daß Goethe nicht lieber Erzählungen, wie Der Mann von 50 Jahren, und vor Allem das reizende Bruchstück: Nicht zu weit, fertig gemacht hat, als den fertigen Roman noch über seinen Schluß hinaus fortzuspinnen, wird man immer beklagen müssen.
Wieder in Einem Gusse, und wieder in Folge eines persönlichen Herzenserlebnisses wie den Werther, hat Goethe im sechszigsten Lebensjahre seinen dritten und letzten Roman, die Wahlverwandtschaften, gedichtet. Bekanntlich war es die leidenschaftliche Neigung für Minna Herzlieb, die, eben ein Jahr, nachdem er seiner Verbindung mit Christiane Vulpius die späte kirchliche Weihe hatte geben lassen, in ihm aufgelodert war, und, wenn auch von der sittlichen Willenskraft alsbald kräftig bekämpft und bemeistert, eben darum ein tiefes Wehe in ihm zurückgelassen hatte. Wie er seiner Neigung, so lange er sich derselben noch froh und unbefangen hingab, in der bekannten Sonettenreihe Ausdruck gegeben hatte, so sammelte er nun alles Schmerzliche, das ihm der Kampf gegen diese Leidenschaft bereitete, in das Gefäß des Romans, indem er sich eben dadurch in ächter Künstlerart von derselben vollends befreite.
Die Wahlverwandtschaften haben mit dem Werther das gemein, daß, ganz anders als im Meister, eine unglückliche Liebesleidenschaft ihren ganzen Inhalt bildet; aber in der Form sind sie ebenso objektiv und episch gehalten, als der Werther subjektiv und lyrisch war. Wenn der Bau des Wilhelm Meister, nicht blos in Folge des Personen- und Situationenreichthums, sondern auch der wiederholten Aenderung des Plans während der lange sich hinziehenden Arbeit, ein labyrinthischer war, so ist nun der der Wahlverwandtschaften der klarste und einfachste, jeder Theil gegen die übrigen genau abgemessen und abgewogen, die Exposition besonders, wie in der Windstille des Anfangs erst eine leise Regung der Luft entsteht, die, zunächst als wohlthuend empfunden, bald bedenklich anwächst, und zuletzt zum Alles entwurzelnden Sturme wird – diese Exposition besonders ist ein Meisterstück, wie selbst Goethe uns kein zweites geliefert hat. Ebenso einzig ist die Sprache der Wahlverwandtschaften. Die Hauptpersonen des Romans sind auf's Leidenschaftlichste erregt, und der Dichter verleugnet seine eigene tiefe Bewegung nicht; gleichwohl bleibt seine Sprache episch ruhig, und macht eben durch dieses Ansichhalten, diese gedämpfte Glut, einen wunderbaren Eindruck. Zwischen dem ersten und dem zweiten Theile des Romans findet sich der Unterschied, daß im zweiten mit dem Architekten ein Element eintritt, das gerade in jenen Jahren in der den Dichter umgebenden Luft lag: das romantische. Die Figur des Architekten ist von jeher und nicht mit Unrecht als besonders fein gezeichnet und wohl berechnet gerühmt worden: aber er führt uns zugleich in die mystische Region der gothischen Kapellen, der Glorienscheine und der gemalten Fenster ein, wovon auch die Schlußphrase des Romans – die Hindeutung auf das dereinstige Wiedererwachen des nebeneinander ruhenden Liebespaares – nur ein Reflex ohne Rückhalt in den Ueberzeugungen des Dichters oder des ihm ebenbürtigen Lesers ist.
Nicht leicht ist für eine herrliche Schöpfung einem Dichter übler gelohnt worden, als dem unsrigen für die Wahlverwandtschaften. Im Publikum zeigte sich nirgends ein Verständniß; selbst die Freunde nahmen die Gabe kühl auf und schüttelten unter sich die Köpfe; die Uebelwollenden aber zogen Stoff daraus, den Dichter von Neuem zu verschreien. Für eine in ihrem Grunde edle, in ihrer Entstehung nur allzu begreifliche Leidenschaft, worein sie in halber Bewußtlosigkeit arglos eingegangen, sehen wir die Heldin, sobald sie die Unverträglichkeit derselben mit den sittlichen Lebensgrundlagen erkannt hat, unerachtet so eben die äußeren Verhältnisse ihr Raum zu machen im Begriff sind, sich unerbittlich selbst verurtheilen, und damit auch den Liebenden, der sich freilich nicht ebenso sittlich stark erwiesen, in den Tod ziehen: dieß ist der Inhalt des Romans, den man unsittlich zu nennen wagte!
Um so mehr verdientes Glück hatte Goethe mit einer Dichtung, die freilich in ihrem Sinn und Werthe unmöglich mißzuverstehen war, 12 Jahre vorher gehabt: mit Hermann und Dorothea, wo er in den Formen des homerischen Epos ein Stück ächt-deutschen Bürgerlebens, auf dem Hintergrunde der großen politischen Zeitereignisse sich abhebend, uns vor Augen bringt. Mit Recht hat Platen dieses Gedicht den Stolz Deutschlands, die Perle der Kunst genannt; den Hexameter fand er holperig, was wir dem Virtuosen zu gute halten müssen. Wäre er schon erwachsen gewesen, wie Goethe seinen Hermann und seine Elegien schrieb, so möchte dieser, der die Unbestimmtheit der damaligen deutschen Metrik oft genug beklagte, ihn so gut wie A. W. Schlegel wegen der Hexameter zu Rathe gezogen und seine Rathschläge nach Möglichkeit sich zu Nutze gemacht haben; aber des Grafen dürftige Correctheit gegen seinen läßlichen Reichthum einzutauschen hätte er gewiß nie Lust gehabt. Es wundert uns nicht im mindesten, wenn wir bei Eckermann aus des Dichters letzten Lebensjahren die Aeußerung finden, Hermann und Dorothea sei fast das einzige seiner größern Gedichte, das ihm noch Freude mache; er könne es nie ohne innigen Antheil lesen. Gerade je einfacher die Charaktere und Verhältnisse der Personen, je schlichter durchgängig der Ausdruck ist, desto ergreifender wirkt das Gedicht. Es ist gedrängt voll von Lebensweisheit, Bürgersinn und sittlicher Tüchtigkeit, und muß den Dichter auch denen werth machen, die ihm auf seinen übrigen Wegen nicht immer zu folgen vermögen; während es zugleich von denen, die ihn ganz verstehen, in die erste Linie seiner Meisterwerke gesetzt wird.
Ich sagte es ja, daß man mit Goethe schwer zu Ende komme; man erreicht es nur, indem man frischweg Manches übergeht, was nicht minder als das Besprochene des Verweilens werth gewesen wäre. So will ich hier nur noch von Dichtung und Wahrheit und den daran sich schließenden biographischen Aufzeichnungen, sammt den später nach und nach erschienenen Briefwechseln reden.
Auch in der Abfassung seiner Lebensgeschichte hat sich, wie schon der bekannte Titel zeigt, der Dichter nicht verleugnen können; er selbst stellt die Schrift in dieser Hinsicht einmal sogar mit einem Roman auf gleiche Linie in der Aeußerung gegen Eckermann: in der Geschichte von Sesenheim wie in den Wahlverwandtschaften sei kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber auch kein Strich so, wie er erlebt worden; den Namen habe er dem Buche gegeben, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niedern Realität erhebe, die einzelnen Thatsachen nur erzählt werden, um höhere Wahrheiten dadurch zu bestätigen. So hat denn das Buch durch verschiedene in der Folge an den Tag getretene Briefe, die dem Dichtergreise bei seiner Abfassung nicht zu Gebote standen, im Thatsächlichen mancherlei Berichtigungen erfahren; weil indeß besonders über die ersten Jugendjahre Goethe's eine solche Controle fast durchaus fehlt, so wird hier, so weit nicht aus spätern Dichtungen, besonders dem Wilhelm Meister, aufhellende Widerscheine zu gewinnen sind, die nackte Wahrheit schwerlich mehr herzustellen sein. Die erwähnten Berichtigungen betreffen großentheils Gedächtnißfehler; doch kommt noch ein Anderes in Betracht. In Goethe lebte gerade das Gegentheil von dem koketten Cynismus des Verfassers der Confessions, sich von unten zu entblößen und nach oben zu drapiren; er verhüllte was nicht gesehen sein will, um die ganze Aufmerksamkeit auf dem menschlich Bedeutenden festzuhalten.
Wie ein so und so begabtes Individuum in einer gegebenen Weltlage, in einer bestimmten Umgebung, unter allerlei fördernden wie hemmenden Einwirkungen sich entwickelt, eine Strecke vorwärts kommt, dann zurückgeworfen wird, bald jedoch den Schaden wieder gut zu machen und selbst in Gewinn umzuwandeln weiß; die persönlichen Verhältnisse dieses Individuums, Eltern, Geschwister, erste Liebeshändel; weiterhin dann jene Weltlage, die Zustände der Vaterstadt, des Reichskörpers, der Literatur in der Zeit seines Herankommens; zuletzt die Entstehung seiner Erstlingswerke und ihre Wirkungen auf das Publikum, nebst deren Rückwirkung auf den jungen Urheber: das alles hat uns Goethe in Dichtung und Wahrheit in einer Weise dargestellt, die dem Buche in allen seinen Theilen eine vorbildliche Bedeutung gibt, und es hoch über eine gewöhnliche Autobiographie erhebt. Indem wir mit einem Individuum uns sympathisch in Eins setzen dürfen, das unter dem Schütze seines Genius, sicher vorwärts schreitet, aller Hindernisse Meister wird, aus allen Verwicklungen und Kämpfen siegreich hervorgeht, finden wir uns über uns selbst erhoben, den Glauben an die Macht eines reinen Strebens und eine zu dessen Gunsten eingerichtete Welt, damit den Muth des freudigen Wirkens, die Wurzel aller Tugend wie alles Glücks, in uns gestärkt. Daß die Darstellung mit Goethe's Abgang nach Weimar schließt, kann man bedauern; daß er aber keine Lust empfinden konnte, sein Weimar'sches Leben, auf dessen Boden er noch immer stand, zum Gegenstand einer ähnlichen Behandlung zu machen, läßt sich begreifen; und selbst jenem Bedauern muß die Erwägung Schranken setzen, daß die Zeit der Kindheit und Jugend bis zum Beginne des Mannesalters, die für die, Ausgestaltung des Individuums wichtigste in jedem Menschenleben, noch vollständig zur Darstellung gekommen ist.
Während Goethe den Gang seines Lebens in Weimar, besonders nach seiner zweiten Hälfte, in den von ihm sogenannten Tags- und Jahresheften nur gleichsam mit Bleistift skizzirte, hat er Verschiedenes, das ihm auswärts begegnete, uns in ausführlichen Schilderungen überliefert. So die Erlebnisse seiner italienischen Reise, wo besonders der erste Theil, der ganz aus Reisebriefen zusammengesetzt ist, uns von dem ernsten Streben, dem gewaltigen Fortschreiten und dem Glücke, das in dem Gefühle dieses Fortschreitens liegt, eine überaus wohlthuende Vorstellung und Mitempfindung gewährt; ohne daß wir uns doch der Verwunderung erwehren könnten, wie ein so klarer Geist über das Vergebliche seiner Versuche, in der bildenden Kunst selbst etwas zu leisten, sich gar so lange hat täuschen können. Die Champagne in Frankreich, aus Tagebuchnotizen von dem Feldzuge des Jahrs 1792, den Goethe in der Begleitung seines Fürsten mitmachte, zusammengestellt, wird wenig beachtet und ist sogar verleumdet worden. Er soll die schweren Mißgriffe des Hauptquartiers vertuscht, ja die Ursache des Mißlingens fälschlich in die ungünstigen Witterungsverhältnisse verlegt haben. Daß der Dichter jene Fehler nur allzuwohl kannte, hat er für die Verständigen hinlänglich angedeutet; daß es aber dem Vertrauten des Herzogs nicht anstand, aus der Schule zu schwatzen, das werden eben diese Verständigen begreifen, und überdieß unschwer den Gesichtspunkt finden, der die kleine Schrift, wie sie vor uns liegt, uns vollkommen verständlich macht. Dieser ist weder ein strategischer noch ein historisch-politischer, sondern eben auch hier wieder der poetische. Menschengemüth und Menschenleben darzustellen, ist die Aufgabe des Dichters; gut, also wenn es ihn trifft, einen Feldzug mitzumachen, so wird er klar und bestimmt aufzufassen und lebendig wiederzugeben suchen, sowohl wie es unter den Wechselfällen des Krieges den Menschen innerlich zu Muthe ist, als wie sie sich äußerlich dabei ausnehmen, was sie für Gruppen bilden, für Scenen aufführen: und das, sollte ich meinen, habe Goethe hier in einer Vollendung geleistet, die einen Nachfolger zur Verzweiflung bringen könnte.
Unter seinen Briefwechseln hat Goethe den reichsten und wichtigsten, den mit Schiller, noch selbst in dem Bewußtsein herausgegeben, damit »den Deutschen, ja den Menschen eine große Gabe darzubieten,« und es bedurfte der niedrigen Scheelsucht eines Börne, des romantischen Schillerhasses eines A. W. Schlegel, um in dieses Urtheil nicht freudig und dankbar einzustimmen. In mehr als einer Hinsicht gehört der Goethe-Schiller'sche Briefwechsel zu den kostbarsten Stücken in der Schatzkammer unserer Nation. Er führt uns in die Werkstätten zweier großen Genien ein, denen es mit dem Berufe des Dichters strenger Ernst ist, wie sie sich ihre Ansichten und Plane mittheilen, über ihre Arbeiten sich berathen, sich durch gegenseitiges Verständniß fördern, mitunter sich zu einem gemeinsamen Unternehmen verbinden. Es hebt und läutert uns, zwei Menschen zuzusehen, die sich unablässig mit den höchsten Aufgaben beschäftigen, ganz im Dienste der Kunst und der Menschheit leben, und selbst das Kleine und Handwerksmäßige, das unvermeidlich mit unterläuft, im großen Stile behandeln. Dabei thut es uns wohl, zu beobachten, wie zwei so durchaus verschieden, ja in manchem Betracht entgegengesetzt angelegte und dieses Gegensatzes sich vollkommen bewußte Geister, sobald sie nach längerem Fernehalten sich einmal gefunden, nun so unwandelbar verbunden bleiben, den Gegensatz ihrer Naturen als Ergänzung zu verwerthen wissen, und ihren Bund ohne Trübung, ohne Spur von Neid und Eifersucht, wozu in den Verhältnissen des einen, den Erfolgen des andern eine stets sich erneuernde Veranlassung lag, durch volle zehn Jahre, bis zum allzufrühen Scheiden des jüngeren von beiden, lebendig und fruchtbar erhalten. Wundern kann man sich und hat unsern beiden Dichtern nicht selten einen Vorwurf daraus gemacht, daß während eines politisch so bewegten Zeitraums in ihrem Briefwechsel die öffentlichen Dinge so gar keine Rolle spielen, daß insbesondre des verderblichen Kriegs, der das deutsche Reich seinem Untergang entgegenführte, nur gelegentlich, soweit er den Buchhandel oder den Reiseverkehr hemmte, oder ihre Angehörigen und Freunde beunruhigte, Erwähnung geschieht. Erst die neuesten Ereignisse haben uns auf den Standpunkt gestellt, zu ermessen, wie richtig die herrlichen Männer ihren Beruf erkannten. Wozu hätte es helfen können, wenn sie sich in die politischen Zeitinteressen hineinziehen ließen? Hier hieß es in der That: laß die Todten ihre Todten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes. Ihr Beruf war es, unbeirrt durch den unaufhaltsamen politischen Ruin um sie her, eine feste Burg des Geistes zu bauen, worin die Deutschen, indem sie sich als Menschen ausbildeten, zugleich als Nation sich fühlen lernten, um dann, wenn die Stunde schlug, ebenso den Feinden gewachsen, als zum Aufbau eines deutschen Staates fähig zu sein.
Bedeutend und anziehend in andrem Sinn als sein Briefwechsel mit dem gleichstrebenden Dichterfreunde sind Goethe's Briefe an die Frau, deren stillgewaltiger Einfluß nicht wenig dazu beigetragen hatte, ihn auf die Stufe innerer Vollendung zu führen, auf welcher er später sich mit Schiller zusammenfand: seine Briefe an Frau von Stein. In das Innere eines zart und reich besaiteten Dichtergemüths, dem bei seiner weitausgreifenden Thätigkeit auf den Gebieten der Poesie und Naturforschung, der Geselligkeit und der Staatsgeschäfte, die Rückkehr zu dem milden Herdfeuer einer edeln Liebe stetiges Bedürfniß blieb, lassen uns diese Briefe die tiefsten lehrreichsten Blicke werfen. Die Briefe Goethe's an Kestner und Lotte, von deren Sohn unter dem Titel: Goethe und Werther, herausgegeben, sind eine unschätzbare Ergänzung von Dichtung und Wahrheit. Sie zeigen uns einen Abschnitt aus dem Leben des Dichters, der dort im Dufte der späten Erinnerung mit bereits verschwimmenden Umrissen erschien, mittelst der frischen Briefurkunden in der ganzen Schärfe der Wirklichkeit. Ihre Bedeutung ist eine doppelte: einerseits lassen sie uns die thatsächliche Grundlage des Werther sehen, und geben uns damit von Goethe's künstlerischem Verfahren mit seinen Stoffen eine anschauliche Probe; anderntheils zeigen sie uns den Menschen Goethe in einem Conflicte zwischen Neigung und Pflicht: wobei wir die doppelte Befriedigung genießen, den Menschen ebenso achtungswerth als den Dichter bewunderungswürdig zu finden. Goethe's Briefe an Herder und sein Briefwechsel mit Jacobi haben das gemein, daß sie, im Tone überschwenglicher Jugendfreundschaft anhebend, mit einer Verkühlung, einem Auseinandergehen unvereinbarer Naturen endigen. Dagegen führt uns der Briefwechsel mit Knebel, so leicht und mitunter auch gegen Goethe verstimmt der letztere war, doch in erfreulicher Stetigkeit, bei unvertilgbarer Pietät von der einen und treuer Anhänglichkeit von beiden Seiten, bis in das höchste Alter der beiden Freunde, davon der ältere den jüngeren noch überleben sollte, herunter. In ähnlichem Sinne erfreulich wirkt der Briefwechsel mit dem Herzog Carl August, wo, wenn auch der Ton von Seiten Goethe's mit den Jahren förmlicher und der Natur der Sache nach, da viel Dienstliches zu verhandeln war, kanzleimäßiger wird, doch Wärme und Freimuth der alten Freundschaft niemals ganz abhanden kommen. In dem sechsbändigen Briefwechsel mit Zelter macht zwar der letztere mit seiner derben Redseligkeit sich mitunter allzubreit; doch ist die Sammlung neben den Eckermann'schen Unterhaltungen, dem lautersten Medium, worin jemals die Sprüche eines Meisters von einer treuen Jüngersseele aufbehalten worden, für die Zustände, Stimmungen, Beschäftigungen und Urtheile des alten Herrn eine unentbehrliche Erkenntnißquelle. Aber auch von den übrigen Goethe'schen Briefsammlungen, deren Zahl sich fortwährend beinahe mit jedem Jahre noch vermehrt, bis auf die Briefchen an die nie gesehene Auguste Stolberg, oder die Billete an die schöne nur allzuwohl gesehene Branconi hinaus, ist keine, die nicht zu seinem Bilde einen neuen, wenn auch scheinbar unbedeutenden Zug hinzufügte, und – selten und wunderbar – die nicht, wohl und im Zusammenhang verstanden, zu seiner Ehre gereichte. Durch diese Briefsammlungen insbesondre, in Verbindung mit Dichtung und Wahrheit, ist es immer mehr gekommen, daß uns in Goethe neben dem Dichter der Mensch lieb und vertraut geworden, daß wir neben den literarischen Kunstwerken die er geschaffen, zugleich das Kunstwerk seines wohlgeführten, bewegten und reichen, und doch durchaus in harmonischer Einheit zusammengehaltenen Lebens zu betrachten, zu bewundern und für uns fruchtbar zu machen nicht müde werden.
Das eigenthümliche Ergänzungsverhältniß, worin Schiller zu Goethe steht, zeigt sich schon von vorne herein darin, daß genau wo der eine seine starke, der andere seine schwache Seite hat und umgekehrt. Schillers Stärke liegt im Drama, worin Goethe ihn nicht erreicht; in der Lyrik dagegen, worin Goethe so einzig ist, sehen wir Schiller, was deren eigentlichen Kern, das Lied, betrifft, schwach; und im epischen oder erzählenden Fache hat er sich nur flüchtig versucht.
Wenn Schiller im ersten Entzücken über das Mignonlied im achten Buche des Wilhelm Meister an Körner schrieb: »gegen Goethe bin und bleib' ich eben ein poetischer Lump!« so hatte der Freund ganz Recht, ihn vor Uebertreibung der Bescheidenheit zu warnen, und zu erinnern, daß diese Gattung, worin Goethe Vorzüge vor ihm haben möge, nicht die ganze Sphäre der Dichtkunst sei. Aber in dieser Gattung, d. h. der Lyrik im eigentlichsten Sinne, wovon jenes Abschiedslied Mignons eines der zartesten Herzblätter ist, hatte Goethe nicht blos Vorzüge vor Schiller, sondern dieser konnte sich gar nicht mit ihm vergleichen, und dieses richtige Gefühl hat der edle Mann in jenen Worten mit einer Maßlosigkeit, die mit seiner lautern Selbstlosigkeit im Verhältniß steht, ausgesprochen. Wenn er hingegen ein andermal gegen denselben Freund in Bezug auf das Drama äußerte, mit Goethe, wenn er seine ganze Kraft anwenden wolle, messe er sich nicht, und hätte er nicht einige anderweitige Talente und Fertigkeiten in das Gebiet des Drama herüberzuziehen gewußt, so würde er in diesem Fache gar nicht neben jenem sichtbar geworden sein: so hat er sich wirklich Unrecht gethan, und wir haben uns zu erinnern, daß die Aeußerung jener langen Pause zwischen Don Carlos und Wallenstein angehört, wo Schiller unter historischen und philosophischen Beschäftigungen an seinem eigentlichen Berufe irre geworden war. Denn hier, im dramatischen Fache, verhielt es sich gerade umgekehrt: daß Goethe, selbst wenn er seine ganze Kraft aufbot, mit Schiller sich nicht messen konnte. Das hat dieser später, nachdem er sich poetisch wiedergefunden, gar wohl erkannt und gleich auch richtig begrenzt, wenn er von Goethe's Iphigenie urtheilte, die sinnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles, was ein Werk zu einem echt dramatischen stemple, gehe ihr ab, dabei habe sie aber, unabhängig von der dramatischen Form, so hohe allgemein poetische Eigenschaften, sei ein so seelenvoll-sittliches Product, daß sie, blos als dichterisches Geisteswerk betrachtet, für alle Zeiten unschätzbar bleibe.
Schiller's lyrische Gedanken verdanken ihren hohen und wohlverdienten Ruhm nicht dem Lyrischen im engern Sinne, sondern dem Didaktischen, dem Epigrammatischen, sowie der Mittelform der Ballade. Von seinen Liebesliedern sind die jugendlichen schwülstig, die wenigen aus späterer Zeit matt und wollen nicht viel sagen; seine geselligen Lieder sind zum Theil durch allzuschweren Gedankengehalt an der freien und leichten Bewegung gehindert; sein Lied an die Freude hielt er später selbst für mißlungen und wollte es in die Sammlung seiner Gedichte nicht aufnehmen. Man darf es auch nur mit dem Goethe'schen Freudenlied, ich meine sein: Mich ergreift, ich weiß nicht wie u. s. f. vergleichen, um zu sehen, wo es ihm fehlt. Die Götter Griechenlands sind eine großartige religionsgeschichtliche Elegie, das Wort gegen das Christenthum, das von jeher dem Humanismus auf der Seele lag, kühn und klangvoll ausgesprochen; aber wie viel poetisch-lebendiger hat Goethe das gleiche Thema, freilich nur nebenher, in der Braut von Korinth behandelt.
Gemeinsam ist unsern beiden Dichtern, daß, nachdem sie ihre Laufbahn mit Ungestüm und Glanz begonnen, bei beiden eine Zeit des Stillestehens und der Besinnung eintrat, wo sie, mit ihren bisherigen Leistungen nicht mehr zufrieden, eine reinere Form zu gewinnen strebten. Wie aber Goethe dieß im Anschluß an die klassische Kunst zu erreichen suchte, so gab sich Schiller, neben der Lectüre der griechischen Dichter, der Philosophie, und zwar der Kantischen, in die Schule. Wir verdanken dieser Beschäftigung einige der werthvollsten unter seinen prosaischen Schriften; auch seiner Dichtung hat er dabei die ursprüngliche Wildheit und Gewaltsamkeit, doch zugleich auch etwas von ihrer Frische und Natürlichkeit abgethan, und hätte er nicht das Glück gehabt, eben beim Heraustreten aus jener Kaltwasseranstalt mit Goethe zusammenzutreffen, der ihn mit einemmale wieder auf den Boden der Poesie, und zwar der echtesten, versetzte, so möchte ihm die Cur nicht zum besten bekommen sein.
Für das lyrische Fach trug sie verschiedene Früchte, die der Dichter selbst nach dem Maße der Anstrengung schätzte, die sie ihn gekostet hatten; eine Schätzung, die sich bei dem Leser in Bezug auf die Mühe, die ihn das Verständniß einer Dichtung kostet, eher umzukehren pflegt. Wie viel machte sich Schiller mit dem Gedichte: Die Künstler, zu schaffen, dessen Gedankengehalt wir lieber in seinen ästhetischen Abhandlungen aufsuchen, während wir es in Betreff des Gedichts durchaus mit Wieland halten, der sich von dem Durcheinander poetisch wahrer und wirklich wahrer Stellen in demselben incommodirt, von dem luxuriösen Uebergehen von einem Bilde, einer Allegorie zur andern geblendet fand, und das Ganze gar nicht für ein eigentliches Gedicht erkennen wollte; ein Urtheil, dem in spätern Jahren Schiller selbst Recht gab, indem er Anstand nahm, das mühsame Werk der Sammlung seiner Gedichte einzuverleiben. Das Reich der Schatten, oder wie er es später nannte, Das Ideal und das Leben, wollte der Dichter von den Freunden in geweihter Stille gelesen wissen und hielt es für sein lyrisches Meisterwerk: wir bewundern bei dem abstrusen Inhalte die Vollendung der dichterischen Form; aber wenn wir uns an Schiller als Lyriker erfreuen, ja wenn wir uns seines Dichtertalents überhaupt versichern wollen, so greifen wir weit eher nach einem Stücke wie Die Theilung der Erde, das er selbst eine Schnurre nannte; wie die Nadowessische Todtenklage, die der sonst fein urtheilende Körner nur zur Noth gelten lassen wollte; wie Die Ideale, deren Werth außer dem Dichter selbst nur Goethe recht erkannte; wie Die Sehnsucht, für deren echt lyrische Natur schon die Anhänglichkeit spricht, die ihr von jeher die Musik bewiesen hat.
Als die Krone aller lyrischen Leistungen Schiller's aber haben wir Das Lied von der Glocke zu betrachten, ein lehrhaftes Bild des menschlichen Lebens nach seinen verschiedenen Verhältnissen und Situationen, sinnreich an eine handwerkliche Verrichtung angeknüpft; eine Dichtung, bei deren Vortrage zwar die romantische Bande am Theetisch der Frau Caroline Schlegel in Jena vor Lachen von den Stühlen fallen wollte, von der aber ernste unverschrobene Menschen noch werden gerührt und ergriffen werden, wenn man über die Thorheiten und Bosheiten der Romantiker nicht einmal mehr lachen oder die Achseln zucken wird. Zugleich trägt das Gedicht wie kaum ein andres den Stempel des Schiller'schen Genius; so wenig wie Schiller Hermann und Dorothea, hätte Goethe das Lied von der Glocke dichten können. Ein reicher Gehalt von Gedanken und sittlichen Wahrheiten, in edle classische Form, wenn auch nicht immer in tadellose Hexameter und Pentameter gebracht, zum Theil zu unvergeßlichen Sprüchen ausgeprägt, liegt auch in den elegisch gemessenen Gedichten: Der Spaziergang, Votivtafeln, und verschiedenen Epigrammen; und daß im eigentlichen Epigramm mit seinem Stachel Schiller ihm überlegen sei, hat bei Gelegenheit der von ihnen gemeinschaftlich gearbeiteten Xenien Goethe selbst anerkannt.
Glänzend und gewaltig treten Schiller's Balladen auf: ein Fach, worin während der spätern neunziger Jahre zwischen beiden Dichterfreunden ein förmlicher Wettstreit entbrannte. Man pflegt die Ballade als episch-lyrische Dichtung zu bezeichnen; aber das Epische in ihr ist nur novellistisch, ein einzelnes Ereigniß außerordentlicher Art, das im Erzählen drastisch behandelt sein will, mithin zugleich dem dramatischen Talente Spielraum gewährt. Daraus erklärt sich Schiller's Vorliebe für die Ballade, wie sein Erfolg darin; zugleich aber auch aus seiner dramatisch-pathetischen Art, dergleichen Stoffe anzufassen, der Mangel eigentlich epischer Einfalt und Schlichtheit, der die Mehrzahl seiner Balladen von den Goethe'schen unterscheidet. Ganz besonders sind dem Dichter diejenigen gelungen, in denen er sich an die Antike anschloß, wie der echt herodotisch empfundene Ring des Polykrates; wie die Kraniche des Ibycus, denen er einen äschyleischen Chorgesang in geistvoller Umdichtung einverleibt hat; wie das herrliche Siegesfest von ihm übrigens als geselliges Lied gedichtet, worin er, wie er selbst gegen Goethe sich ausdrückte, in das volle Saatenfeld der Ilias hineingefallen ist; wie Hero und Leander, die nur von mythologischer Phraseologie etwas gar zu stark überwuchert erscheinen. Unter den romantischen Sujets ist der Taucher durch seine großartigen Naturbilder ausgezeichnet, und vermöge der Lebendigkeit der Darstellung ein beliebtes Declamationsstück geworden; Ritter Toggenburg ist schön und einfach erzählt, und zart, fast allzuweich, empfunden; Die Bürgschaft und Der Gang nach dem Eisenhammer dramatisch ergreifend, nur daß in dem letztern wie im Grafen von Habsburg die Ausmalung der katholischen Frömmigkeit der Helden für Schiller etwas Gemachtes hat; ein Prachtstück von Malerei durch Sprache und Rhythmus ist Der Handschuh; dagegen haben bei dem Kampf mit dem Drachen mit seinen 25 zwölfzeiligen Strophen nicht allein die bösen Romantiker etwas von langer Weile empfunden.
Im Fache der prosaischen Erzählung ist Schiller's Geisterseher das Bruchstück eines unvollendet gebliebenen Romans; Der Verbrecher aus verlorener Ehre und Spiel des Schicksals wirkliche Ereignisse, novellistisch behandelt. In dem Romanbruchstück ist alles dem Drama Verwandte, wie die Scenen mit dem Armenier und seinen Kunststücken, auf's spannendste und ergreifendste behandelt, dagegen wird die epische Ruhe und Breite vermißt; am Ende war auch das Sujet nur ein novellistisches, und so möchte Schiller dasselbe, wenn es ihn in der Folge noch zur Vollendung gereizt hätte, ohne Zweifel glänzend durchgeführt haben. Denn daß er zur Novelle trefflich begabt war, das zeigen jene beiden kleineren Erzählungen, die im Verhältniß zu ihrem Werthe allzuwenig beachtet werden. Auch wissen die wenigsten Leser, daß nicht nur sie, sondern auch der Geisterseher Stoffe behandeln, die der Würtembergischen Zeitgeschichte entnommen sind, mit deren Ereignissen sich die Phantasie des ehemaligen Karlsschülers noch Jahre lang, noch bis in die Dresdener und erste Weimarer Periode hinein, erfüllt zeigt. Wie nämlich der Sonnenwirth ein noch heute im Volksmunde lebender Würtembergischer Räuber, wie im Spiel des Schicksals Aloysius von G... und Martinengo die beiden Rivalen um die Gunst des Herzogs Carl, Oberst Rieger und Graf Montmartin, sind, so ist die Fabel des Geistersehers ihren äußeren Umrissen nach nichts anderes, als die Geschichte der Bekehrung des Würtembergischen Prinzen und nachmaligen Herzogs Carl Alexander (des Vaters von Herzog Carl) zum Katholicismus. Die inneren Triebfedern allerdings waren in der Wirklichkeit bei Weitem nicht so fein, wie der Dichter sie uns darstellt: es handelte sich im entferntesten nicht um philosophisch-religiöse Scrupel, sondern lediglich um Geld, das dem schmal apanagirten Prinzen von den Würtembergischen Ständen verweigert, von den Wiener Jesuiten, wie man glaubte, um den Preis seines Uebertritts gewährt wurde; aber wenn bei Schiller der geheimnißvolle Armenier eines Abends auf dem Marcusplatz in Venedig dem Prinzen zuflüstert: um 9 Uhr ist er gestorben, so ist damit auf den geschichtlichen Umstand angespielt, daß der Tod des Würtembergischen Erbprinzen vor seinem Vater (am 23. November 1731) den einer Seitenlinie entsprossenen Prinzen Carl Alexander zum künftigen Nachfolger im Herzogthum machte.
Unter den Schiller'schen Dramen stelle ich Wallenstein, Tell, Kabale und Liebe – diese und in dieser Ordnung – oben an.
Wallenstein gehört, wie Goethe's Faust, Meister, Wahlverwandtschaften, Hermann und Dorothea, zu den Dichtungen, die man jedes Jahr billig von neuem lesen sollte. Unter den Schiller'schen Stücken ist er das reichste, kräftigste, ausgereifteste. Er verleugnet seinen Pathen nicht: ich meine, daß er in der Zeit der ersten frischesten Einwirkung Goethe's auf Schiller gedichtet ist. Der Idealismus des letztern erscheint von dem Realismus des andern hier ganz satt durchdrungen. Auch Shakespeare's Einfluß ist in der breiten Pinselführung wie in der Fassung des Hauptcharakters zu spüren: Wallenstein ist ein Macbeth, der zugleich ein Hamlet ist. Allerlei oft besprochene Mängel fehlen nicht; aber gegen die Wirkung des Ganzen kommen sie nicht auf. Das Vorspiel: Wallenstein's Lager, ist leider der letzte Schößling, den die in den Räubern und Kabale und Liebe noch so ausgiebige komische Kraft bei Schiller getrieben hat; mit einer Leichtigkeit und guten Laune gedichtet, daß nichts darüber geht. Die Art, wie er in der Kapuzinerpredigt aus einem ihm so fremdartigen Material, wie die Predigten des Pater Abraham a Sancta Clara, sind, die Quintessenz herausgezogen, zeigt, wie in der Tragödie selbst die Behandlung des astrologischen Wesens, oder unter den lyrischen Gedichten die Nadowessische Todtenklage, welch ungemeines Talent Schillern zu Gebote stand, gegebene Stoffe in ganz objectiver Weise sich poetisch anzueignen, so oft er es der Mühe werth fand, sich einem solchen Zwange zu unterwerfen.
Merkwürdig frisch, localfarbig, volksthümlich ist Tell. Gleich die Eröffnungsscene am See gehört zu den größten poetischen Meisterstücken aller Zeiten. Zugleich hat Schiller sein eigenes politisches Pathos nirgends so rein und voll zum Ausdrucke gebracht. Die improvisirte Urtagssatzung auf dem Rütli ist ein ungemein genialer Griff. In der Scene mit dem Apfelschuß geht uns der Athem aus, so werden wir gespannt. Die unvermeidliche Liebesgeschichte erscheint in Vergleichung mit früheren im Zustand äußerster Eintrocknung, bleibt darum auch mehr im Hintergrunde. Störend wirkt mitunter die Dissonanz zwischen der derben Localfärbung, die überall angestrebt und häufig erreicht ist, und der bereits zur Manier gewordenen hellenisirenden Classicität. Die hochstilisirte Scene zwischen Stauffacher und seiner Frau im ersten Act, unmittelbar nach der volksthümlichen Eröffnungsscene, macht sich in dieser Hinsicht selbst auf der Bühne unangenehm.
Kabale und Liebe ist, trotz aller Unwahrscheinlichkeiten und was sonst der Verstand daran aussetzen mag, ein Stück (aber man muß es aufführen sehen) von hinreißender tragischer Kraft. Wie naturwüchsig das dramatische Talent bei Schiller war, wird nirgends anschaulicher als in diesem Jugendwerke, auf das die Theorie noch wenig Einfluß hatte. Dabei ist ein Stück deutscher Geschichte darin, so bedeutsam an sich und nicht minder kräftig gezeichnet als im Wallenstein. Von den einzelnen Personen ist der Musicus Miller eine geradezu unschätzbare, im besten Sinne deutsche, man darf vielleicht sagen, schwäbische Schöpfung, dergleichen dem Dichter später keine mehr gelungen, ja keine mehr von ihm versucht worden ist.
Von den übrigen Schiller'schen Dramen ist aus der Gruppe der drei ersten Sturm- und Drangstücke Fiesco das schwächste, Die Räuber das kühnste, aber doch noch äußerst jugendlich. Man staunt, wie in den 2–3 Jahren bis zu Kabale und Liebe der Dichter so schnell herangereift ist.
Das Stück der beginnenden Umbildungszeit, Don Carlos, ist mir immer höchst schätzbar gewesen. So wenig es als Ganzes befriedigen kann, so edel und ergreifend ist es in einzelnen Theilen. Posa ist, wie mit Recht gesagt worden, der prophetische Vorläufer der Redner der französischen Nationalversammlung, und wenn Schiller seinen politischen Freiheitsdrang ihm in den Mund gelegt hat, so hat er sein Freundschaftsbedürfniß und seine idealistische Frauenliebe in Carlos selbst zur Darstellung gebracht.
Unter den Stücken der classischen Periode, die durch Wallenstein eröffnet ist, hat es der Dichter mit dem nächsten, ermüdet offenbar von der langen sauren Arbeit an jener Trilogie, zu leicht genommen. Maria Stuart erschöpft den tragischen Gehalt der geschichtlichen Situation, die darin behandelt ist, bei Weitem nicht. An einem Dichter von so viel historischem und politischem Sinne wie Schiller kann es uns in der That verdrießen, wie gering er einen politischen Charakter wie Elisabeth, einen Staatsmann wie Burleigh, nimmt. Und seine Maria ist eine Magdalena – aber Magdalenen zu malen, müßten die Dürer's den Correggio's überlassen. Daneben übrigens, wen sollte die lyrische Gartenscene nicht ergreifen, und den Zank der beiden Königinnen nehme ich gegen den Vorwurf allzugroßer Derbheit in Schutz.
Ein weibliches Wesen zur Hauptfigur eines Drama zu machen, war überhaupt ein Mißgriff von Schiller, dem Frauen nur ausnahmsweise und als Nebenrollen nicht mißlangen. Seine Jungfrau von Orleans, für die wir in der Jugend alle geschwärmt haben, sagt dem reiferen Geschmacke nicht mehr zu. Viel zu wenig Naivetät, und viel zu viel Rhetorik. Die geschichtliche Figur der Johanna ist weit anziehender, weit poetischer als die dramatische. Für unsre Schauspielerinnen ist die Rolle durch ihr declamatorisches Pathos geradezu ein Fallstrick geworden. Die Idee, das Ueberfliegen der weiblichen Natur und Bestimmung von Seiten der Heldin durch eine Regung weiblichster Schwachheit, die himmlische durch die irdische Liebe zu Falle kommen zu lassen, ist in abstracto vortrefflich; aber die Ausführung so verfehlt, daß sie dem Platen'schen Epigramm anheimfällt von der »begeisterten Jungfrau, die sich furchtbar schnell in den britischen Lord verliebt.« Die Abweichung von der geschichtlichen Wahrheit am Schlusse der Tragödie geht über die Grenze des Erlaubten; wo die entsetzliche Wirklichkeit so notorisch ist, da erscheint die Verklärungsscene auf dem Theater als Spiegelfechterei. Aber der Proceß, wendet man ein, und der Scheiterhaufen waren doch auch nicht zu brauchen. Ganz recht; so wenig als das Schaffot im Egmont oder das Rad bei'm Sonnenwirth; in diesen beiden Fällen aber haben sich sowohl Schiller als Goethe besser aus der Sache zu ziehen gewußt. Daß übrigens das Stück an Schönheiten aller Art, an Scenen gewaltigster tragischer Wirkung, an Kundgebungen des edelsten Vaterlandsgefühls reich ist, wer wäre so stumpfsinnig, das zu verkennen?
Die Braut von Messina ist ein Versuch des Dichters, die moderne Tragödie durch Wiedereinführung des Chors im Sinne des griechischen Idealismus zu reformiren. Um eine dazu passende Handlung zu bekommen, entnahm er den früher von ihm bearbeiteten Phönissen des Euripides das feindliche Brüderpaar sammt dem vergeblich warnenden Orakelspruch; während er den Gräuel der unbewußten Mutterehe in den einer Schwesterehe verwandelte. Allein ödipodeische Schicksalsknoten lassen sich nicht so aus freier Hand nachflechten; die lediglich ad hoc, d. h. um der ihnen zugedachten Conflicte willen ersonnenen und ausgestatteten Personen können uns die Theilnahme nicht abgewinnen, die wir nur voll und innerlich lebendigen Wesen widmen; der Versuch mit den Chören aber, wenn diese auch bei der Aufführung, wohl gesprochen, durch die Wucht der Gedanken und der Worte nicht ohne Wirkung bleiben, ist doch für die Entwicklung des modernen Drama, wie zu erwarten war, ohne Frucht geblieben.
Höchst bedeutend in jedem Sinne wäre ohne Zweifel Demetrius geworden; die Aufgabe, sowohl nach der politischen wie nach der psychologischen Seite ganz für Schiller, die vorhandenen Anfänge vielversprechend: aber dieses Werk hat das Schicksal uns nicht mehr gegönnt.
Schiller's historische Schriften haben für uns in der Hauptsache nur noch den Werth der glänzenden Darstellung und der eingeflochtenen Gedanken, beziehungsweise, wie die Geschichte des dreißigjährigen Kriegs, auch den eines Einblicks in seine Vorstudien zu dichterischen Hervorbringungen. Dagegen kommt mehreren seiner ästhetisch-philosophischen Abhandlungen eine bleibende Bedeutung zu. In den philosophischen Briefen zwischen Julius und Raphael ist, obwohl noch auf dem Boden der Leibnizischen Weltanschauung, doch dem pantheistischen Idealismus der späteren deutschen Philosophie schon tüchtig vorgearbeitet; die Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung ist die Grundlage unsrer neuern Aesthetik geworden; während die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen die Grundlinien einer Culturgeschichte ziehen. Von Schiller's Briefen sind die an Goethe bereits besprochen; zu Goethe's Briefen an Frau von Stein bilden die Schiller'schen an Körner ein Seitenstück – hier der Freund wie dort die Freundin auf die Entwicklung des Dichters von nachhaltigem Einfluß –; mit Körner's treuen, verständigen, aufrichtigen Antworten für die tiefere Einsicht in Schiller's Wesen und Streben unentbehrlich. Je bedeutendere Erörterungen von beiden Seiten wir in Schiller's Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt finden, desto mehr ist es zu beklagen, daß er uns, in Folge ungünstiger Zufälligkeiten, nur so lückenhaft erhalten ist. Schiller's Briefe an Eltern und Geschwister zeigen die Familie, aus der er hervorgegangen, wie ihn selbst als Sohn und Bruder, von der achtungswerthesten Seite; die an Fichte und A. W. Schlegel stellen ihn uns in seiner, wo er es für nöthig hielt, bis zur Schroffheit gehenden Offenheit und Strenge, zugleich aber auch in seiner merkwürdigen Geschäftsgewandtheit vor; höchst liebenswürdig im täglichen Leben erscheint er in den Briefen des jungen Voß, der ihm in seinem letzten Lebensjahre nahe stand; und ein gemächliches Idyll, von der Hand eines treuen Jugendfreundes im Alter aufgezeichnet, ist Schiller's Flucht aus Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von Streicher.
»Sie sind,« schrieb im Jahr 1803 Wilhelm von Humboldt aus Rom an Schiller, »Sie sind der glücklichste Mensch. Sie haben das Höchste ergriffen, und besitzen Kraft, es festzuhalten. Es ist Ihre Region geworden; und nicht genug, daß das gewöhnliche Leben Sie darin nicht stört, so führen Sie aus jenem bessern eine Güte, eine Milde, eine Klarheit und Wärme in dieses herüber, die unverkennbar ihre Abkunft verrathen. So wie Sie in Ideen fester, in der Production sicherer geworden sind, hat das zugenommen. Für Sie braucht man das Schicksal nur um Leben zu bitten. Die Kraft und die Jugend sind Ihnen von selbst gewiß.« Das Leben ließ den theuren Mann im Stiche, kaum anderthalb Jahre nachdem der Freund so geschrieben hatte; aber Kraft und Jugend sind ihm treu geblieben und wirken durch seine Dichtungen noch heute und auf alle Zeiten fort.