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I. Sind wir noch Christen?

4.

Christen in welchem Sinne? Denn das Wort hat jetzt einen nicht blos nach den Confessionen, sondern noch mehr nach den mancherlei Abstufungen zwischen Glauben und Aufklärung, verschiedenen Sinn, Daß wir es im Sinne des alten Glaubens irgend einer Konfession nicht mehr sind, versteht sich nach dem Bisherigen von selbst; auch von allen den verschiedenen Schattirungen, in denen das heutige Christenthum schillert, kann es sich bei uns nur etwa um die äußerste, abgeklärteste handeln, ob wir uns zu ihr noch zu bekennen vermögen. Indeß auch an ihr würde uns manches unverständlich bleiben, wenn wir uns nicht vorher den alten Christenglauben wenigstens in seinen Umrissen zur Vorstellung gebracht hätten; die Mischformen sind nur aus der reinen Grundform zu verstehen.

Wollen wir sehen, wie der alte unverfälschte Kirchenglaube beschaffen war und wie er sich heute ausnimmt, so müssen wir ihn nicht bei einem heutigen Theologen, auch keinem orthodoxen, suchen, wo er ohne Ausnahme immer schon gemischt erscheint, sondern aus der Quelle, aus einem der alten Glaubensbekenntnisse schöpfen. Wir nehmen das seiner Grundlage nach älteste, das zugleich heute noch in kirchlichem Gebrauche ist, das sogenannte apostolische Symbolum, indem wir es gelegentlich aus spätern Lehrbestimmungen ergänzen und erläutern.

Das apostolische Symbolum ist in drei Artikel getheilt nach dem Schema der göttlichen Dreieinigkeit, dem Grunddogma des altkirchlichen Glaubens. Von dieser selbst sagt es weiter nichts aus; um so mehr thun das die späteren Glaubensbekenntnisse, das nicänische und besonders das sogenannte athanasianische. »Der katholische Glaube ist,« sagt das letztere, »daß wir Einen Gott in der Dreiheit und die Dreiheit in der Einheit verehren, ohne weder die Personen zu vermischen, noch das Wesen zu theilen.« Eine andere sei nämlich die Person des Vaters, eine andere die des Sohnes, eine andere die des heiligen Geistes, und doch alle drei nur Ein Gott.

Ist es doch, als hätten diese alten Christen, je unwissender sie in allen natürlichen Dingen waren, um so mehr Denkkraft für dergleichen Uebernatürlichkeiten zur Verfügung gehabt: denn derartige Zumuthungen, drei als eins und eins als drei zu denken, wobei unser Verstand uns geradezu seine Dienste versagt, waren ihnen eine Kleinigkeit, ja eine Liebhaberei, worin sie lebten und webten, worüber sie Jahrhunderte lang mit allen Waffen des Scharfsinns und der Sophistik, zugleich aber auch mit einer Leidenschaft, die vor Gewalt und Blutvergießen nicht zurückscheute, streiten konnten. Noch ein Reformator ist es gewesen, der um einer Ketzerei in dieser Lehre willen einen verdienstvollen Arzt und Naturforscher, der nur die Schwachheit hatte, zugleich von der Theologie nicht lassen zu können, auf den Scheiterhaufen brachte.

Wir Heutigen können uns für ein solches Dogma nicht mehr weder erhitzen noch auch nur erwärmen: ja selbst denken können wir uns nur dann noch etwas dabei, wenn wir etwas anderes dabei denken, d, h. es umdeuten; statt dessen wir aber besser thun, uns deutlich zu machen, wie die alten Christen nach und nach zu einer so seltsamen Lehre gekommen sind. Doch dieß gehört der Kirchengeschichte an, die uns zugleich zeigt, wie die neueren Christen wieder davon gekommen sind; denn, wird sie auch äußerlich noch mitgeführt, so hat doch die Dreieingkeitslehre sogar in übrigens rechtgläubigen Kreisen ihre frühere Lebenskraft verloren.

5.

Der erste Artikel des apostolischen Symbols sofort spricht einfach den Glauben an Gott den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde aus.

Auf den allgemeinen Begriff eines weltschaffenden Gottes kommen wir als auf einen religiösen Grundbegriff später noch zurück; hier werfen wir auf die nähern Bestimmungen einen Blick, die der kirchlichen Vorstellung von der Weltschöpfung aus der biblischen Erzählung 1. B. Mosis 1, die geradewegs zum Glaubensartikel gestempelt wurde, erwachsen sind.

Es ist dieß das berühmte Sechstagewerk, wornach Gott die Welt nicht durch einen einfachen Willensact auf einmal, sondern, im Anschluß an die jüdische Wocheneintheilung, nach und nach in 6 Tagen ins Dasein gerufen haben soll. Nehmen wir diese Erzählung wie sie lautet, fassen nur sie als Product ihrer Zeit, und vergleichen sie mit den Schöpfungsgeschichten oder Kosmogonien, die wir bei anderen alten Völkern antreffen, so werden wir sie bei all ihrer Kindlichkeit höchst sinnig finden und mit Achtung und Wohlgefallen betrachten. Daß er vom kopernicanischen Weltsystem und den neueren Ergebnissen der Geologie nichts wußte, werden wir dem alten hebräischen Dichter nicht zum Vorwurfe machen.

Welches Unrecht thut man doch einer solchen biblischen Erzählung, die uns an und für sich nur lieb und ehrwürdig sein könnte, wenn man sie zum Dogma versteinert. Denn da wird sie alsbald zum Riegel, zur hemmenden Mauer, gegen die sich nun der ganze Andrang der fortschreitenden Vernunft, alle Mauerbrecher der Kritik, mit leidenschaftlichem Widerwillen richten. So hat es ganz besonders dieser mosaischen Schöpfungsgeschichte ergehen müssen, die, einmal zum Dogma gemacht, die ganze neuere Naturwissenschaft gegen sich unter die Waffen rief.

Den Hauptwiderspruch mußte die Stellung erregen, die sie der Erschaffung der Himmelskörper gab. Diese kommen bei ihr in jedem Betrachte zu spät. Die Sonne wird erst am vierten Tage geschaffen, nachdem bereits drei Tage lang der Wechsel von Tag und Nacht, der ohne die Sonne nicht denkbar ist, stattgefunden haben soll. Ferner wird die Erde mehrere Tage vor der Sonne geschaffen, und dieser wie dem Monde nur eine dienende Beziehung zur Erde gegeben, der Sterne aber nur ganz nebenher gedacht. Eine Verkehrung der wahren Rangverhältnisse unter den Weltkörpern, die einem geoffenbarten Berichte schlecht anstand. Auch das mußte auffallen, daß Gott sich zur Erschaffung und Ausbildung der Erde ganze fünf Tage, zur Hervorbringung der Sonne dagegen sammt allen Fixsternen und übrigen Planeten (die freilich in der biblischen Erzählung dieß nicht, sondern nur angezündete Lichter sind) nur einen einzigen Tag Zeit genommen haben sollte.

Waren dieß astronomische Bedenken, so kamen aber bald nicht geringere geologische hinzu. An Einem Tage, dem dritten, sollen Meer und Land von einander gesondert und überdieß noch die gesammte Pflanzenwelt geschaffen worden sein; während unsere Geologen nicht mehr blos von Tausenden, sondern von Hunderttausenden von Jahren zu sagen wissen, die zu jenen Bildungsprocessen erforderlich gewesen. Am sechsten Tage sollen, die Tags zuvor geschaffenen Vögel abgerechnet, sämmtliche Landthiere, die kriechenden miteingeschlossen, und zuletzt der Mensch in's Dasein getreten sein; Entwicklungen, die gleichfalls, wie die jetzige Wissenschaft uns belehrt, Erdperioden von unermeßlicher Dauer in Anspruch nahmen.

Nun gibt es freilich noch heute nicht blos Theologen, sondern selbst Naturforscher, die hier allerlei Hausmittelchen in Bereitschaft haben. Daß Gott die Sonne erst drei Tage nach der Erde geschaffen, soll heißen, daß sie damals erst dem dunstigen Erdball sichtbar geworden: und die Tage, obwohl von dem Erzähler unmißverstehbar zwischen Abend und Morgen eingerahmt, sollen keine Tage von 12 oder 24 Stunden, sondern Schöpfungsperioden bedeuten, die man so lang annehmen kann als man sie braucht.

6.

Wem es Ernst ist mit dem alten Christenglauben, der hat hier vielmehr zu sagen: Wissenschaft hin, Wissenschaft her, so stehts einmal in der Bibel, und die Bibel ist Gottes Wort. Diese Benennung nimmt die Kirche, und ganz besonders die evangelische, im strengsten Wortverstande. Die heilige Schrift mit ihren verschiedenen Büchern ist wohl von Menschen geschrieben, aber diese waren dabei nicht ihrem lecken Gedächtniß, ihrem irrthumsfähigen Verstande überlassen, sondern Gott selbst (d.h. der heilige Geist) gab ihnen ein was sie schreiben sollten: und was Gott eingibt, muß untrügliche Wahrheit sein. Also wo diese Bücher erzählen, ist ihnen unbedingter historischer Glaube beizumessen: was sie lehren, ist ebenso unbedingt als Richtschnur für Glauben und Leben anzusehen. Von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen kann in der Bibel keine Rede sein. Sie mag erzählen oder lehren, wogegen unsere Vernunft sich noch so sehr sträubt: wo Gott spricht, da steht der menschlichen Vernunft einzig bescheidenes Schweigen an.

Wie, oder wäre die heil. Schrift etwa nicht Gottes Wort? Nun, so erkläret denn, wie Jesaia, wenn er seinem menschlichen Wissen überlassen war, vorhersagen konnte, daß Jesus als Sohn einer Jungfrau, wie Micha, daß er in Bethlehem zur Welt kommen sollte? Wie konnte derselbe Jesaia anderthalbhundert Jahre vorher den Perser Cyrus als denjenigen mit Namen nennen, der die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft (die sie damals noch gar nicht angetreten hatten, entlassen würde: wie konnte gar Daniel unter Nabonned und Cyrus ohne göttliche Eingebung so vieles Einzelne aus der Geschichte Alexanders des Großen und seiner Nachfolger bis auf Antiochus Epiphanes prophezeien?

Ach, das alles hat sich ja seitdem nur gar zu gut – für die Wissenschaft nämlich; für den alten Glauben freilich sehr schlimm – erklärt. Weder Jesaias mit seinem Jungfrauensohne noch Micha mit seinem Herrscher aus Bethlehem haben von ferne an unseren Jesus gedacht: das letzte Drittheil aber der sogenannten Jesaiasweissagungen rührt von einem Zeitgenossen des Cyrus, wie das ganze Buch Daniel von einem Zeitgenossen des Antiochus her, von denen sie also in sehr menschlicher Art, nämlich nach oder während der Erfüllung, weissagen konnten. Aehnliches hat sich längst auch in Bezug auf andere biblische Bücher gefunden: wir haben keinen Mose, keinen Samuel unter ihren Verfassern mehr; die nach ihnen genannten Bücher sind als weit spätere Kompilationen erkannt worden, in die mit wenig Kritik und viel Tendenz ältere Stücke aus verschiedenen Zeiten zusammengearbeitet sind. Daß in Betreff der Schriften des Neuen Testaments das Ergebniß im Wesentlichen ein gleiches war, ist bekannt, und wir werden bald weiter davon zu sprechen haben.

7.

Wir sind nun schon einmal von dem apostolischen Symbolum abgekommen; es faßt sich auch in seinem ersten Artikel gar zu kurz. Gehen wir jetzt lieber noch einen Schritt weiter mit der mosaischen Erzählung, deren zweites und drittes Kapitel wie das erste mit zur Grundlegung der christlichen Kirchenlehre verwendet worden sind. Auf die Schöpfungsgeschichte folgt die Geschichte des sogenannten Sündenfalls der ersten Eltern: ein Punkt von eingreifender Wichtigkeit, sofern zur Tilgung seiner Folgen später der Erlöser in die Welt geschickt worden sein soll.

Auch hier wie in der Schöpfungsgeschichte haben wir in der alten Erzählung ein Lehrgedicht vor uns, das, an sich aller Ehren werth, erst durch seine Erhebung zum Dogma in die unangenehme Lage versetzt worden ist, zunächst vielfach mißdeutet, dann angefeindet und bestritten zu werden. Der Dichter will erklären, wie doch in die von Gott sicherlich gut geschaffene Welt all das Uebel und Ungemach, worunter der Mensch jetzt leidet, hereingekommen? Gott kann die Schuld nicht haben, der Mensch soll sie wenigstens nicht allein haben: so wird ein Verführer eingeschoben, der das erste Menschenpaar zur Übertretung des göttlichen Verbots beredet, und dieser Verführer ist die Schlange.

Darunter verstand der Verfasser des Schriftstücks nichts anders als das bekannte räthselhafte Thier, von dem das höhere Alterthum so manches Seltsame zu erzählen wußte: aber das spätere Judenthum und bald auch die Christenheit verstand den Teufel darunter, der aus der Zendreligion in die jüdische eingewandert, bald in ihr, und weit mehr noch in der christlichen, eine so große Rolle spielen sollte.

Denken wir nur an Luther, der in diesem Teufelsglauben lebte und webte. Auf Schritt und Tritt machte er sich mit dem bösen Feinde zu schaffen. Nicht blos böse Gedanken und Anfechtungen, auch äußere Unfälle, die den Menschen betreffen, Krankheit und jähen Tod, Feuersbrunst und Hagelschlag, leitete er von unmittelbarem Einwirken des Teufels und seiner höllischen Spießgesellen her. So unleugbar dieß für einen niedrigen Stand seiner Naturkenntnisse wie seiner Bildung überhaupt zeugt, so kann doch in einem großen Menschen gelegentlich auch der Wahn sich großartig gestalten. Jedermann kennt Luthers Ausspruch über die Teufel in Worms, wenn ihrer soviel als der Dachziegel wären: aber schon auf dem Wege dahin hatte er mit dem alten bösen Feind einen Strauß bestanden. Als er auf der Durchreise in Erfurt predigte, krachte die überfüllte Empore; der Schrecken war groß, Gedräng und Unglück konnte entstehen; da donnerte Luther von der Kanzel aus den Teufel an, den er in dem Spuke wohl erkenne, dem er aber rathen wolle, sich ruhig zu verhalten; worauf wirklich Ruhe ward und Luther seine Predigt zu Ende bringen konnte.

Aber gefährlich bleibt es immer, mit dem Teufel zu spielen. Ihn selbst konnte man nicht verbrennen, da ja das Feuer sein Element ist, aber die armen alten Weiber, die mit Hülfe des Teufels eben jene Dinge, die Luther dem Teufel zuschrieb, Krankheit, Hagelschlag u. dgl., bewirkt haben sollten. Bilden die Hexenprocesse eines der entsetzlichsten und schmachvollsten Blätter der christlichen Geschichte, so ist der Teufelsglaube eine der häßlichsten Seiten des alten Christenglaubens, und es ist geradezu als ein Culturmesser zu betrachten, wie weit diese gefährliche Fratze die Vorstellungen der Menschen noch beherrscht oder daraus vertrieben ist.

Andrerseits jedoch ist die Herausnahme eines so wesentlichen Steins für das ganze Gebäude des Christenglaubens gefährlich. Der jugendliche Goethe ist es gewesen, der gegen Bahrdt bemerkte, wenn je ein Begriff biblisch gewesen, so sei es dieser. Ist Christus, wie Johannes schreibt, erschienen, die Werke des Teufels zu zerstören, so konnte er entbehrt werden, wenn es keinen Teufel gab.

8.

Doch die Figur der Schlange in der althebräischen Erzählung war nicht das Einzige, was in der christlich-dogmatischen Auffassung umgedeutet wurde. Der Urheber der Erzählung wollte erklären, warum die Menschen so elend, so unglücklich sind; die christliche Auslegung ließ ihn in erster Linie erklären, warum sie so schlecht, so sündhaft sind. Er hatte unter dem Tode, womit Gott den Ungehorsam des erstgeschaffenen Paares bestrafte, den leiblichen Tod verstanden; die christliche Kirchenlehre verstand dazu noch den geistlichen, die ewige Verdammniß, darunter. Von dem Sündenfalle der ersten Eltern her vererbt sich sowohl Sündhaftigkeit als Verdammniß auf das ganze menschliche Geschlecht.

Das ist die berufene Lehre von der Erbsünde, ein Grundpfeiler des kirchlichen Glaubenssystems. Die Augsburgische Confession bestimmt sie so: »nach Adams Fall werden alle natürlich erzeugte Menschen (hier ist der Ausnahme für Christus Raum vorbehalten) mit der Sünde geboren, d. h. ohne Gottesfurcht, ohne Gottvertrauen, und mit der bösen Lust; und diese Erbkrankheit oder Erbfehler sei in der That eine Sünde, die auch jetzt noch den ewigen Tod für alle diejenigen nach sich ziehe, die nicht durch die Taufe und den heil. Geist wiedergeboren werden.«

Für eine Verderbniß also, die der Einzelne sich nicht selbst zugezogen, von der es auch gar nicht bei ihm steht, sich aus eigener Kraft loszumachen, soll er, oder für den einmaligen Ungehorsam eines kindisch unerfahrenen Erstlingspaares soll dessen ganze Nachkommenschaft, bis auf die unschuldigen Kinder, soweit sie ungetauft sterben, hinaus, zu ewigen Höllenqualen verdammt sein! Man muß sich wundern, wie eine solche Vorstellung, die gleicherweise Vernunft wie Rechtsgefühl empört, die Gott aus einem anbetungs- und liebenswerthen zum entsetzlichen und abscheulichen Wesen macht, zu irgend einer Zeit, so barbarisch wir uns diese auch denken mögen, annehmbar gefunden, wie die Spitzfindigkeiten, durch die man ihre Härte zu mildern suchte, überhaupt nur angehört werden mochten.

9.

Doch den vom Teufel angerichteten Schaden wieder gutzumachen, ist ja Christus in die Welt geschickt worden, und so kehren wir zum apostolischen Symbolum zurück, dessen zweiter Artikel, an den ersten von Gott dem Vater anknüpfend, so lautet: »Und (ich glaube) an Jesum Christum, seinen eingebornen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren aus Maria der Jungfrau, gelitten hat unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben und begraben, ist abgefahren zur Höllen, am dritten Tage wieder auferstanden von den Todten, aufgefahren gen Himmel, sitzet zur Rechten Gottes, seines allmächtigen Vaters, von wannen er wieder kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten.«

Hier findet sich das Eigene, daß wir unter allen den aufgezählten Stücken gerade nur denjenigen noch Glauben schenken, ja überhaupt nur bei denjenigen noch etwas denken können, die für den Glauben im kirchlichen Sinne an sich keinen Werth haben, weil sie von Christus nur solches aussagen, das jedem Menschen begegnen kann. Was ein eingeborener Sohn Gottes des Vaters sein soll, wissen wir nicht mehr. Bei dem »Empfangen vom heil. Geist, geboren aus Maria der Jungfrau«, wittern wir mythologische Luft, nur daß uns die griechischen Götterzeugungen besser erfunden dünken als diese christliche. Das Leiden und Sterben am Kreuz unter Pontius Pilatus, wie gesagt, beanstanden wir um so weniger, als es an sich nichts Unwahrscheinliches und überdieß von dem römischen Geschichtschreiber bezeugt ist. Nun aber kommt es desto wunderlicher. Die Höllenfahrt ist nicht einmal von einem Evangelisten bezeugt. Die Auferstehung wohl von allen, aber von keinem, der sie mitangesehen hätte, und von jedem anders und mit anderen Belegen, kurz so, wie eine Sache bezeugt sein muß, die wir als unhistorisch erkennen sollen. Und was für eine Sache? Eine so unmögliche, so allem Naturgesetze zuwiderlaufende, daß sie zehnfach sicher bezeugt sein müßte, wenn wir sie auch nur bezweifeln und nicht von vorne herein von der Hand weisen sollten. Endlich die Auffahrt in den Himmel, wo wir nur Weltkörper, aber keinen Thron Gottes mehr haben, zu dessen Rechten man sich setzen könnte; und ein Wiederkommen zum Gericht am jüngsten Tage, während wir entweder von keinem, oder nur von einem solchen göttlichen Gericht wissen, das gegenwärtig und alle Tage sich vollzieht.

Das alles aber sind nicht etwa phantastische Vorstellungen eines späteren Symbols, sondern, wie oben der Teufel, ausdrückliche Lehren des Neuen Testaments.

10.

Den zweiten Artikel des apostolischen Symbolums nennt der kleine lutherische Katechismus den von der Erlösung, und erläutert ihn auch vorzugsweise nach dieser Seite hin. Er bezeichnet Christus als denjenigen, »welcher mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst und von allen Sünden, dem Tod und der Gewalt des Satans frei gemacht hat; nicht durch Gold und Silber, sondern durch sein heiliges theures Blut und sein unschuldiges Leiden und Sterben.«

Dieß ist der einzig ächte kirchliche Begriff der Erlösung und des Erlösers. Wir Menschen hatten durch unsere Stammeltern wie durch unsere eigene Sünde Tod und ewige Verdammniß verdient, waren auch bereits der Herrschaft des Teufels übergeben; da ist Jesus in's Mittel getreten, hat den Tod in seiner schmerzhaftesten Form auf sich genommen, auch den göttlichen Zorn an unserer Statt empfunden, und dadurch uns, wenn wir nur an ihn und diese Wirkung seines Todes glauben, von der verdienten Strafe, d. h. dem Hauptstück derselben, der ewigen Verdammniß, befreit.

Luther stellt dem Blute, mittelst dessen wir von Christus losgekauft worden, Gold und Silber gegenüber, wodurch es nicht geschehen sei. Das, obwohl es biblische Ausdrücke sind, ist doch schon nicht mehr der ursprüngliche Gegensatz; dieser findet sich in den Worten des Hebräerbriefs: nicht durch das Blut von Böcken und Kälbern, sondern durch sein eigenes habe es Christus zu Stande gebracht. Aus dem alten jüdischen Opferwesen ist die christliche Versöhnungslehre hervorgewachsen. Dem uralten Brauch des Sühnopfers liegt gewiß ein frommes Gefühl zu Grunde, aber es steckt in einer groben Hülle, und die Umwandlung, die sie im Christenthum erfahren, können wir mit nichten als eine Läuterung betrachten. Im Gegentheil. Jedermann weiß, daß die Opfer, womit rohe Völker den Zorn ihrer Götter zu besänftigen meinten, ursprünglich Menschenopfer gewesen sind. Ein Fortschritt, eine Läuterung war es, wie man anfing, an der Stelle von Menschen Thiere als Opfer darzubringen. Nun trat ja aber an die Stelle der Thieropfer von Neuem ein Menschenopfer. Es war freilich zunächst nur eine Vergleichung: es handelte sich nicht um ein förmliches priesterlich dargebrachtes Opfer; sondern die frevelhafte Verurtheilung und Hinrichtung des Messias, des Gottessohnes, der sich mit gelassenem Willen in sein Schicksal ergab, durch ein irregeleitetes Volk und seine Oberen wurde als ein Sühnopfer betrachtet. Aber wie das geht; mit der Vergleichung wurde es nur gar zu bald Ernst. Gott selbst hatte es so geordnet; es war die Bedingung, unter der allein er den Menschen vergeben wollte oder konnte, daß Jesus sich für sie hinschlachten ließ.

11.

Wenn sonst ein Unschuldiger, sei es durch rohe Gewalt oder einen ungerechten Urtheilsspruch, sein Leben verliert, besonders wenn es eine von ihm ausgesprochene Wahrheit, eine durch ihn vertretene gute Sache ist, als deren Märtyrer er stirbt, so bleibt die Wirkung niemals aus, und ist nur im Verhältniß zu der Stellung und Bedeutung des Hingemordeten nach Art und Tragweite verschieden. Die Hinrichtungen eines Sokrates und eines Giordano Bruno, eines Karl I. und Ludwig XVI., eines Oldenbarneveldt und Jean Calas, haben jede in ihrer Art und in bestimmtem Umfange gewirkt. Aber gemeinsam war doch allen diesen Fällen, daß ihre Wirksamkeit moralisch, durch den Eindruck auf die Gemüther der Menschen vermittelt war.

Eine solche moralische Wirkung hatte auch der Tod Jesu: der tiefe erschütternde Eindruck, den er auf die Gemüther der Jünger machte, die Umwandlung ihrer ganzen Ansicht von der Bestimmung des Messias und dem Wesen seines Reichs, die er in ihnen hervorbrachte, liegt geschichtlich vor. Das war aber nach der Lehre der Kirche das Geringste. Die Hauptwirkung des Todes Jesu, worin der eigentliche Zweck desselben lag, war vielmehr eine so zu sagen metaphysische: nicht zunächst in den Gemüthern der Menschen, sondern vor Allem in dem Verhältniß Gottes zur Menschheit sollte sich etwas verändern und hat sich etwas verändert durch diesen Tod: er hat, wie wir bereits vernommen, Gottes Zorne, seiner strafenden Gerechtigkeit Genüge gethan und ihn in den Stand gesetzt, den Menschen trotz ihrer Sünden seine Gnade wieder zuzuwenden.

Daß in dieser Vorstellung eines Erlösungstodes, einer stellvertretenden Genugthuung, ein wahres Nest der rohesten Vorstellungen stecke, bedarf heutiges Tages kaum noch der Ausführung. Den einen für das Vergehen des andern zu strafen, einen Unschuldigen, und wäre es auch sein freier Wille, leiden, und dafür den Schuldigen straflos ausgehen zu lassen, das erkennt jetzt jedermann als die Handlungsweise eines Barbaren; bei einer moralischen Schuld wie bei einer Geldschuld es als gleichgültig zu betrachten, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn sie abträgt, darin erkennt jetzt jedermann die Vorstellungsweise eines Barbaren.

Ist einmal die Unmöglichkeit einer solchen Uebertragung im Allgemeinen erkannt, so macht es keinen Unterschied mehr, ob die Person, auf welche das Leiden übertragen sein soll, ein bloßer Mensch oder der Gottmensch war. Darauf legte aber bekanntlich die Kirchenlehre großes Gewicht. »Denn wo ich das glaube«, sagt Luther, »daß allein seine menschliche Natur für mich gelitten habe, so ist mir Christus ein schlechter Heiland, und bedarf wohl selbst eines Heilandes. Freilich kann die Gottheit nicht leiden und sterben, aber die Person leidet und stirbt, die wahrhaftiger Gott ist; darum ist's recht geredet: Gottes Sohn ist für mich gestorben.«

Diese Vereinigung der beiden Naturen in der Einen Person Christi und der Austausch der Eigenschaften, worin sie miteinander stehen, ist dann überdieß in der kirchlichen Lehre zu einem System ausgesponnen worden, durch dessen spitzfindige Bestimmungen die menschlich-geschichtliche Persönlichkeit Jesu vollkommen ertödtet werden mußte: während das Verhältniß des Gottvaters zum Opfertode des Sohnes einem Diderot das Witzwort in den Mund gab: II n'y a point de bon père qui voulût ressembler à notre père céleste.

12.

Das apostolische Symbolum schließt den Christenglauben durch seinen dritten Artikel ab, der so lautet: »Ich glaube an den heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.«

Die zweite Person der Gottheit hat in ihrer Vereinigung mit der menschlichen Natur durch ihr stellvertretendes Leiden uns wohl die Sündenvergebung erworben : damit uns diese aber wirklich zu Theil werde, muß nun auch noch die dritte, der heilige Geist, in Thätigkeit treten und sie auf uns gleichsam herüberleiten. Dieß geschieht durch die Kirche und die Gnadenmittel, denen diese angebliche dritte Person der Gottheit besonders vorsteht.

In der Kirche wird das Wort Gottes gepredigt, das wesentlich das Wort vom Kreuze, d. h. die Lehre von der durch Christi Tod uns erworbenen Sündenvergebung ist; um des Glaubens an diese Wirkung des Todes Jesu willen werden wir vor Gott gerechtfertigt, ohne Rücksicht auf unsere Werke, d. h. auf die Besserung unseres Lebens, die zwar nachfolgen muß, aber im Urtheile Gottes nicht in Betracht kommt, der uns lediglich um der durch den Glauben uns angeeigneten Gerechtigkeit Christi willen für gerecht ansehen will.

So Luther im Gegensatze gegen die katholische Praxis seiner Zeit, welche durch äußere Werke, wie Fasten, Wallfahrten u. dgl. die Rechtfertigung vor Gott erwerben zu können meinte. Hätte er diesen an sich gleichgültigen Aeußerlichkeiten gegenüber die sittliche Gesinnung als dasjenige, worauf es ankomme, betont, und von Gott gesagt, daß er auf den ernstlich guten Willen sehe, da, von jenen Aeußerlichkeiten gar nicht zu reden, auch die Ausführung des sittlich Gewollten beim Menschen immer höchst unvollkommen bleibe: so müßte ihm, der katholischen Kirche gegenüber, die feinere und tiefere Auffassung dieses Verhältnisses zugestanden werden. Aber seine Lehre vom rechtfertigenden Glauben, neben dem selbst die gute Gesinnung Nebensache sein soll, war einerseits überspannt, und andrerseits für die Sittlichkeit äußerst gefährlich.

Neben dem Worte wirken in der Kirche als Conductoren der Sündenvergebung noch die Sacramente. Unter diesen hat bekanntlich das Abendmahl im Abendlande ungefähr ebensoviel Streit und Krieg erregt, als einst die Dreieinigkeitslehre im Morgenlande; während uns jetzt die im Reformationszeitalter so hitzig verhandelte Frage, ob und in welcher Art dabei etwas von dem wirklichen Leibe Christi genossen werde, so gleichgültig und unverständlich geworden ist, wie jene andere, ob Gott der Sohn gleichen oder nur ähnlichen Wesens mit dem Vater sei. In dem Zusammenhange des christlichen Glaubenssystems übrigens spielt das andere Hauptsacrament, die Taufe, eine noch entscheidendere Rolle. »Wer glaubt und getauft wird, der wird selig,« hatte Christus gesagt; wer also nicht getauft ist, wird verdammt. Ist es aber immer die eigene Schuld des Menschen, wenn er nicht getauft wird? Z. B. der kleinen Kinder, die vor der Taufe sterben? oder der Millionen Heiden, die vor der Einsetzung der Taufe gestorben sind, der Millionen Nichtchristen, die noch jetzt in fernen Welttheilen von Taufe und Christenthum kaum etwas wissen? Die Augsburgische Confession sagt ausdrücklich: »Wir verdammen die Wiedertäufer, die behaupten, die Kinder können ohne Taufe selig werden.« Nur ein Zwingli war Humanist und zugleich human genug, tugendhafte Heiden, wie Sokrates, Aristides u. a. trotz der mangelnden Taufe ohne Weiteres in den Himmel zu versetzen.

13.

Die Auferstehung des Fleisches, diese dem messiasgläubigen Juden und Judenchristen einst so hochwillkommene Vorstellung ist in unserer Zeit selbst für die Gläubigen zur Verlegenheit geworden. Der Jude wollte an den Tagen des Messias, wo es hoch hergehen sollte, selbst wenn er bis dahin schon gestorben wäre, seinen Antheil nicht verlieren; diesen konnte er aber nur so erhalten, daß seine Seele aus dem Schattenreiche, wo sie mittlerweile ein kümmerliches Dasein gefristet, durch Gott oder den Messias heraufgerufen, mit ihrem wiederbelebten Leibe vereinigt, und so von Neuem lebens- und genußfähig gemacht wurde. Wenn sich in der christlichen Welt die Vorstellung von den messianischen Genüssen auch allmählig verfeinerte: darin hing der Kirche doch immer ein gewisser Materialismus an (den wir unsrerseits ihr nicht verargen), daß sie sich ein wahres und vollständiges Leben der Seele ohne Körperlichkeit nicht denken konnte.

Mit den Schwierigkeiten, die es haben mußte, so viele bis auf die Knochen vermoderte, ja gänzlich vernichtete Menschenleiber wiederherzustellen, nahm es natürlich die Kirche leicht, da ließ man die göttliche Allmacht sorgen; uns leisten hierin unsere besseren Naturkenntnisse einen schlimmen Dienst, indem sie uns eine solche Vorstellung geradezu unmöglich machen. Und just die Unsterblichkeitsgläubigsten zu unserer Zeit sind überdieß solche Spiritualisten geworden, daß sie ihre liebe Seele zwar in alle Ewigkeit conserviren zu können hoffen, mit dem Leibe aber, wenigstens diesem verstorbenen, nichts weiter anzufangen wissen.

Die Auferstandenen gehen in das ewige Leben ein, doch nicht alle; es giebt ja eine zwiefache Auferstehung, die eine zum Leben und die andere zum Gericht, d. h. zur ewigen Verdammniß. Und leider zeigt sich, daß die Zahl der Verworfenen die der Erwählten ganz unendlich übersteigt. Verdammt wird fürs Erste die ganze Menschheit vor Christus, so weit nicht einzelne bevorzugte Seelen, wie die der jüdischen Erzväter, durch besondere Veranstaltungen aus der Hölle frei gemacht worden sind: dann auch jetzt noch fort und fort alle Heiden, Juden und Muhammedaner, sowie in der Christenheit selbst die Ketzer und Gottlosen: und unter allen diesen nur die Letztern mit eigener persönlicher Schuld, alle Uebrigen lediglich um der Sünde Adams willen: denn daß das Christenthum ihnen nicht zugekommen, dafür konnten sie, mit wenigen Ausnahmen unter den nach Christus Geborenen, nichts.

Das ist ein sehr unbefriedigender Rechnungsabschluß: und wenn man etwa gehofft hatte, für so manches Empörende, das in den Voraussetzungen des kirchlichen Glaubenssystems, besonders in den Lehren vom Sündenfall und der Erbsünde, liegt, durch die endlichen Ergebnisse der Erlösung entschädigt zu werden, so findet man sich bitter getäuscht. »Die meisten Menschen,« sagt Reimarus, »fahren dennoch zum Teufel, und von Tausend wird kaum Einer selig«. Mein grüblerisch frommer Großvater quälte sich lebenslang mit der Vorstellung: wie in einem Bienenstocke auf viele tausend Bienen nur eine einzige Königin, so komme unter den Menschen auf Tausende von verdammten Seelen nur Eine, die selig werde.

14.

Das also war in feinen Umrissen der alte Christenglaube, an dem für unsern Zweck die Verschiedenheit der Confessionen nur einen geringen Unterschied macht. So trat er aus dem Reformationszeitalter herüber der neueren Zeit entgegen, deren erste Regungen schon im 17. Jahrhundert vorzüglich in England und den Niederlanden zu spüren waren. An der Hand einer beginnenden Natur- und Geschichtsforschung besonders entwickelte sich das vernünftige Denken, und fand, je mehr es in sich selbst erstarkte, die überlieferte Kirchenlehre immer weniger annehmbar. Die Bewegung der Geister schlug im 18. Jahrhundert aus England zuerst nach Frankreich, das schon durch seinen Bayle vorbereitet war, dann auch nach Deutschland herüber, so daß wir in dem Geschäfte der Bekämpfung des alten Kirchenglaubens jedes dieser drei Länder seine eigene Rolle übernehmen sehen. England fiel die Rolle des ersten Angriffs und der Bereitung der Waffen zu, was die Arbeit der sogenannten Freidenker oder Deisten war; Franzosen brachten dann diese Waffen über den Kanal und wußten sie in unaufhörlichen leichten Gefechten keck und gewandt zu führen: während in Deutschland vorzugsweise Ein Mann im Stillen eine regelmäßige Einschließung und Belagerung des rechtgläubigen Zions unternahm. Die Rollen von Frankreich und Deutschland insbesondere vertheilten sich wie Spott und Ernst: einem Voltaire dort stand hier ein Hermann Samuel Reimarus durchaus typisch für beide Nationen gegenüber.

Das Ergebniß der Prüfung, die der Letztere mit Bibel und Christenthum angestellt hatte, war für beide durchaus ungünstig ausgefallen; sie kamen bei dem ernsten Reimarus nicht besser weg, als bei dem Spötter Voltaire. In dem ganzen Verlaufe der biblischen Geschichte hatte auch Reimarus nichts Göttliches, um so mehr Menschliches im schlimmsten Sinne gefunden. Die Erzväter waren ihm irdisch gesinnte, eigennützige und verschmitzte Menschen; Mose ein herrschsüchtiger, der kein Bedenken trug, einer mittelmäßigen Gesetzgebung durch Betrug und Verbrechen Eingang zu verschaffen; David, dieser »Mann nach dem Herzen Gottes,« ein grausamer, wollüstiger, heuchlerischer Despot; selbst bei Jesus fand Reimarus zu bedauern, daß er das Bekehrungswerk nicht zu seinem eigentlichen Geschäft gemacht, sondern nur als Vorbereitung zu seinem ehrgeizigen Plane betrieben habe, ein irdisches Messiasreich auszurichten; darüber ging er zu Grunde, und seine Jünger stahlen dann seinen Leichnam, um ihn für auferstanden auszugeben, und auf diesen Betrug ihr neues Glaubenssystem und ihre geistliche Herrschaft zu begründen. Dieses christliche Glaubenssystem verleugnet denn auch nach Reimarus seinen Ursprung nicht. Es ist Satz für Satz falsch und voller Widersprüche, allen gesunden religiösen Begriffen entgegen, und der sittlichen Vervollkommnung der Menschheit entschieden hinderlich. Die Punkte in dem alten Kirchenglauben, woran dieses Urtheil sich halten konnte, sind in der bisherigen Darstellung bemerklich gemacht.

Doch je ernster man in Deutschland das negative Ergebniß ins Auge faßte, das die Prüfung des alten Glaubens vom Standpunkte einer veränderten Denkweise aus haben zu müssen schien, desto nothwendiger ergab sich auch der Versuch einer Vermittlung. Ueber einen so grellen Widerspruch, wie der, was man noch gestern mit der ganzen umgebenden Gesellschaft als das Heiligste verehrte, heute voll Abscheu und Verachtung von sich zu weisen, mag man sich wohl durch Scherz und Spott hinwegsetzen: wer es ernst damit nimmt, hält den Widerspruch nicht lange aus. So wurde Deutschland, nicht Frankreich, die Wiege des Rationalismus.

15.

Der Nationalismus ist ein Compromiß zwischen dem alten Kirchenglauben und dem schlechthin negativen Ergebniß seiner Prüfung durch die neue Aufklärung. In der biblischen Geschichte ist ihm zwar Alles natürlich, aber in der Hauptsache Alles ehrlich zugegangen; die hervorragenden Männer des Alten Testaments waren Menschen wie andere, doch auch nicht schlechter als andere, im Gegentheil in manchem Betracht ausgezeichnet; Jesus zwar nicht der Sohn Gottes im kirchlichen Sinne, aber auch kein Ehrgeiziger, der sich zum weltlichen Messias aufwerfen wollte, sondern ein Mann von ächter Gottes- und Menschenliebe, der als Märtyrer des Bestrebens, unter seinem Volke eine reine Religions- und Sittenlehre zu verbreiten, unterging; die zahlreichen Wundergeschichten in der Bibel, besonders auch in den Evangelien, beruhen nicht auf Betrug, sondern auf Mißverstand, indem bald die Augenzeugen oder die Geschichtschreiber für Wunder hielten, was doch natürlich zugegangen war, bald aber auch nur die Leser als Wunder fassen, was der Erzähler gar nicht für ein solches ausgeben will.

Wie sich der Rationalismus zu dem extremen Standpunkt eines Reimarus verhält, das will ich an zwei Beispielen erläutern, deren eines ich aus dem ersten Anfang, das andere aus dem Ende der heiligen Geschichte nehme. Die Erzählung vom Sündenfalle, die er übrigens für eine fabelhafte hielt, hatte Reimarus vor allem auch darum so anstößig gefunden, weil sie Gott durch die Hinpflanzung des verlockenden Baumes vor die Augen der unerfahrenen Erstlingsmenschen, durch die Reizung ihrer Begierde mittelst des willkürlichen Verbots, und durch die Zulassung der versuchenden Schlange zum Urheber des ganzen Unheils mache. Doch wer weiß, ob das Verbot der Baumfrucht so ganz willkürlich war? fragte der Rationalist Eichhorn. Der Baum war vermuthlich ein Giftbaum, dessen Früchte dem Menschen schädlich waren. Den ausdrücklich verbietenden Gott freilich konnte der Rationalist so wenig wie die redende Schlange brauchen; vielleicht aber sahen die Urmenschen einmal ein Thier, nachdem es von der Frucht genossen, unter Zuckungen sterben, ein andermal eine Schlange in gleichem Falle keinen Schaden nehmen, und so wagten sie jener Warnung zum Trotz den Genuß, der für sie zwar nicht augenblicklich, doch späterhin todtbringend, und auch für ihre Nachkommen von übeln physischen und moralischen Folgen war.

Das andere Beispiel sei die Auferstehung Jesu. Da war, wie schon erwähnt, unserem Reimarus nichts gewisser, als daß die Apostel den Leichnam ihres Meisters aus dem Grabmal hinweggestohlen haben, um ihn für wiederbelebt ausgeben, und darauf ein neues schwärmerisches Religionssystem gründen zu können, bei dem ihre Herrschsucht und auch ihr Eigennutz seine Rechnung fand. Nichts weniger! sagte auch hier der Rationalist. Von einer solchen Niederträchtigkeit waren die Jünger um so weiter entfernt, je weniger sie ihrer bedurften. Jesus war gar nicht wirklich todt, obwohl man ihn dafür hielt, als man ihn vom Kreuze nahm und mit den Specereien in die gewölbte Gruft legte; hier kam er wieder zu sich und überraschte durch sein Wiedererscheinen seine Jünger, die ihn von da an, so lange er sich noch unter ihnen sehen ließ, trotz aller seiner Bemühungen, sie vom Gegentheil zu überzeugen, für ein übernatürliches Wesen hielten.

Und in ähnlicher Art, wie mit der biblischen Geschichte, verfuhr der Rationalismus mit der christlichen Lehre. Dem Anstoß, den der Radicalismus der Freidenker an ihren vernunftwidrigen Voraussetzungen oder sittengefährlichen Folgerungen genommen hatte, wich er dadurch aus, daß er ihre Spitze abbrach oder umbog. Die Dreieinigkeit eine mißverstandene Redensart; die Menschheit nicht von Adam her verderbt und verflucht, wohl aber vermöge ihrer natürlichen Beschaffenheit sinnlich und schwach: Jesus nicht Erlöser durch einen Opfertod, wohl aber durch seine Lehre und sein Beispiel, die bessernd, also von der Sünde lösend, auf uns alle wirken; der Mensch gerechtfertigt nicht durch den Glauben an ein fremdes Verdienst, sondern durch Ueberzeugungstreue, d. h. durch das ernste Bestreben, stets so zu handeln, wie er es als Pflicht erkennt.

16.

Als vor 56 Jahren F. Chr. Schlosser seine »Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung« begann, ließ er sich die jüdische Geschichte von dem Frankfurter Mystiker J. F. v. Meyer hineinschreiben. Er traue sich den frommen Sinn seines gelehrten Freundes nicht zu, sagte er in der Vorrede; man sieht aber leicht, was er meinte. Er mochte weder heucheln, noch zur Schwelle seines weitangelegten Werkes einen Stein des Anstoßes machen. Wenn wir jetzt eines der neueren Handbücher der alten oder der Weltgeschichte vor uns nehmen, so weit sie nicht etwa einem Cultusministerium zu Gefallen geschrieben sind, so finden wir, je besser das Buch ist, um so mehr die jüdische Geschichte auf den gleichen Fuß behandelt, wie die griechische oder römische; ihre mosaischen und Königsbücher unter eben die kritische Controle gestellt, wie den Herodot und Livius; ihren Moses nicht anders gewürdigt als einen Numa oder Lykurg: und besonders die Wundergeschichten des Alten Testaments ganz in derselben Weise gefaßt wie die, welche uns in griechischen und römischen Geschichtschreibern begegnen. So ist auch, was man bisher als theologische Wissenschaft die Einleitung in das Alte Testament nannte, zur jüdischen Literaturgeschichte in demselben weltlichen Sinne geworden, wie es eine Geschichte der deutschen, französischen, englischen Literatur gibt.

Schwerer hielt es begreiflich, den Proceß der reinhistorischen Betrachtung und Behandlung an der Urgeschichte des Christenthums und den Neu-Testamentlichen Schriften durchzuführen. Aber ein tüchtiger Anfang ist gemacht, sichere Fundamente sind gelegt. Unter den Theologen, die in der Wissenschaft zählen, ist heute keiner mehr, der irgend eines unserer vier Evangelien für das Werk seines angeblichen Verfassers, überhaupt eines Apostels oder Apostelgehülfen hielte. Die drei ersten sammt der Apostelgeschichte gelten als tendenziöse Compilationen aus dem Anfang, das vierte, seit Baur's epochemachender Forschung als eine dogmatisirende Komposition aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus. Die Tendenz der ersteren bestimmt sich nach der verschiedenen Stellung, die ihre Verfasser (und in zweiter Linie ihre Quellen) in dem Streite zwischen Judenchristenthum und Paulinismus genommen hatten: das Dogma, das der vierte Evangelist in seiner Erzählung durchzuführen sich vorsetzte, ist die Auffassung Jesu als des fleischgewordenen Logos der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie. Unter denjenigen Schriften des N. Ts., deren Aechtheit nicht bestritten ist, stehen die vier ersten Briefe des Apostels Paulus oben an: beinahe unlieb aber kommt der moderngläubigen Theologie die Bereitwilligkeit der neueren Kritik, die Offenbarung Johannis als ächt anzuerkennen. Des phantastischen judaistisch-zelotischen Buchs wäre man gerne los gewesen, um desto gewisser das johanneische Evangelium zu behalten, nachdem man einmal als undenkbar hatte anerkennen müssen, daß beide Schriften von demselben Verfasser seien. Und nun kehrte die boshafte Kritik die Sache gerade um: nahm dem Apostel das Evangelium und ließ ihm die Apokalypse. Und noch dazu mit dem Nachweise, daß die ganze Weissagung sich um den gefallenen und als Antichrist zurückerwarteten Nero drehe, mithin gewiß nicht vom heil. Geiste, sondern von einem Zeit- und Volkswahn eingegeben sei.

17.

Ganz so schlimm lagen die Dinge noch nicht, aber mit wenig Scharfsinn ließ sich vorhersehen, daß es so kommen würde, als ein Mann, der des Scharfsinns fast allzuviel besaß, als Schleiermacher sein theologisches System ausbildete. Er machte sich von vorne herein darauf gefaßt, möglicherweise die Aechtheit der meisten biblischen Bücher aufgeben zu müssen, nachdem er die herkömmliche Vorstellung von der jüdischen und der urchristlichen Geschichte schon von selbst aufgegeben hatte. Die biblischen Erzählungen von der Schöpfung, vom Sündenfall u. s. f. hatten für ihn so wenig wie für die Rationalisten mehr eine historistische oder dogmatische Bedeutung, und mit den Wundern in den Evangelien, das Hauptwunder, die Auferstehung Jesu miteingeschlossen, wußte er in ähnlicher Art wie diese, durch eine nur mit etwas mehr Geschmack durchgeführte natürliche Erklärung fertig zu werden. Auch von den christlichen Dogmen hielt es keines mehr in seinem ursprünglichen Sinne fest; nur daß seine Umdeutungen geistvoller, mitunter freilich auch künstlicher waren als die der Rationalisten.

Nur in einem Glaubensartikel zog er die Fäden fester an, der allerdings auch der Mittelpunkt der christlichen Dogmatik ist: in der Lehre von der Person Christi. Da war ihm der wohlmeinende lehrhafte Wanderrabbi, wozu die Rationalisten Jesu gemacht hatten, doch zu wenig, ich möchte sagen, zu philisterhaft. Er glaubte erweisen zu können, daß Jesus mehr und etwas Ausgesuchteres gewesen. Aber woraus, wenn doch auf die Evangelien so wenig Verlaß war? Auf eines derselben war, nach Schleiermacher's Dafürhalten, wie wir sogleich finden werden, doch mehr Verlaß: den rechten und sichersten Beweis indessen glaubte er näher zu haben als in irgend einer Schrift. Unsere Alten hatten gerne von einem Zeugniß des heiligen Geistes gesprochen, das uns der Wahrheit der Schrift erst gewiß machen sollte; Schleiermacher berief sich auf das Zeugniß des christlichen Bewußtseins, das uns des Erlösers gewiß mache. Wir nehmen als Glieder der christlichen Gemeinschaft etwas in uns wahr, das sich nur als Wirkung einer solchen Ursache erklären läßt. Das ist die Förderung unseres religiösen Lebens, die größere Leichtigkeit, unser niedriges Selbstbewußtsein mit dem höhern in Einklang zu setzen. Von uns selbst aus fühlen wir uns in dieser Einigung nur gehemmt; von unsern Mitchristen wissen wir, daß sie in diesem Stücke nicht anders sind als wir: von wem also geht jene Förderung, deren wir uns als Angehörige der christlichen Kirche thatsächlich bewußt sind, aus? Sie kann nur von dem Stifter der Gemeinschaft, d. h. von Jesus selbst, ausgehen; und wenn von ihm für alle Zeiten lediglich Förderung des religiösen Lebens ausgeht, so muß in ihm das religiöse Leben ein absolut gefördertes, das niedrige Selbstbewußtsein mit dem höheren schlechthin einig gewesen sein.

Das höhere Selbstbewußtsein ist das Gottesbewußtsein, das in uns um seiner vielfach gehemmten Wirksamkeit willen nur ein schwaches Schattenbild heißen kann, in Jesu aber, wo es ungehemmt wirkte, sein ganzes Fühlen, Denken und Handeln durchdrang, eine vollkommene Vergegenwärtigung, ein Sein Gottes unter der Form des Bewußtseins war. So bringt Schleiermacher in seiner Art wieder einen Gottmenschen heraus; nur daß er in demselben nicht wie die Kirchenlehre eine göttliche Natur mit einer menschlichen verbunden denkt, sondern was er sich dabei denkt ist nur eine menschliche Seele, aber so erfüllt von dem Bewußtsein des Göttlichen, daß dieses das allein Wirksame in ihr ist. Dieß drückt Schleiermacher moderner auch so aus: Christus sei als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich gewesen, d.h. in ihm sei einerseits das Urbildliche vollkommen geschichtlich geworden, und andererseits habe jeder Moment seines geschichtlichen Lebens das Urbildliche in sich getragen. Damit ist bereits auch die Sündlosigkeit gegeben; denn zwar auch in Jesu habe sich das höhere Selbstbewußtsein mit dem niedrigen nur allmählig entwickelt, aber das Verhältniß der Stärke zwischen beiden sei immer das gleiche gewesen, das nämlich, daß das höhere überwog, also ohne Schwanken und Fehlen immer des niederen Meister blieb.

Das Erlösende an Jesus ist hienach eben nur die Mittheilung dieser Förderung des religiösen Lebens mittelst der von ihm gestifteten Kirche; sein Kreuzestod kommt nicht besonders in Betracht; und wenn Schleiermacher den kirchlichen Ausdruck: stellvertretende Genugthuung, in genugthuende Stellvertretung umkehrt, so sieht man schon, daß er mit diesen altchristlichen Vorstellungen nur noch sein Spiel treibt.

18.

Blickte Schleiermacher von diesem ganz aus seiner vermeintlichen innern Erfahrung heraus construirten Christusbilde auf die evangelischen Nachrichten zurück, so wußte er freilich in den drei ersten Evangelien nur wenige entsprechende Züge zu finden; weßwegen es ihm auch wenig verschlug, ihren apostolischen Ursprung aufzugeben und sie als spätere Sammelschriften von sehr bedingter Glaubwürdigkeit zu fassen. Dagegen schienen ihm aus dem vierten Evangelium Töne entgegenzuklingen, die zu seiner Christusconstruction aufs beste stimmten. In Aussprüchen des johanneischen Christus wie die: Der Sohn kann nichts von sich selbst thun, sondern nur was er den Vater thun sieht; Wer mich siehet, der siehet den Vater: Alles was mein ist, das ist dein, und was dein ist das ist mein – in diesen und so manchen ähnlichen Aussprüchen glaubte Schleiermacher ganz seinen Erlöser wiederzufinden, dessen Gottesbewußtsein ein wahres Sein Gottes in ihm war. Ueberhaupt, die ganze mystisch tiefsinnige und doch wieder dialektisch spitze Art, das durchaus aparte Wesen dieses Evangeliums war so vollkommen nach Schleiermachers Sinne, daß er an seiner Aechtheit leidenschaftlich festhielt, und allen noch so einleuchtenden Zweifelsgründen, wie sie noch zu seinen Lebzeiten Bretschneider in festgeschlossener Reihe vorführte, sein Auge hartnäckig verschloß.

Nun stand es aber nur wenige Jahre an nach Schleiermacher's Tode, daß fürs Erste die äußere Neutestamentliche Stütze seiner Christologie, das vermeintlich johanneische Evangelium, einem erneuerten kritischen Angriff unrettbar unterlag. Nicht fester zeigte sich das innere Fundament, der Rückschluß aus den Thatsachen des christlichen Bewußtseins auf einen so beschaffenen Stifter des christlichen Gemeinwesens. Daß von uns selbst und unsresgleichen ausschließlich nur Hemmung des religiösen Lebens ausgehe, mithin, was wir daneben von Förderung desselben in uns erfahren, einen andern Ursprung haben müsse, ist eine durchaus willkürliche Voraussetzung und eigentlich ein Stück des alten Erbsündeglaubens, den sich auch in der That Schleiermacher in seiner Weise wieder zurechtzumachen suchte. In uns allen sind vielmehr höheres und niederes Selbstbewußtsein, sinnliche und vernünftige Regungen in beständigem Kampfe: von uns selbst wie von andern geht für uns neben der Hemmung auch Förderung des sittlich-religiösen Lebens aus; und wenn die letztere im besten Falle doch immer nur eine relative ist, so sind wir gar nicht veranlaßt, nach einem ersten Urheber zu suchen, in dem sie als absolute vorhanden gewesen. Gesetzt aber, sie wäre es in Christus gewesen, er hätte als menschliches Individuum das Urbild der Menschheit in jedem Augenblick in sich dargestellt, sich ohne Fehlen und Schwanken, ohne Irrthum und Sünde entwickelt, so wäre er von allen anderen Menschen wesentlich verschieden gewesen; wie zwar wohl die Kirchenlehre den vom heil. Geist empfangenen, nicht aber Schleiermacher den nach dem ordentlichen Naturlauf erzeugten Jesu fassen durfte.

19.

Daß die Frage nach der Wahrheit des Christenthums sich zuletzt zu der nach der Persönlichkeit seines Stifters zugespitzt hat, der Entscheidungskampf der christlichen Theologie auf dem Felde des Lebens Jesu ausgefochten werden mußte, kann zunächst Wunder nehmen, ist aber doch ganz in der Ordnung. Der Werth einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Leistung allerdings ist von dem, was wir über das Leben ihres Urhebers wissen, unabhängig. Der Dichter des Hamlet steht uns um keinen Zoll weniger hoch, weil wir von seinem Leben so wenig, die Verdienste des Lordkanzlers, seines Zeitgenossen, um die Reform der Wissenschaften werden uns dadurch nicht zweifelhaft, daß wir von seinem Charakter manches Ungünstige wissen. Selbst auf dem Gebiete der Religionsgeschichte ist es in Betreff eines Moses und Muhammed zwar von Wichtigkeit, sich zu versichern, daß sie keine Betrüger waren; im Uebrigen müssen die von ihnen gestifteten Religionen ihren Werth durch sich selbst bewähren, ob wir mehr oder weniger Sicheres von dem Leben ihrer Stifter wissen. Der Grund ist, daß sie eben nur dieß, nur Stifter, nicht zugleich Gegenstände der von ihnen begründeten Religionen sind. Während sie den Vorhang vor der neuen Offenbarung wegziehen, bleiben sie selbst bei Seite stehen. Sie werden wohl verehrt, aber nicht angebetet.

Anders bekanntlich im Christenthum. Hier ist der Stifter zugleich der vornehmste Gegenstand der Religion; die auf ihn gegründete Glaubensweise verliert ihren Boden, sobald sich ergibt, daß ihm persönlich diejenigen Eigenschaften nicht zukommen, die ein Wesen haben muß das Gegenstand der Religion sein soll. Im Grunde hat sich dieß zwar längst ergeben; denn Gegenstand der Religion, der Anbetung, kann nur ein göttliches Wesen sein, und als solches den Stifter des Christenthums zu betrachten, haben Denkende längst aufgehört. Nun sagt man aber, das habe er selbst auch niemals verlangt, seine Vergottung sei erst später in der Kirche aufgekommen, und wenn wir ihn ernstlich als Menschen betrachten, stellen wir uns auf den Standpunkt, den er selber eingenommen habe. Aber gesetzt auch, damit hatte es seine Richtigkeit, so ist doch die ganze Einrichtung unserer Kirchen, der protestantischen wie der katholischen, nun einmal aus jenen andern Standpunkt berechnet: der christliche Cultus, dieses Gewand, für einen Gottmenschen zugeschnitten, wird schlotterig und verliert alle Haltung, sobald es einem bloßen Menschen umgelegt wird.

Es müßte denn eben ein Mensch gewesen sein, wie Schleiermacher, im richtigen Gefühle des kirchlichen Bedürfnisses, seinen Christus construirt hat: ein Mensch, von dessen persönlicher Beschaffenheit die unsres religiösen Lebens noch heute in jedem Augenblick bedingt wäre. Einen solchen hätten wir allerdings Grund, uns fortwährend gegenwärtig zu erhalten, seiner in unsern religiösen Zusammenkünften zu gedenken, seine Worte zu wiederholen und zu erwägen, die verschiedenen Momente seines Lebens stets von Neuem in Erinnerung zu bringen. Schleiermachers Beweise, daß Jesus ein solcher gewesen, haben uns nicht überzeugt; indeß wer weiß? er war doch vielleicht etwas Aehnliches, er war doch vielleicht derjenige, an welchen die Menschheit zur Vollendung ihres inneren Lebens mehr als an irgend einen andern gewiesen bleibt.

Das können uns nur die uns aufbehaltenen Nachrichten über sein Leben sagen.

20.

Wie sich nur Schleiermacher an dem Jesus des vierten Evangeliums so erbauen konnte! Ach ja, wenn dieser wirklich das fleischgewordene göttliche Schöpferwort, die zweite Person der Gottheit in einem menschlichen Leibe war, dann ist es ein Anderes: aber das war er ja für Schleiermacher nicht, sondern nur ein Mensch mit vollkommen ausgewachsener religiöser und sittlicher Anlage. Wird ein solcher so ungeheurer Worte, wie: Ich und der Vater sind Eins; wer mich siehet, der siehet den Vater – sich unterwinden dürfen? Und wenn er's thut, werden wir nicht gerade darum an seiner Religiosität zweifeln müssen? Der Fromme, je mehr er dieß ist, wird mit um so größerer Scheu die Grenzlinie einhalten, die ihn von dem, was ihm als das Göttliche gilt, scheidet; uns würde, wenn wir glauben müßten, Jesus habe jene Worte gesprochen, da wir nicht glauben können, daß er ein Gott gewesen, auch der Glaube an seine menschliche Vortrefflichkeit schwinden. Und ebenso der an seinen gesunden Verstand, wenn wir ernstlich glauben sollten, er habe im Gebete Gott an die Herrlichkeit erinnert, die er vor Entstehung der Welt bei ihm gehabt habe. Der verdrehenden Auslegung aber, mittelst deren Schleiermacher dergleichen Aussprüche annehmlich zu machen suchte, würden wir uns heut zu Tage schämen. Glücklicherweise jedoch ist es nur der vierte Evangelist, der seinem Jesus dergleichen Reden leiht, die er nicht aus historischer Kunde, sondern lediglich aus der Vorstellung schöpfte, die er sich hundert Jahre später nach einem philosophischen Schema von ihm gebildet hatte.

Der wirkliche Jesus kann, wenn irgendwo, nur in den drei ersten Evangelien zu finden sein. Hier haben wir kein alexandrinisches Philosophen:, in dessen Form seine Persönlichkeit gedrückt wäre; hier haben wir noch an Ort und Stelle gesammelte und aufbewahrte Erinnerungen an ihn. Freilich ganz ohne Einpressen in einen Model ist es auch hier nicht abgegangen. Jesus war ja der Messias gewesen nach der Ueberzeugung seiner Anhänger, und wie der Messias beschaffen sein, wie es mit demselben zugehen werde, das wußte man in der messiasgläubigen Judenwelt längst auf's Haar. Daß mithin alles das an ihrem Jesus und durch ihn geschehen sei, was an und von dem Messias geschehen sollte, das verstand sich für seine Gläubigen von selbst. Dies sei geschehen auf daß erfüllet würde was geschrieben steht, sagt uns ja der ehrliche Matthäus jedesmal, wenn er etwas erzählt hat, das nicht geschehen ist.

Z. B. der Name seines Geburtsstädtchens Nazaret ging Jesu noch über seinen Tod hinaus nach; aber nach einer Stelle bei Micha, wie man sie damals auslegte, sollte der Messias gleich seinem Ahnherrn David in Bethlehem geboren werden, folglich war Jesus hier, nicht in Nazaret geboren, so gewiß er der Messias war. Man darf aber nur vergleichen, wie geradezu entgegengesetzt Matthäus und Lucas zu Werke gehen, um – der eine die Eltern Jesu nach der Geburt ihres Sohnes von Bethlehem weg nach Nazaret, der andere, sie vor dessen Geburt von Nazaret nach Bethlehem zu bringen, um sich zu überzeugen, daß man es hier mit keiner wirklichen, sondern mit einer messianisch zurechtgemachten Geschichte zu thun hat. Ebenso gemacht sind, und verrathen sich in dieser Eigenschaft ebenso durch ihre Abweichung die beiden Stammbäume, die beweisen sollen, daß der geglaubte »Sohn Davids« wirklicher Nachkomme Davids gewesen; während sie in Wahrheit nur beweisen, daß Jesus zur Zeit ihrer Herstellung noch als wirklicher Sohn Josephs galt, man also noch nicht dazu fortgeschritten war, den andern Messiastitel: »Sohn Gottes,« im crassen Wortsinn auf ihn anzuwenden. Doch der Messias war auch der zweite Moses und der größte Prophet: so mußte an ihm, und mußten an Jesus, wenn er der Messias war, auch die Erlebnisse und Thaten des Gesetzgebers und der vornehmsten Propheten sich wiederholen. Wie Pharao dem neugeborenen Moses, so mußte Herodes dem neugeborenen Christus nach dem Leben gestellt haben; später mußte er in der Wüste versucht worden sein, wie das Volk Israel unter Moses, nur daß er in dem examen rigorosum besser bestand; auf einem Berge verklärt worden sein, wie dieser mit glänzendem Angesicht vom Berge gekommen war. Er mußte Todte erweckt, unzureichende Nahrungsmittel zureichend gemacht haben, sonst wäre er ja hinter Elias und Elisa zurückgeblieben. Sein ganzer Wandel mußte eine Kette besonders von Heilungswundern gewesen sein; denn von der messianischen Zeit, so meinte man, hatte ja Jesaias geweissagt, daß da die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben sich aufthun, die Lahmen hüpfen und die Zunge der Stummen jubeln werde.

21.

Ein guter Theil desjenigen, was die Evangelisten von angeblichen Thaten und Schicksalen Jesu erzählen, geht nun allerdings mit diesem messianischen Wundergeflechte, womit sie sein Leben durchziehen, wenn es kritisch wieder ausgezogen wird, verloren; doch dieß ist noch nicht Alles, ja kaum die Hälfte. Auch gegen das Redeelement in den Evangelien erheben sich gefährliche Bedenken. Als zuerst Bretschneider die Christusreden des vierten Evangeliums für freie Kompositionen des Evangelisten erkannte, wies er dabei auf die Redestücke in den drei ersten als auf Proben hin, wie die wirklichen Reden Jesu beschaffen gewesen. So sicher glaubte man ihres historischen Charakters zu sein. Im Allgemeinen und in Vergleichung mit dem vierten Evangelium gewiß mit Recht: dieß war die Lehrart, dieß der Ideenkreis, dieß mitunter ohne Zweifel auch die Worte Jesu gewesen.

Aber wie? Da hätte er sich ja manchmal geradezu widersprochen. Als er zuerst, bald nach seinem Auftreten, seine Apostel aussandte, hätte er ihnen verboten, sich an Heiden und Samariter zu wenden; später, auf seiner Reise nach Jerusalem, hätte er dagegen, in der Gleichnißrede von dem barmherzigen Samariter und bei Gelegenheit der Heilung von zehn Aussätzigen, Mitglieder dieses Mischvolkes seinen Volksgenossen als beschämende Beispiele gegenübergestellt; im Tempel zu Jerusalem sodann in den Gleichnißreden von den Weingärtnern und dem königlichen Hochzeitsmahle die Verwerfung der verstockten Juden und die Berufung der Heiden an ihrer Statt vorausgesagt; und endlich als er, angeblich nach seiner Wiedererweckung, seinen Jüngern die letzten Anweisungen gab, hätte er ihnen geradezu geboten, sein Evangelium allen Völkern ohne Unterschied zu verkündigen. Doch dieß wäre am Ende nichts Undenkbares: in der Zwischenzeit zwischen jenem Verbot und dieser Vorhersage und Verordnung könnte sich ja sein Gesichtskreis in Folge gemachter Erfahrungen erweitert haben. Aber schon vor jenem Verbote hatte Jesus dem heidnischen Hauptmann von Kapernaum ohne Bedenken seinen Beistand gewährt und von dem Glauben desselben Veranlassung genommen, die künftige Aufnahme der Heiden statt der ungläubigen Juden in das Messiasreich vorherzusagen; durch jenes Verbot hätte er dann später seinen Jüngern untersagt, so wie er zu handeln und die Herbeiführung des vorhergesagten Erfolges vorzubereiten; ja er selbst hätte in dem noch spätern Falle mit der kananäischen Frau ganz entgegengesetzt als früher gegen den Hauptmann gehandelt, nämlich mit der äußersten Härte die jüdische Ausschließlichkeit geltend gemacht, und erst durch die demüthige Beharrlichkeit der Frau sich umstimmen lassen.

Das geht nun doch zu weit und ist auch durch die Voraussetzung nicht zu erledigen, daß die Anordnung der einzelnen Erzählungsstücke in den drei ersten Evangelien keine chronologische sei. Denn wer sagt uns alsdann, wie sie richtig chronologisch zu ordnen wären? Wohl aber kommt uns hier die Erinnerung zu Statten, daß der Zeitraum, während dessen unsere drei ersten Evangelien sich bildeten, der des erbittertsten Kampfes zwischen den beiden Richtungen war, die das Auftreten des Apostels Paulus in die älteste Christenheit geworfen hatte. Nach ihrer Denk- und Handlungsweise zu urtheilen, wie sie uns in dem Briefe des Paulus an die Galater und, ihre Aechtheit vorausgesetzt, in der Apokalypse entgegentritt, scheinen die älteren Apostel nicht anders gewußt zu haben, als daß das Reich ihres gekreuzigten Messias ausschließlich für Nachkommen Abrahams oder solche bestimmt sei, die sich durch Annahme der Beschneidung und Uebernahme des mosaischen Gesetzes dem auserwählten Volke einverleiben ließen; wogegen Paulus den Grundsatz aufstellte und zur Richtschnur seiner apostolischen Thätigkeit machte, daß durch Jesu Tod das Gesetz aufgehoben, zum Eintritt in das von ihm eröffnete Messiasreich außer dem Glauben (und der Taufe) nichts Weiteres erforderlich, mithin Heiden ebenso wie Juden berechtigt seien.

Dagegen erhob sich in denen, die aus dem Judenthum zu der neuen Gemeinde getreten waren, der jüdische Nationalegoismus um so leidenschaftlicher, je größer die Erfolge des Paulus in der Heidenwelt waren, je mehr also die nur für ächte Abrahamssöhne bestimmten Antheile an der künftigen messianischen Herrlichkeit durch die zahlreichen Eindringlinge geschmälert zu werden drohten. Die hieraus entstandenen Streitigkeiten, über deren Ausbruch und versuchte Beilegung uns die Paulinischen Briefe, und mit versöhnlicher, aber auch vertuschender Tendenz die Apostelgeschichte unterrichten, wurden noch geraume Zeit nach dem Tode des Apostels Paulus mit Erbitterung fortgesetzt: dem starren Judenchristen hieß er der feindselige Mensch, der Gesetzlose, der falsche Apostel, dem man besonders sein Auftreten gegen Petrus in Antiochia nicht verzieh, und es bedurfte der ganzen Gewalt der Thatsachen, wie sie einerseits in der Zerstörung des jüdischen Staats, andrerseits in der immer weitern Ausbreitung des Christenthums unter Griechen und Römern lag, um zuletzt eine Versöhnung der Parteien, die friedliche Zusammenstellung der beiden Apostel Petrus und Paulus möglich zu machen.

Das Schlachtfeld dieser Kämpfe nun, wie sie auch nach dem Tode des Heidenapostels und der Zerstörung des Judenstaats noch fortdauerten, liegt vor uns in den drei ersten Evangelien. Wir sehen das Schwanken des Kampfes, wir entdecken die Stellen, wo man für eine Zeit lang Halt gemacht, Lager aufgeschlagen und sich verschanzt hatte; wir bemerken aber auch, wie im Zurückweichen oder Vordringen diese Verschanzungen später aufgegeben und neue an andern Stellen aufgeworfen worden waren.

22.

Von selbst verstand sich nach damaliger, ja nach der Art wie von jeher religiöse Urkunden zu Stande gekommen sind, daß, was eine Partei oder ein Parteiführer für das Richtige hielt, Jesus selbst gesagt haben mußte. Besäßen wir noch ein Evangelium aus einem streng und ungebrochen judenchristlichen Kreise, so würden die Reden Jesu unstreitig ein ganz anderes Aussehen haben. Ein solches Evangelium besitzen wir nicht mehr, so wenig als eines das ganz vom paulinischen Standpunkte aus geschrieben wäre; sondern in sämmtlichen drei ersten Evangelien (da das vierte als Geschichtsquelle nicht in Betracht kommen kann) liegen beide Standpunkte wie verschiedene geologische Schichten über- und durcheinander. Bei Matthäus schlägt das Judenchristliche noch am meisten vor, doch bereits sehr gemildert und von heidenfreundlichen Bestandtheilen durchsetzt; umgekehrt ist bei Lucas eine paulinische Tendenz unverkennbar, doch hat er wie zur Herstellung des Gleichgewichts auch Stücke aufgenommen, die sogar ein besonders schroffes judaistisches Gepräge tragen.

Wenn wir also in derartigen Urkunden das einemal lesen, wie Jesus seinen Jüngern verbietet, sich mit ihrer Predigt an Heiden und Samariter zu wenden, da das hieße (denn diese Stelle der Bergrede bezieht sich ohne Zweifel auf denselben Gegenstand) das Heilige den Hunden geben und die Perlen vor die Säue werfen, das andremal, er habe ihnen umgekehrt vorgeschrieben, das Evangelium allen Völkern zu verkündigen: so erfahren wir damit zunächst nur, wie man zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kreisen der ältesten Christenheit über diesen Punkt gedacht hat; von Jesus selbst bleibt es immer noch fraglich, welches sein eigener Standpunkt in der Sache gewesen ist. Ebenso sehen wir in der Geschichte von dem kananäischen Weibe die Stimmung einer Zeit, die der Zulassung von Heiden zwar nicht mehr wehren konnte, aber bitter ungerne nachgegeben hatte; während die vom Hauptmann in Kapernaum aus einer spätern Periode oder einem freisinnigen Kreise zu stammen scheint, wo man die Gläubigen aus der Heidenwelt bereits ohne Anstand willkommen hieß. Es ist möglich, daß die ersteren Stellen Jesu engherziger machen als er war, es ist aber auch möglich, daß die andern ihn weitherziger machen; und wenn wir auf die Art sehen, wie nach seinem Tode seine vornehmsten Apostel sich zu dem Unternehmen des Paulus stellten, so wird uns das Letztere wahrscheinlicher.

Ich kann dies hier nicht weiter ausführen; ich wollte nur eine Andeutung davon geben, wie ungewiß auf diesem Gebiete Alles ist, wie wenig wir auch bei den Reden und Lehren Jesu aus irgend einem Punkte sicher sind, ob wir Worte und Gedanken von ihm selbst, oder nur solche vor uns haben, die man in späterer Zeit ihm in den Mund zu legen sich bewogen fand.

23.

Wenn ein neuerer Darsteller der Buddhareligion ihre Bedeutung darin findet, »daß sie, dem in Mythologie und Theologie, Schulgelehrsamkeit und Speculation, Ceremonien und Aeußerlichkeiten jeden Schlages, Werkheiligkeit und Scheinheiligkeit, priesterlichem und philosophischem Hochmuth erstarrten Brahmanismus gegenüber, das Wesen der Heiligung in die Gesinnung verlegte, in die Reinheit des Herzens und des Wandels, in Wohlwollen, Erbarmen, Nächstenliebe und unbegrenzte Opferfreudigkeit, und daß sie demgemäß von der wüsten, Geist und Herz erdrückenden Tradition und Priestersatzung, der abstrusen Schulweisheit und sich überstiegenden Speculation an das natürliche Gefühl und den gesunden Menschenverstand als den höchsten Richter in religiösen Dingen appellirte«: so ist es unmöglich zu verkennen, wie ähnlich sowohl die Situation als das Wirken des indischen Weisen aus der Zeit des Darius und Xerxes denen des jüdischen Weisen aus der Zeit des Augustus und Tiberius war.

Dem starren Kastenwesen dort entsprach hier die gehässige Absonderung des Juden von Heiden und Samaritern; eine Art von Mythologie und Speculation hatte sich, der Griechen und Römer zu geschweigen, an welche das Christenthum später kam, unter den Juden wenigstens in der Secte der Essener, eine spitzfindige Scholastik bei den Schriftgelehrten der beiden anderen Secten ausgebildet; Priestersatzung, Ceremonienwesen, Werk- und Scheinheiligkeit herrschte hier wie dort, und beidemale suchte der neue Lehrer seine Gläubigen vom Aeußern in das Innere, von der bloßen Verrichtung auf die Gesinnung, von Hochmuth, Selbstsucht und Gehässigkeit zur Demuth, Liebe und Duldung hinzuführen. Die von Çakjamuni den Seinigen vorgezeichnete Lebensweise heißt bei den Buddhisten schlechthin »der Weg«, ganz wie in unserer Apostelgeschichte der neue Messiasglaube heißt; beidemale aus dem gleichen Grunde, weil sowohl Buddhismus wie Christenthum ursprünglich mehr praktisch als theoretisch, mehr eine kurzgefaßte Erlösungslehre als eine weitläufige Glaubenslehre waren.

Uebrigens scheint es, als ob Çakjamuni entschiedener mit dem von ihm vorgefundenen Brahmanismus, als Jesus mit dem Mosaismus gebrochen hätte. Nicht nur sein Kastenwesen, sondern auch sein ganzes Ceremoniell mit Opfern und Bußübungen, ja selbst seine Götterwelt beseitigte er. Der Spruch des Buddha: »Mein Gesetz ist ein Gesetz der Gnade für alle,« von ihm gegen die schnöde Kastenabsonderung gerichtet, hat zugleich einen gewissermaßen christlichen Klang; nur daß wir, wie schon erwähnt, nicht sicher wissen, ob über den Kreis des erwählten Volkes hinaus solche Weitherzigkeit schon von Jesus oder erst von Paulus in Anwendung gebracht worden ist. Ebenso christlich spricht das andere Wort des indischen Reformators uns an: »Vater und Mutter ehren ist besser als den Göttern des Himmels und der Erde dienen«; das aber bei ihm noch eine weiter reichende Bedeutung hat. Es haben nämlich die neueren Forschungen über den Buddhismus das Paradoxon außer Zweifel gestellt, daß derselbe ursprünglich eine Religion ohne Gott oder Götter, daß sein Stifter ein Atheist gewesen ist. Er leugnet sie nicht geradezu, aber er ignorirt sie, schiebt sie bei Seite, wie in dem angeführten Spruch. Dagegen nahm Jesus aus der Religion seines Volkes nicht nur den einigen Gott, sondern auch das Gesetz herüber. Nur, wie er das letztere geistiger auslegte und von den traditionellen Zuthaten gereinigt wissen wollte, so bildete er, was die Vorstellung von Gott betrifft, an einzelne Andeutungen im Alten Testament anknüpfend, den strengen Herrn in einen liebenden und verzeihenden Vater um, und gab dadurch dem religiösen Verhalten des Menschen eine im Judenthum bis dahin unbekannte Freiheit und Heiterkeit.

24.

Ein schwärmerischer weltablehnender Zug indessen war beiden Religionsstiftern gemein, wenn er auch bei beiden nicht die gleiche Wurzel hatte. Çakjamuni war Nihilist, Jesus Dualist. Der erstere strebte aus dem Leben mit seinem Leide, worin er nur eine Folge der Begier und Daseinslust sah, mittelst der Abtödtung dieser Lust in das Nirvana, das schmerzlose Nichts, zurück; der andere hieß die Seinigen vor Allem nach dem Reiche Gottes trachten, sich unvergängliche Schätze im Himmel, nicht vergängliche auf der Erde, sammeln, er pries die glücklich, die jetzt arm und gedrückt sind, weil ihrer um so größerer Lohn im Himmel warte.

Schopenhauer hat das Christenthum als Pessimismus bezeichnet, und eben hierin, in dem Eingeständniß desselben, daß der Zustand der Menschheit in jeder Hinsicht ein äußerst elender sei, die Kraft gefunden, wodurch es das optimistische Juden- und Heidenthum überwunden habe. Allein dieser Pessimismus, die Verwerfung dessen, was es »diese Welt« nennt, ist nur die eine Seite des Christenthums, und ohne die Ergänzung durch die andere Seite, die Herrlichkeit der künftigen himmlischen Welt, die es in nahe Aussicht stellte, würde es nicht weit gekommen sein. Da Schopenhauer diese für sich ablehnt, und sich seinerseits an das buddhistische Nirvana hält, so ist ihm am Christenthum eben nur diejenige Seite sympathisch, die es mit dem Buddhismus gemein hat, den man, in Bezug auf den Werth dieses Lebens, gleichfalls pessimistisch nennen kann.

Für die Betrachtung und Handhabung des menschlichen Lebens und seiner Verhältnisse hat in der That der christliche Dualismus mit dem buddhistischen Nihilismus wesentlich die gleichen Folgen. Nichts von allem, was sich hier der menschlichen Thätigkeit als Ziel und Gegenstand darbieten mag, hat einen wahren Werth; alles Streben und Trachten darnach ist nicht blos eitel, sondern dem Menschen an der Erreichung seiner wahren Bestimmung, heiße diese nun Nichts oder Himmelreich, sogar hinderlich. Ein möglichst leidendes Verhalten, die Thätigkeit abgerechnet, die zur Linderung fremden Leidens oder zur Verbreitung der erlösenden Einsicht, der Lehre des Buddha oder des Christus, erforderlich ist, führt am sichersten zum Ziele.

Vor Allem ist demnach das Streben nach irdischen Gütern, ja selbst der Besitz von solchen, sofern man sich dessen nicht freiwillig entäußert, vom Uebel. Dem reichen Mann im Evangelium ist schon allein um dessen willen, daß er alle Tage herrlich und in Freuden lebt, ohne daß wir sonst etwas Unrechtes von ihm erführen, die Hölle gewiß. Dem begüterten Jüngling, der über die Erfüllung der gewöhnlichen Gebote hinaus noch etwas Uebriges thun möchte, weiß Jesus nichts Besseres zu rathen, als alles, was er habe zu verkaufen und den Armen zu geben. Ein wahrer Cultus der Armuth und der Bettelei ist dem Christenthum mit dem Buddhismus gemein. Die Bettelmönche des Mittelalters wie noch heute das Bettlerwesen in Rom sind ächt christliche Institute, die in protestantischen Ländern nur durch eine ganz anderswoher stammende Bildung beschränkt worden sind.

»Immer wieder müssen wir«, sagt Thomas Buckle, »von den Uebeln des Reichthums und von der sündlichen Liebe zum Gelde hören; und doch hat sicherlich, nächst dem Wissenstrieb, keine andere Leidenschaft der Menschheit so viel Gutes gethan. Ihr verdanken wir allen Handel und alle Gewerbe; Gewerbthätigkeit und Handel haben uns mit den Producten vieler Länder vertraut gemacht, unsre Wißbegierde erweckt, durch den Umgang mit Nationen von verschiedenen Sitten, Sprachen und Gedanken unsre Ideen erweitert, die Menschen zu Unternehmungen, zur Voraussicht und Berechnung gewöhnt, und uns außerdem viele nützliche Kunstfertigkeiten gelehrt, uns in den Besitz höchst schätzbarer Mittel zur Rettung des Lebens und zur Linderung des Schmerzes gesetzt. Alles dieses verdanken wir der Liebe zum Gelde. Wenn es den Theologen gelänge, sie auszurotten, so würde das alles aufhören und wir verhältnißmäßig in Barbarei zurückfallen.« Insbesondere daß es ohne Reichthum keine Muße, ohne Muße keine Wissenschaft und Kunst geben könne, hat Buckle in seinem bekannten Werke sehr anschaulich nachgewiesen.

Daß der Erwerbstrieb wie jeder andere eine vernünftige Beschränkung, eine Unterordnung unter höhere Zwecke fordert, ist damit nicht ausgeschlossen; aber in der Lehre Jesu ist er von vorne herein nicht anerkannt, seine Wirksamkeit zur Förderung von Bildung und Humanität nicht verstanden, das Christenthum zeigt sich in dieser Hinsicht gerade als ein kulturfeindliches Princip. Seinen Bestand unter den heutigen Cultur- und Industrievölkern fristet es nur noch durch die Correcturen, die eine weltliche Vernunftbildung an ihm anbringt, welche ihrerseits großmüthig oder schwach und heuchlerisch genug ist, dieselbe nicht sich, sondern dem Christenthum anzurechnen, dem sie vielmehr entgegen sind.

25.

Nur Schade, daß es zu spät war, aber seine volle Richtigkeit hatte es, als während des letzten Krieges Ernst Renan in seinem bekannten Brief an mich darauf hinwies, wie weder in den Seligpreisungen der Bergpredigt, noch sonst irgendwo im Evangelium, ein Wort sich finde, das den kriegerischen Tugenden den Himmel verheiße. Aber ebenso wenig findet sich ein Wort für die friedlichen politischen Tugenden, für Vaterlandsliebe und bürgerliche Tüchtigkeit darin. Der Spruch: Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist u. s. f. ist doch nur eine ausweichende Antwort. Ja selbst für die Tugenden des häuslichen und Familienlebens wird das Vorbild und die Lehre Jesu dadurch unergiebig, daß er selbst ohne Familie war. Wir haben verschiedene Aussprüche von ihm, worin er diese natürlichen Bande gegen die geistigen in einer Weise herabsetzt, die zwar ihren guten Sinn hat, doch vermöge ihrer Schroffheit der Mißdeutung Raum gibt. Sonst erfahren wir noch, daß er, während er die Ehelosigkeit als das höhere für Menschen höherer Bestimmung vorbehielt, über Unauflöslichkeit der Ehe strenge Begriffe hatte, und daß er ein Kinderfreund gewesen ist.

Nun müssen wir aber billig sein und die damalige Lage des Volks, dem Jesus angehörte, in Rechnung nehmen. Es war etwa die Lage der heutigen Polen unter Rußland; die politische Selbstständigkeit des jüdischen Volks hatte aufgehört, die Juden waren dem ungeheuren Römerreiche einverleibt, sie konnten für sich keinen Krieg mehr, sondern nur noch Verschwörungen und Aufstände machen, die das Volk, wovon man schon hinlängliche Erfahrung hatte, nur immer tiefer ins Elend stürzen mußten. Auch für die friedliche Thätigkeit des Bürgers war unter dem Regimente der römischen Landpfleger, dem Aussaugungssystem der römischen Steuerpächter nur noch der allerengste Spielraum übrig; jedes höhere Streben nahm unvermeidlich seine Richtung entweder nach der Seite der Verschwörung, oder zwar der Reform, die aber bei der Versperrung aller weltlichen Wege nothwendig eine schwärmerische Wendung erhielt.

Noch viel weniger war bei solchen Zuständen an höhere Cultur, an Verfeinerung der Sitten und Verschönerung des Lebens durch Wissenschaft und Kunst zu denken. Theils waren dazu die Juden von Hause aus weniger angelegt nicht blos als Griechen und Römer, sondern auch als manche andere Völker des Orients; theils war die Nation zur Zeit Jesu, am Vorabend ihrer politischen Auflösung, gerade in ihrer Heimath, auch in Wohlstand und Bildung auf's tiefste heruntergekommen. Das Leben in den Dörfern und kleinen Städten Galiläa's zu jener Zeit können wir uns nicht schmutzig und armselig genug vorstellen. Wo sollte da eine Ahnung, wo ein Trieb zu Kunst und Wissenschaft herkommen? Da man die Wahrheit einzig in der Schrift, in den geheiligten Büchern Mose's und der Propheten zu finden glaubte, so bestand die ganze Wissenschaft in einer höchst elenden und willkürlichen Auslegungskunst, von der wir auch im Neuen Testamente nur allzuviele Proben besitzen.

Mit Einem Worte: die Welt und das Leben in derselben war dem gedrückten und verkommenen Geschlecht, das damals an den Ufern des Jordans und des galiläischen Sees sein Dasein fristete, so gründlich verleidet, daß gerade die höher strebenden Geister unter demselben gar nichts mehr davon wissen wollten, es nicht mehr der Mühe werth fanden, etwas daran zu bessern, sondern es dem Fürsten dieser Welt, dem Teufel, überließen, sich selbst aber mit allen Kräften der Sehnsucht und der Phantasie dem Heil zuwandten, das, laut alter Weissagungen und neuer Auslegungen, demnächst vom Himmel kommen sollte.

26.

Es handelte sich nur darum, sein Kommen zu beschleunigen. Ehe es kam, mußte doch erst, so schien es, das Volk seiner würdig sein. Darum predigte Johannes Buße, weil das Himmelreich nahe sei, und ertheilte denen, die ihre Schuld bekannten, die entsündigende Weihe der Taufe. Dürfen wir den evangelischen Berichten trauen, so gab er sich nicht selbst für den Bringer dieses Heils, den Messias, aus. Das that erst Jesus.

Wie aber wollte nun Jesus dieses Heil bringen? Zunächst trat er in die Fußstapfen des Täufers und predigte gleichfalls Buße im Hinblick auf das nahende Himmelreich. Aber weiter? Als er zu seiner letzten Passahfeier in Jerusalem einritt, ließ er sich von dem Volke gerne als der Sohn Davids, als der erwartete messianische König begrüßen. Man hat daraus geschlossen, daß er einen Handstreich seiner Anhänger, einen gewaltsamen Volksaufstand erwartet und gewünscht habe, der ihn an die Spitze des jüdischen Gemeinwesens stellen sollte. Allein er ritt ja mit absichtlicher Demonstration auf dem Friedensthier ein und hatte zu gewaltsamem Auftreten nicht das mindeste vorbereitet. Als später bei seiner Verhaftung einer seiner Jünger das Schwert zog, sprach er sich nicht nur grundsätzlich gegen den Gebrauch des Schwertes aus, sondern versicherte, auch jetzt noch stünde es nur bei ihm, so würde ihm Gott sein Vater mehr denn zwölf Legionen Engel zum Beistande senden.

Ob Jesus in jenem Augenblicke diese Worte gesprochen hat oder nicht: den Hintergrund seiner Ansicht geben sie meines Erachtens richtig an. Die Maschinerie, wodurch das wirkliche Kommen des Himmelreichs in Scene gesetzt werden sollte, war entfernt keine politische, überhaupt keine natürliche, sondern eine übernatürliche. Aber ebensowenig eine blos moralische – das Moralische war immer nur Vorbereitung – sondern eine, wie man es nennen will, metaphysische oder magische.

Nachdem Jesus auf die Frage des Hohenpriesters bejaht hatte, der Messias zu sein, setzte er hinzu, sofort werde man ihn sehen zur Rechten der göttlichen Macht sitzend und mit den Wolken des Himmels kommend. Damals, wo er, gefangen und schwer beschuldigt, seine Hinrichtung voraussah, mochte dieß den Sinn haben, daß er nach seinem Tode, von Gott wiederbelebt, in jener danielisch-messianischen Situation wiederkommen werde; hätte es aber Gott früher gefallen, ihm seine Engellegionen zu senden, so konnte ihm der Tod erspart bleiben, die himmlischen Schaaren konnten ihn (wie man später bei der Auferstehung in Bezug auf die überlebenden Christen erwartete) mit plötzlicher Verklärung seines irdischen Leibes in die Wolken emporraffen und da auf seinen messianischen Thronstuhl setzen. Die Evangelien freilich stellen die Sache durchaus so dar, als ob Jesus mit übernatürlicher Voraussicht von jeher seinen gewaltsamen Tod vorhergewußt hätte; für uns kann die Frage nur die sein, ob er von dem unglücklichen Ausgang seiner Sache mehr oder weniger überrascht worden ist, ob er früher oder später jene Umwandlung mit seinen Wunderhoffnungen vorgenommen hat.

27.

Nachdem er, für seine Jünger in jedem Fall unerwartet, als verurtheilter Verbrecher am Kreuze geendet hatte, war nun seine ganze Angelegenheit auf die Seele dieser Jünger gelegt. Ließen sie sich durch seinen gewaltsamen Tod unter den Trümmern seines Unternehmens in dem Glauben, daß er der Messias gewesen, irre machen, so war es um seine Sache geschehen, so lebte vielleicht noch eine Zeit lang die Erinnerung an ihn und an so manches seiner gehaltreichen Worte im jüdischen Lande fort, aber seine Nachwirkung verlor sich bald, wie die Ringe auf der Fläche des Teichs, worein man einen Stein geworfen. Wollten sie aber, seinem unglücklichen Ende zum Trotze, den Glauben an ihn als Messias festhalten, so hatten sie sich den Widerspruch zu lösen, der zwischen dem einen und dem andern obzuwalten schien; sie hatten insbesondere sein gewaltsam abgerissenes irdisches Dasein mit der überirdischen Rolle zusammenzuknüpfen, die er seiner wiederholten Vorhersage gemäß in naher Zukunft als der in den Wolken kommende Menschensohn spielen sollte. Nach dem gemeinen Menschenloose war er seit seinem Tod am Kreuze der Schattenwelt anheimgefallen; hatte ihn aber diese einmal in ihrem Verschlusse, so blieb jener Faden abgerissen, seine Rolle war ausgespielt, es ließ sich kein Glaube, keine Hoffnung mehr auf ihn begründen. Hier also war der Punkt, wo geholfen werden mußte: er durfte nicht gestorben, oder, da er doch landkundig gestorben war, nicht todt geblieben sein.

Man nahm seine Zuflucht zu der Schrift, und damit war schon viel gewonnen. Denn mit der damaligen Auslegungskunst konnte man alles was man wünschte sicher in ihr finden. Der Verfasser des 16. Psalms, ob es nun David oder ein anderer war, hatte begreiflich nicht von ferne daran gedacht, im Namen des Messias zu reden, er sprach nur sein eigenes frohes Gottvertrauen aus; und wenn er dieß so ausdrückte, Gott werde seine Seele nicht der Unterwelt überlassen, und nicht dulden, daß sein Frommer die Grube schaue, so meinte er damit nur, daß er mit Gottes Beistand aus jeder Noth und Gefahr glücklich hervorgehen werde. Aber David, grübelte ein Jesusjünger, der nach Stützen für seinen erschütterten Glauben suchte, war ja gestorben und verwest: also kann er hier nicht von sich selbst gesprochen haben, sondern als Prophet hat er von seinem großen Sprößling, dem Messias – und das war ja Jesus – gesprochen, der demnach, nicht im Grabe geblieben, nicht der Unterwelt verfallen sein kann. Diese musterhafte Auslegung läßt zwar die Apostelgeschichte den Petrus erst nach der Auferstehung Jesu, an dem berühmten Pfingstfeste, vortragen; aber wir sehen hier im Gegentheil einen der Gedankengänge, wodurch sich die Jünger zur Production der Vorstellung von der Wiederbelebung ihres getödteten Meisters emporgearbeitet haben. Aehnlich wirkte die Stelle im Jesaias von dem Lamme das zur Schlachtbank geführt wird, die später der Evangelist Philippus dem äthiopischen Kämmerer auf Jesus gedeutet haben soll; und wenn wir aus den Tagen der Auferstehung lesen, der erscheinende Jesus habe den nach Emmaus wandernden Jüngern sämmtliche von ihm, d. h. von seinem Tode und seiner Auferweckung handelnde Schriftstellen ausgelegt, so kann dieß geschichtlich genommen nur so viel heißen, daß in jenen schweren Tagen es vorzugsweise die Schrift gewesen, woraus die Jünger sich Trost und Hoffnung zu ergrübeln wußten.

Der Schrecken über die Hinrichtung ihres Meisters hatte sie aus der gefährlichen Hauptstadt weg in ihr heimisches Galiläa zurückgescheucht: dort mögen sie in heimlichen Zusammenkünften sein Andenken gefeiert, sich im Glauben an ihn gestärkt, die Schrift um- und umgewühlt, mit einander nach Licht und Gewißheit gerungen haben; es waren Seelenkämpfe, die in orientalischen, einseitig religiös und phantastisch entwickelten Naturen, weiblichen vor allen, leicht ins Ekstatische und Visionäre überschlugen. Sowie man einmal zu wissen meinte: er kann als Messias nicht im Grabe geblieben sein! so war es nicht mehr weit bis zu der Kunde: ich oder wir haben den vom Tod Erstandenen gesehen, er ist uns begegnet, hat mit uns gesprochen; wir kannten ihn Anfangs nicht, aber nachher, wie er weg war, fiel es uns wie Schuppen von den Augen, daß es kein anderer gewesen war u. s. f. Und im Weitererzählen wurden die Kundgebungen immer handgreiflicher: er hatte mit den Jüngern gegessen, ihnen seine Hände und Füße gewiesen, sie aufgefordert, die Finger in seine Wundenmale zu legen.

So hatten die Jünger durch die Production der Vorstellung von der Auferstehung ihres getödteten Meisters sein Werk gerettet; und zwar war es ihre redliche Ueberzeugung, den Auferstandenen wirklich gesehen und mit ihm gesprochen zu haben. Es war nichts von frommem Betrug, freilich desto mehr Selbsttäuschung im Spiele, und bald mischte sich, obwohl möglicherweise immer noch im guten Glauben, Ausschmückung und Legende darein.

Aber historisch, die Auferstehung Jesu als äußere Thatsache betrachtet, war auch nicht das mindeste daran. Selten ist ein unglaubliches Factum schlechter bezeugt, niemals ein schlecht bezeugtes an sich unglaublicher gewesen. Ich habe in meinem Leben Jesu diesem Gegenstand eine eingehende Untersuchung gewidmet, die ich hier nicht wiederholen will. Nur das Ergebniß halte ich für meine Pflicht wie für mein Recht, ohne jeglichen Rückhalt hier auszusprechen. Historisch genommen, d. h. die ungeheuren Wirkungen dieses Glaubens mit seiner völligen Grundlosigkeit zusammengehalten, läßt sich die Geschichte von der Auferstehung Jesu nur als ein welthistorischer Humbug bezeichnen. Es mag demüthigend sein für den menschlichen Stolz, aber es ist so: Jesus könnte all das Wahre und Gute, auch all das Einseitige und Schroffe, das ja doch auf die Massen immer den stärksten Eindruck macht, gelehrt und im Leben bethätigt haben; gleichwohl würden seine Lehren wie einzelne Blätter im Winde verweht und zerstreut worden sein, wären diese Blätter nicht von dem Wahnglauben an seine Auferstehung als von einem derben handfesten Einbande zusammengefaßt und dadurch erhalten worden.

28.

Dieser Glaube an seine Auferstehung kommt nur insofern, und zwar zunächst in ganz vortheilhafter Art, auf Rechnung Jesu selbst, als in der Entstehung desselben ein Beweis für die Stärke und Nachhaltigkeit des Eindrucks liegt, den er auf die Seinigen gemacht hatte. Freilich war auch dieser Eindruck schon keineswegs nur durch das Rationelle und Moralische, sondern mindestens ebensosehr durch das Irrationelle und Phantastische in seinem Wesen und seinen Ideen bedingt. Ein Sokrates mit seiner rein vernünftigen Lehrweise würde galiläische Gemüther jener Zeit nicht an sich gefesselt haben. Auch Jesus würde es nicht gethan haben durch die bloße Predigt der Herzensreinheit, der Gottes- und Menschenliebe, durch die Seligpreisung der Armen und Gedrückten; oder vielmehr er hätte diese gar nicht glücklich preisen können, wenn er ihnen nicht eine Entschädigung in dem Gottesreiche zu verheißen gehabt hätte, das er selbst demnächst als Messias zu eröffnen gedachte. Die Erwartung dieses Himmels auf Erden, den wir uns nicht nach Art unseres heutigen spiritualistischen Jenseits, sondern im Allgemeinen mehr in den sittlichen Formen der Offenbarung Johannis vorzustellen haben, that schon bei Lebzeiten Jesu das Meiste; und die Production des Glaubens an seine Auferstehung hatte wesentlich nur den Werth, diese durch seinen Tod erschütterte Erwartung wiederherzustellen.

Aber auch bei Jesus selbst, im Zusammenhang seiner Ideen und Lehren, bildet diese Vorstellung die Grundlage, auf die alles andere aufgetragen ist und sich zurückbezieht. Die Verwerfung alles Irdischen, aller materiellen Lebensinteressen, hat nur als die Kehrseite davon einen Sinn, daß die wahren Interessen, die bleibende Befriedigung, erst in dem kommenden Himmelreich zu finden sein werden. Seine Ankunft oder Wiederkunft als Bringer dieses Reiches hatte angeblich Jesus selbst in so nahe Aussicht gestellt, daß ein Theil seiner Zuhörer sie noch erleben sollte; und der Apostel Paulus sagt uns ausdrücklich, daß er sie noch zu erleben hoffte.

In dieser Erwartung hat sich nun bekanntlich die Christenheit diese 18 Jahrhunderte her fort und fort getäuscht gefunden, und darum die Auskunft getroffen, das Wiederkommen Christi mittelst Umdeutung seiner Worte in eine unabsehliche Zukunft hinaus-, dafür aber den Eintritt in Himmel oder Hölle für den Einzelnen unmittelbar an den Austritt aus diesem Leben heranzurücken. In der neuesten Zeit jedoch ist nicht allein die erstere Erwartung nach langsamem Erbleichen so viel wie erloschen, sondern auch die andere, die Hoffnung auf ein vergeltendes Jenseits nach dem Tode, in ihren Grundfesten erschüttert worden. Wodurch? davon wird später die Rede sein; hier nehme ich nur das Zugeständniß in Anspruch, daß es so ist.

Wenn wir die Augen aufthun und wenn wir den Erfund dieses Augenaufthuns uns ehrlich eingestehen wollen, so werden wir bekennen müssen: das ganze Leben und Streben der gebildeten Völker unserer Zeit ist auf eine Weltanschauung gebaut, die der Weltanschauung Jesu schnurstracks entgegengesetzt ist. Das Werthverhältniß zwischen dem Diesseits und dem Jenseits ist auf beiden Seiten gerade das umgekehrte. Und darauf beruht keineswegs nur die Genußsucht, die sogenannte materielle Richtung unserer Zeit, auch nicht blos ihre bewundernswerthen Fortschritte in Technik und Industrie; sondern auch die Entdeckungen der Naturwissenschaft, der Astronomie, Chemie und Physiologie, wie die politischen Bestrebungen und nationalen Gestaltungen, ja selbst die Erzeugnisse der Dichtung und der übrigen Künste in der neueren Zeit, also gerade alles Beste und Erfreulichste, das wir vor uns gebracht haben, was nur auf dem Boden einer Weltansicht zu erreichen, der das Diesseits keineswegs verächtlich, vielmehr als das wahre Arbeitsfeld des Menschen, als Inbegriff der Ziele seines Strebens erschien. Wenn ein Theil der Arbeiter auf diesem Felde den Glauben an das Jenseits noch gewohnheitsmäßig mit sich führt, so ist er doch nur noch ein Schatten, der ihnen folgt, ohne auf ihr Thun irgend einen bestimmenden Einfluß zu üben.

29.

Erinnern wir uns nun, was wir hier eigentlich finden wollten. Die ganze kirchliche Vorstellung von Jesus als Erlöser und Gottessohn hatten wir aufgegeben, auch das Schleiermacher'sche Sein Gottes in Christus als eine bloße Redensart erkannt. Aber ist er nicht doch vielleicht, so fragten wir, als geschichtlicher Mensch ein solcher gewesen, von dem unser religiöses Empfinden noch immer bedingt ist, an den die Menschheit zur Vollendung ihres innern Lebens mehr als an irgend einen andern ihrer großen Männern gewiesen bleibt? Auf diese Frage sind wir jetzt in den Stand gesetzt zu antworten.

Vor Allem werden wir sagen müssen, daß wir zu diesem Endzwecke viel zu wenig Zuverlässiges von Jesus wissen. Die Evangelisten haben sein Lebensbild so dick mit übernatürlichen Farben überstrichen, durch sich kreuzende Tendenzlichter so verwirrt, daß die natürlichen Farben, die ursprüngliche Beleuchtung nicht mehr herzustellen sind. Wandelt man nicht ungestraft unter Palmen, so noch weniger unter Göttern. Wer einmal vergöttert worden ist, der hat seine Menschheit unwiederbringlich eingebüßt. Es ist ein eitler Wahn, daß aus Lebensnachrichten, die, wie unsre Evangelien, auf ein übermenschliches Wesen angelegt, und noch außerdem durch streitende Parteivorstellungen und Interessen in allen Zügen verzerrt sind, sich durch irgend welche Operationen ein natürliches in sich zusammenstimmendes Menschen- und Lebensbild herstellen lasse. Wir müßten zur Controle Nachrichten über dasselbe Leben besitzen, die von einem natürlich-vernünftigen Gesichtspunkt aus abgefaßt waren, und dergleichen besitzen wir in diesem Falle nicht. Alle Bemühungen neuester Bearbeiter des Lebens Jesu, so ruhmredig diese auch auftreten mögen, an der Hand unserer Quellenschriften eine menschliche Entwicklung, ein Werden und Wachsen der Einsicht, eine allmähliche Erweiterung des Gesichtskreises bei Jesus nachzuweisen, geben sich durch den Mangel jeder Handhabe in den Urkunden (außer jener allgemeinen Phrase in der Kindheitsgeschichte bei Lucas), die Nothwendigkeit der willkürlichsten Umstellung ihrer Berichte, als apologetische Künsteleien ohne jeden historischen Werth zu erkennen.

Doch nicht blos wie Jesus geworden, bleibt für uns in ein unheilbares Dunkel gehüllt; auch was er geworden, und schließlich gewesen tritt keineswegs bestimmt zu Tage. Um nach allem Bisherigen nur noch Eines zu nennen: wir sind ja nicht einmal sicher, ob er nicht schließlich an sich und seiner ganzen Sache irre geworden ist. Wenn er am Kreuze die bekannten Worte gesprochen hat: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? so ist er es geworden. Es ist möglich, und ich selbst habe die Vermuthung geäußert, daß ihm das Wort nur geliehen ist, um einen Psalm, der in der ältesten Christenheit als Programm des messianischen Leidens gefaßt wurde, gleich in seinem Eingang auf ihn anzuwenden: aber mindestens ebenso möglich bleibt, daß er das vielsagende Wort wirklich gesprochen hat. Ist er nachher auferstanden, d. h. ist er der leidende Gottmensch gewesen, so thut es ihm keinen Eintrag: dann bezeichnet es nur die tiefste Stufe dieses Leidens, es ist der Schmerzensruf seiner schwachen menschlichen Natur, der durch die Stärke der göttlichen, wie sie sich gleich darauf in seiner Wiederbelebung erwies, gut gemacht wird. Ihn als menschlichen Helden genommen hingegen ist jenes Wort, wenn er es gesprochen, mehr als bedenklich. Dann hatte er bis dahin seinen Tod nicht in Rechnung genommen, dann hat er sich bis zuletzt mit dem Wahn von den Engellegionen getragen, und ist, wie sie immer nicht kamen, wie sie ihn am Kreuze hängen und verschmachten ließen, mit getäuschter Hoffnung und gebrochenem Herzen gestorben. Und so sehr wir ihn auch dann noch um der Vorzüge seines Herzens und Strebens willen bedauern, die über ihn verhängte Strafe als eine grausame und ungerechte ansehen müßten, so wenig könnten wir uns doch des Urtheils entschlagen, daß einer so schwärmerischen Erwartung nur ihr Recht geschieht, wenn sie durch Fehlschlagen zu Schanden wird.

Wie gesagt, die Sache steht nicht fest; aber eben daß im Leben Jesu so Vieles und Wesentliches nicht feststeht, daß wir weder darüber im Klaren sind, was er eigentlich gewollt, noch wie und in welchem Umfang er es gewollt hat, ist das Mißliche. Es läßt sich vielleicht ausmachen; aber daß es erst ausgemacht werden soll, daß statt der unmittelbaren Gewißheit des Glaubens uns am Ziele weitaussehender kritischer Untersuchungen höchstens Wahrscheinlichkeit in Aussicht gestellt wird, verändert die ganze Lage der Sache. An wen ich glauben soll, an wen ich mich auch nur als ein sittliches Vorbild anschließen soll, von dem muß ich vor allem eine bestimmte, sichere Vorstellung haben. Ein Wesen, das ich nur in schwankenden Umrissen sehe, das mir in wesentlichen Beziehungen unklar bleibt, kann mich zwar als Ausgabe für die wissenschaftliche Forschung interessiren, aber praktisch im Leben mir nicht weiter helfen. Ein Wesen mit bestimmten Zügen, woran man sich halten kann, ist aber nur der Christus des Glaubens, der Legende, natürlich eben nur für den Gläubigen, der alle Unmöglichkeiten, alle Widersprüche, die in diesem Bilde liegen, in den Kauf nimmt; der Jesus der Geschichte, der Wissenschaft, ist lediglich ein Problem, ein Problem aber kann nicht Gegenstand des Glaubens, nicht Vorbild des Lebens sein.

30.

Und zum Unglück ist gerade unter demjenigen, was wir noch verhältnißmäßig am sichersten von Jesus wissen, etwas, was wir als zweiten und entscheidenden Grund dafür anführen müssen, warum er, wenn wir der Wissenschaft ihr Recht über ihn lassen, der Menschheit, wie sie unter dem Einfluß der Bildungsmomente der neueren Zeit sich entwickelt hat, als religiöser Führer von Tag zu Tage fremder werden muß.

Mag er sein Reich nur für Juden oder auch für Heiden bestimmt haben; mag er in demselben dem mosaischen Gesetze, dem Tempeldienste viel oder wenig Geltung zugedacht haben; mag er seinen Tod vorhergesehen haben oder von demselben überrascht worden sein; entweder ist auf unsere Evangelien überall nichts Geschichtliches zu begründen, oder Jesus hat erwartet, zur Eröffnung des von ihm verkündigten Messiasreichs in allernächster Zeit in den Wolken des Himmels zu erscheinen. War er nun der Sohn Gottes, oder sonstwie ein höheres übermenschliches Wesen, so ist dagegen nichts einzuwenden, außer daß es nicht eingetroffen ist, daß mithin, der es vorhersagte, ein göttliches Wesen nicht gewesen sein kann. War er aber dieß nicht, sondern ein bloßer Mensch, und hegte doch jene Erwartung, so können wir uns und ihm nicht helfen, so war er nach unsern Begriffen ein Schwärmer. Das Wort hat längst aufgehört, was es im vorigen Jahrhundert war, ein Schimpf- und Spottname zu sein. Wir wissen: es hat edle, hat geistvolle Schwärmer gegeben, ein Schwärmer kann anregend, erhebend, kann auch historisch sehr nachhaltig wirken; aber zum Lebensführer werden wir ihn nicht wählen wollen. Er wird uns auf Abwege führen, wenn wir seinen Einfluß nicht unter die Controle unsrer Vernunft stellen.

Das Letztere hat die Christenheit während der ganzen mittleren Zeit versäumt. Sie hat sich in die Weltverachtung ihres Christus nicht blos hineinziehen lassen, sondern ihn darin überboten. Er ist doch noch in der Welt geblieben, wenn auch nur um die Menschen von ihrer Werthlosigkeit zu überzeugen; wenn in der Folge Einsiedler und Mönche den Weltverkehr flohen, so waren sie weiter gegangen, aber nur auf dem Wege, auf den er selbst sie geführt hatte. Mit dem Verzicht auf irdische Güter freilich wußten sie sich zu helfen: der Einzelne durfte nichts besitzen, aber die Gemeinschaft, das Kloster, und ohnehin die Kirche und deren Vorstände, desto mehr. So hat auch das Wort von dem andern Backen, den wir demjenigen darbieten sollen, der uns auf den einen schlägt, sich von jeher aus dem gesunden Menschenverstande heraus corrigirt; das fromme Mittelalter ist, besondre Heilige abgerechnet, so wehr- und rauflustig gewesen als irgend eine andere Zeit. Auch für den kommenden Morgen haben seine wackern Hausväter und Hausmütter gesorgt trotz dem Worte ihres Christus; aber die guten Menschen hatten bei dieser Erfüllung ihrer weltlichen Pflichten immer eine Art von bösem Gewissen, sie kamen sich wenigstens niedrig und gemein dabei vor; denn wenn er vollkommen sein wolle, hatte Jesus zu dem reichen Jüngling gesprochen, so müsse er seine Güter verkaufen und den Ertrag den Armen geben; und nicht alle fassen diese Rede, hatte er ein andermal gesagt, aber es gebe solche, die sich zu Verschnittenen gemacht haben um des Reiches Gottes willen.

Grundsätzlich hat erst die Reformation diese Vernunftcontrole an der schwärmerisch-ascetischen Seite des Christenthums vorgenommen. Die Aussprüche Luthers über den Werth der ehelichen, häuslichen, bürgerlichen Pflichterfüllung, der Thätigkeit einer Hausfrau, einer Mutter, einer Magd oder eines Knechts, in Vergleichung mit den unnützen Kasteiungen, dem sinnlosen Plappern und faulen Drohnenleben der Mönche und Nonnen, sind von der gesundesten Menschlichkeit. Aber man meinte damit nur der katholischen Ausartung, nicht dem Christenthum selbst entgegenzutreten. Die Erde blieb ein Jammerthal, die Blicke auf die künftige himmlische Herrlichkeit gerichtet. Ist der Himmel unsre Heimath, fragt Calvin, was ist die Erde anderes als ein Verbannungsort? Nur weil uns Gott einmal in diese Welt gesetzt und unsern Beruf in ihr uns angewiesen hat, müssen wir demselben auch nachkommen; einzig das göttliche Gebot ist es, das unsern irdischen Verrichtungen, die an sich keinen wahren Werth haben, einen solchen verleiht. Es ist klar, daß dieß eine Halbheit ist: wenn unsre irdischen Verrichtungen keinen Werth in sich selbst haben, so können sie einen solchen von außen her nicht erhalten; haben sie aber einen eigenen Werth, so kann dieser nur auf den sittlichen Beziehungen beruhen, die in denselben liegen. Das Erdenleben der Menschheit trägt sein Gesetz, seine Regel in sich selbst, wie es seinen Zweck, seine Ziele in sich selbst trägt.

31.

Aber der, den ihr Schwärmer nennet, sagt man uns, ist doch zugleich derjenige gewesen, der, so mancher anderen sittlichen Vorschriften vom höchsten Werth nicht zu gedenken, die Grundsätze der Nächstenliebe, der Erbarmung, ja der Feindesliebe, der Brüderlichkeit unter allen Menschen, durch Lehre und Beispiel zuerst in der Menschheit angepflanzt hat; und wer auch nur zu diesen Grundsätzen sich bekennt, bekennt sich noch zu ihm und zum Christenthum. Dessen schönste Zierde, ist unsre Antwort, der höchste Ruhm seines Stifters, bleiben sie gewiß; aber sie sind ihm weder ausschließlich eigen, noch fallen sie mit ihm dahin.

Milde und Erbarmen nicht blos gegen alle Menschen, sondern gegen alle lebenden Wesen, hat schon fünf Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung der Buddhismus empfohlen. Daß die Vorschrift der Nächstenliebe der Inbegriff des ganzen Gesetzes sei, hat unter den Juden selbst bereits ein Menschenalter vor Jesu der Rabbi Hillel gelehrt. Daß wir auch Feinden helfen sollen, war schon zur Zeit Jesu Grundsatz der Stoiker. Und ein Menschenalter nach ihm, doch gewiß unabhängig und ganz aus Principien der stoischen Schule heraus, hat Epiktet alle Menschen Brüder genannt, weil alle Gott zum Vater haben. Diese Erkenntniß liegt so sehr auf dem Entwicklungswege der Menschheit, daß sie an gewissen Stellen desselben nothwendig, und nicht bloß von Einem, gefunden werden mußte. Eben um jene Zeit war dieselbe den edlern Geistern unter Griechen und Römern durch die Niederwerfung der Völkerschranken in dem römischen Weltreiche, den Juden durch ihre Zerstreuung in alle Länder nahe gelegt. In dieser Fremde unter den Heidenvölkern entwickelte und organisirte sich unter ihnen ein Zusammenhalten, eine Bereitwilligkeit zu gegenseitiger Handreichung und Unterstützung, die durch den im Christenthum hinzutretenden Glauben an den erschienenen und bald wiederkehrenden Messias nur noch inniger wurde. Die zwei Jahrhunderte des Drucks und der Verfolgung, die das Christenthum von da an noch durchzumachen hatte, eine Zeit, der es überhaupt das Beste verdankt, was sich in ihm entwickelt hat, bildeten eine fortwährende Schule gerade dieser Tugenden.

Freilich waren es zunächst die Volks- und weiterhin die Glaubensgenossen, auf welche sich diese thätige Liebe bezog. Daß Christus für alle Menschen gestorben, ist nicht blos eine transscendente Begründung der allgemeinen Menschenliebe, deren wahrer Grund viel näher liegt; sondern sie führt auch die Gefahr mit sich, den Glauben an diesen Erlösungstod zur Bedingung der Liebeserweisung zu machen. Kein Wunder, daß man in der christlichen Kirche immer mehr der Versuchung unterlag, den Menschen nur im Christen zu sehen, die Liebe auf den Kreis ihrer Angehörigen zu beschränken. Ja selbst innerhalb dieses Kreises auf die Bekenner des vermeintlich wahren Christenthums, d. h. die Glieder derjenigen Kirche, die einem jeden als die rechtgläubige erschien. Das Christenthum für sich ist aus Kreuzzügen und Ketzerverfolgungen nicht hinausgekommen; nicht einmal die Toleranz, die doch nur auf der negativen Seite der allgemeinen Menschenliebe liegt, hat es für sich erreicht. Die Emsigkeit in Liebeswerken, der Eifer wie das Geschick in Organisirung wohlthätiger Anstalten und Thätigkeiten, ist eine Eigenschaft unsrer specifisch Frommen, deren Ruhm ihnen nicht geschmälert werden soll, außer soweit sie durch hierarchische oder doch proselytenmacherische Hintergedanken ihn selber schmälern. Die Idee der Humanität ist durch das Christenthum wohl vorbereitet worden; aber sie rein und voll herauszuarbeiten und als Princip aufzustellen, blieb der weltlich-philosophischen Bildung des ungläubigen 18. Jahrhunderts vorbehalten. Auch im Sclaven den Menschen zu achten, darauf haben schon die Stoiker gedrungen; die Abschaffung der Sclaverei aber hat nicht die christliche Kirche, sondern die leidige Aufklärung durchgesetzt. Menschenrechte sind kein christlicher, sondern ein philosophischer Begriff.

Nicht anders verhält es sich mit den übrigen moralischen Vorschriften des Christenthums: es hat sie weder in die Welt gebracht, noch werden sie mit ihm aus der Welt verschwinden. Wir behalten die ganze Errungenschaft des Christenthums, wie wir die des Hellenismus und des Römerthums behalten haben, ohne die Religionsform, in der jener Gehalt als in seiner Fruchthülle herangereift ist. Nur damit werfen wir auch die Beschränktheit und Einseitigkeit ab, womit diese Lehren im Christenthum durchaus behaftet waren.

32.

Doch warum scheiden wollen, wird man uns hier vielleicht noch fragen, was doch gar wohl vereinbar ist? In seiner jetzigen Fortbildung wird das Christenthum unsre Menschenliebe, überhaupt unsre Sittlichkeit, nicht mehr beschränken, es wird sie nur beleben; und eine solche Belebung wird in diesem Zeitalter der materiellen Interessen, des entfesselten Egoismus, nicht vom Uebel sein. Also warum nicht auch hier dem Spruche nachleben: man soll das eine thun und das andere nicht lassen?

Deßwegen nicht, antworten wir, weil es schlechterdings nicht mehr geht. Warum es nicht mehr geht, ist im Bisherigen sattsam auseinandergesetzt worden: wir können für unser Handeln keine Stütze in einem Glauben suchen, den wir nicht mehr haben, in einer Gemeinschaft, deren Voraussetzungen, deren Stimmungen wir nicht mehr theilen. Wir wollen eine Probe machen; das aber soll die letzte sein. Wir sind zu Anfang von dem alten Kirchenglauben ausgegangen, haben ihn in seiner Fort- und Umbildung verfolgt, und Schritt für Schritt gefunden, daß er uns in keiner seiner Gestalten mehr annehmbar ist. Nehmen wir ihn jetzt zum Schlusse in seiner neuesten, mildesten, modernsten, und zugleich in concreter Gestalt, wie er sich im Cultus zur Darstellung bringt: machen wir in Gedanken den christlichen Festcyclus in einer protestantischen Kirche mit, deren Geistlicher auf dem Boden der heutigen Wissenschaft steht, und sehen zu, ob wir uns dabei noch aufrichtig und natürlich erbauen können. Wie also wird der Mann, oder wie werden wir selbst, wenn wir uns an seine Stelle setzen, zu Werke gehen, was wird jedesmal, wenn er auch nicht alles aussprechen mag, doch für sich sein Gedankengang sein müssen?

Am Weihnachtsfeste wird er sich sagen und vielleicht auch den Verständigen unter seinen Zuhörern andeuten, daß von einer Geburt aus der Jungfrau keine Rede sein könne. Daß die ganze Geschichte von der Reise der Eltern Jesu nach Bethlehem um der Schätzung des Quirinus willen eine schlechtgemachte Erdichtung sei, da die Schätzung des Quirinus erst vor sich ging, als Jesus schon ein Knabe war. Daß das Kind vermuthlich ganz ruhig in dem Nazaretanischen Heimwesen seiner Eltern zur Welt gekommen sei. Daß mit der Krippe auch die Hirten, und mit den Hirten die Engel wegfallen. Daß mit diesem Kinde durchaus nicht blos Friede auf die Erde gekommen, sondern auch Streit und Krieg im Ueberfluß; kurz, daß wir an diesem Tage zwar gewiß die Geburt einer bedeutenden, zu großer geschichtlicher Wirksamkeit bestimmten Persönlichkeit, doch eben nur eines Menschen feiern, der an dem Fortschritte der Menschheit Mitarbeiter vieler andern gewesen ist.

Am Erscheinungsfeste hatte ein solcher Geistlicher abermals erst reinen Tisch zu machen, d. h. die evangelische Erzählung als einen messianischen Mythus wegzuräumen. Er würde sich, und wenn er recht kühn wäre, auch seine Gemeinde, erinnern, daß der wandernde Stern kein anderer als jener Stern aus Jakob sei, von dem einst, der Erzählung des 4. B. Mosis zufolge, der heidnische Seher Bileam, doch nur als Sinnbild eines siegreichen jüdischen Königs, gesprochen hatte; daß die Weisen aus Morgenland nur für den Stern zurechtgemacht, ihre Geschenke aber aus einer Stelle des Pseudo-Jesaias genommen seien, wo von dem über Jerusalem ausgegangenen Lichte, d. h. dem am Ende des Exils dem jüdischen Volke wieder zugewandten göttlichen Gnadenschein, gesagt wird, die Heiden werden darin wandeln und aus Saba werde man Gold und Weihrauch als Geschenke bringen. Das Jesuskind, würde derselbe Pfarrer ehrlich sagen müssen, habe um jene Zeit sicherlich so unbeachtet von weitern Kreisen – und zwar nicht in Bethlehem, sondern vermuthlich in Nazaret – gelegen, wie zu jeder Zeit Kinder einfacher Bürgersleute pflegen.

Wie am Christfeste den Jungfrauensohn, so hätte am Charfreitag unser Geistlicher vor Allem den Opfertod, überhaupt den Erlöser, zu beseitigen. Je aufrichtiger er dabei zu Werke ginge, desto unzufriedener würden die Altgläubigen, je schonender, desto weniger würden die Fortgeschrittenen unter seinen Zuhörern zufrieden sein, die auch in der That ein Recht hätten ihn der Zweideutigkeit zu beschuldigen, wenn er den Begriff der Erlösung und des Erlösers in irgend einem zurechtgemachten Sinne noch festhalten wollte.

Noch mißlicher wird die Aufgabe am Osterfeste. Hier ist es kaum möglich, in einer christlichen Kirche das Ding beim rechten Namen zu nennen: und thut man das nicht, so ist alles Reden darüber nur Wortmacherei.

Endlich am Himmelfahrtstage tritt gar die Schwierigkeit ein, sich der Satire zu enthalten. Von diesem Vorgang als von einem thatsächlichen zu sprechen, ist gebildeten Menschen gegenüber heut zu Tage geradezu eine Beleidigung. Also symbolisch wie schon die Auferstehung, wie weiterhin alle die Wundergeschichten, die Krankenheilungen, Todtenerweckungen, Teufelsaustreibungen, worüber an gewöhnlichen Sonntagen so oft gepredigt wird, und die alle eine moralische Wendung möglich machen. Allein wozu überhaupt diese Umwege, wozu sich immer erst mit Dingen herumschlagen, die wir nicht mehr brauchen können, um endlich auf das zu kommen, was wir brauchen, das wir aber viel einfacher und zugleich bestimmter hätten haben können, wenn wir gleich unmittelbar darauf losgegangen wären?

An allen diesen Festtagen, wie an den gewöhnlichen Sonntagen nicht minder, beginnt unser Geistlicher seinen Vortrag mit Gebet nicht nur zu Gott, sondern auch zu Christus, und verliest hierauf als Text Sprüche oder Abschnitte der heiligen Schrift. Ganz wohl; aber was das Erstere betrifft, wo nimmt er das Recht her, zu einem bloßen Menschen – und das ist ihm ja Christus – zu beten? Nur die Gewohnheit läßt uns über das Ungeheuerliche dieses Brauchs hinwegsehen, der aus einem ganz andern Standpunkt herübergenommen ist; oder will man die Sache als rhetorische Licenz fassen, wie man wohl auch einen Berg, einen Fluß anruft, so ist zu erwidern, daß für derlei Licenzen die Kirche nicht der Ort ist, wo man alles ernstlich nimmt und nehmen soll. Was aber die Schrifttexte anlangt – hat sich wohl der Geistliche, den wir uns vorstellen, mit seinen Zuhörern auch darüber verständigt, was sie an der sogenannten heiligen Schrift haben? Hat er ihnen gesagt: die Reformatoren haben uns das Recht erkämpft, frei in der Schrift zu forschen; aber die neuere Wissenschaft hat sich das Recht erobert, frei über die Schrift zu forschen? Und hat er ihnen deutlich gemacht, was hierin liegt? Daß die Vernunft, die über die Schrift forscht, d. h. nicht blos ihren Inhalt zu ermitteln, sondern auch ihrem Ursprung, dem Maß ihrer Glaubwürdigkeit und ihres Werthes auf den Grund zu kommen sucht, sich auch über sie stellt? Daß demnach die Schrift aufgehört hat, höchste religiöse Erkenntnißquelle für uns zu sein? Die Theologen lassen sich zählen, die über diesen Punkt bis jetzt ehrlich mit der Sprache herausgegangen wären. Man thut, als ginge es von dem Standpunkte der Reformatoren bis zu dem der jetzigen freisinnigen Theologie auf ebenem Boden, nur in allmählicher Ansteigung, fort; während doch in der Beseitigung der Schriftautorität eine Staffel dazwischen liegt, selbst noch höher und gefährlicher als jene, die vom katholischen Standpunkt aus die Reformatoren zu ersteigen hatten.

Doch bleiben wir noch einen Augenblick in unsrer modern-protestantischen Kirche, und wohnen auch der Feier der Sacramente bei. Da macht die Taufe, von allem Formwesen abgesehen, auf uns den Eindruck, daß sie ihren guten Sinn haben mochte, so lange es galt, aus der Juden- und Heidenwelt die neue Messiasgemeinde zu sammeln und durch ein gemeinsames Weihezeichen zu verbinden. Heute, inmitten einer christlichen Welt, fällt dieser Sinn hinweg; da aber die spätere kirchliche Beziehung der Taufe auf die Erbsünde und den Teufel in der modernen Kirche, deren Cultus wir in Gedanken mitmachen, noch weniger in Betracht kommen kann, so erscheint uns hier die Taufe als eine Ceremonie ohne rechte Bedeutung, ja mit einer Bedeutung, die uns zuwider ist. Wir wollen es den Juden überlassen, ihr Knäblein durch ein bleibendes körperliches Zeichen als etwas Besonderes zu markiren; wir mögen auch das vorübergehende Zeichen nicht, unsre Kinder sollen eben nichts Besonderes, sollen nur Menschen sein, und zu Menschen wollen wir sie erziehen.

Wie die Taufe mit der Beziehung auf eine umgebende Juden- und Heidenwelt, weiterhin auf Teufel und Erbsünde, so hat das Abendmahl mit der Vorstellung des Erlösungstodes seine eigentliche Bedeutung verloren, und es bleibt nur der abstoßende orientalische Tropus vom Trinken des Bluts und Essen von dem Leibe eines Menschen übrig. Außerdem sind uns die blödsinnigen und doch so verhängnißvollen Streitigkeiten darüber, ob es nicht vielmehr gar wörtlich damit gemeint, und wirkliches Fleisch und Blut dabei im Spiele sei, eine peinliche Erinnerung. Ein Bruderfest der Humanität mit gemeinsamem Trunk aus einem Becher könnte uns schon gefallen; aber Blut wäre das Letzte, wovon dabei die Rede sein dürfte.

Auf dem Altar unsrer modern-protestantischen Kirche werden wir, wenigstens soweit sie auf lutherischem Boden steht, das Bild des gekreuzigten Christus, das sogenannte Crucifix antreffen. Dieses alte Haupt- und Grundsymbol der Christenheit liebt bekanntlich die katholische Kirche verschwenderisch auf Wegen und Stegen anzubringen; die protestantische, soweit sie es nicht mit andern Bildern beseitigte, hat es doch mit einer Art von Schamhaftigkeit ins Innere der Kirchen und der Häuser zurückgezogen, das leere Kreuz auch noch auf Kirchhöfen, Kirchtürmen und dergleichen bestehen lassen. Es mag auf seinen Reisen in Italien oder sonst in katholischen Landen gewesen sein, daß Goethe, durch jene Zudringlichkeit geärgert, den Widerwillen faßte, der ihn in dem berufenen Verse seiner Venezianischen Epigramme neben Knoblauch und Wanzen das † stellen ließ. Schon die bloße Form dieses Zeichens, das »starre Hölzchen quer auf Hölzchen«, wie er im westöstlichen Divan sich ausdrückt, war ihm unangenehm, und sicher würde es ihn erheitert haben, wenn er gewußt hätte, daß er hierin mit jener kernhaften pfälzischen Elisabeth Charlotte, der Herzogin von Orleans, zusammentraf, die gleichfalls von sich bekannte, »die Kreuze gar nicht gern zu sehen, weil diese Form ihr nicht gefalle.« Vielleicht war es halb unbewußt auch schon bei ihr, und jedenfalls war es bei Goethe entschieden mehr als nur die Form, mehr als ein blos ästhetischer Widerwille, was ihn von dem Kreuzeszeichen abstieß. Es war das »Jammerbild am Holze«, das man ihm, laut der angedeuteten Stelle im Divan, nicht »zum Gotte machen« sollte. Das Crucifix mit dem für die Sünden der Menschen gestorbenen Gotte ist einerseits das sichtbare und handgreifliche Unterpfand der Sündenvergebung für die Gläubigen, andererseits aber die Vergötterung des Leidens überhaupt; es ist die Menschheit in ihrer traurigsten Gestalt, gleichsam gebrochen und zerschlagen an allen Gliedern, die ihrer eben in dieser Mißgestalt noch gewissermaßen froh wird, die einseitigste schroffste Verkörperung der christlichen Weltflucht und Passivität. In einem Sinnbilde dieser Art kann die jetzige lebens- und thatfrohe Menschheit nicht mehr den Ausdruck ihres religiösen Bewußtseins finden, und seine fortdauernde Anerkennung auch in unsrer modern-protestantischen Kirche ist doch nur eine jener Halbheiten und Unwahrheiten mehr, die sie zu einem so wenig lebensfähigen Wesen machen.

Nun dächte ich aber, wären wir zu Ende. Und das Ergebniß? unsre Antwort auf die Frage, die wir diesem Abschnitt unserer Rechenschaft vorangestellt haben? Soll ich sie noch ausdrücklich geben, das Facit aus allem Bisherigen mit vollen Ziffern unter die Rechnung setzen? Nöthig wäre es wahrhaftig nicht; aber ich möchte um alles nicht, selbst dem mißliebigsten Worte, auszuweichen scheinen. Also meine Ueberzeugung ist: wenn wir nicht Ausflüchte suchen wollen, wenn wir nicht drehen und deuteln wollen, wenn wir Ja Ja und Nein Nein bleiben lassen wollen, kurz wenn wir als ehrliche aufrichtige Menschen sprechen wollen, so müssen wir bekennen: wir sind keine Christen mehr.

 

Damit haben wir uns jedoch, wie schon oben vorausbemerkt, noch nicht die Religion überhaupt abgesprochen; wir könnten immerhin noch religiös sein, wenn wir es auch nicht mehr in der Form des Christenthums wären. Wir stellen daher unsre zweite Frage:


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