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Meister Josephus war glücklich. Er thronte hoch oben über den gemeinen Sterblichen, die neben dem Viererzug im Staub der Landstraße keuchten oder in ordinären, zwerghaften Einspännern sich rütteln ließen, zwischen einem Fürsten und einer statuenschönen Frau, die unnahbarste Welt des Gothaer Almanachs und der internationalen Hochfinanz hinter sich. ... Die herbe, klare Luft des Engadin spielte mit seiner flatternden Löwenmähne, die Sonne überstrahlte golden die liebliche Größe der Landschaft, die weißen Dörfer, die grünen Matten, die kornblumenfarbenen und smaragdenschillernden Seen, das blendende Firngezack am zartblauen Himmel, und vor ihm rissen, von Mr. Owens haariger Meisterhand gezügelt, die vier edlen Rosse schäumend das Prunkgefährt hinaus in die weite Welt, in das große Leben.
Er kam sich majestätisch vor, wie er da oben saß. Er hatte nicht nur ein tiefes Mitleid mit der armseligen staubschluckenden Menschheit zu seinen Füßen, nein, sogar gegen die hinter ihm auf dem Deck der Mailcoach gedrängte Herrenwelt empfand er beinahe schon ein Gefühl stiller Würde. Wer diese Gentlemen waren, wußte er nicht recht. Die meisten, die glattrasierten, die wie athletische Reverends aussahen, sprachen kein Deutsch und hatten sich bei dem flüchtigen Gemurmel der Vorstellung darauf beschränkt, ihm die Hand zu schütteln und festzustellen, daß das Wetter heute »lovely« und die Gesellschaft von St. Moritz »very select« sei. Dann war da noch ein junger Diplomat, der ewig schwieg und ewig lächelte und von dem die Rede ging, daß noch niemand, nicht einmal seine eigene Frau, habe feststellen können, ob er eigentlich sehr klug oder sehr dumm sei, ferner ein Magnat aus Transleithanien, der aus seiner Dummheit kein Hehl machte und sich ihrer, als eines Erbteils seiner Väter, nicht schämte, und ein Milchbart von einem englischen Lord, mit seinen neunzehn Jahren bereits Weltumsegler, Tigertöter und nebenbei vielfacher Millionär. Doch verlor er darüber, nach der vornehmen Sitte seines Stammes, nie ein Wort, sondern blickte still und mit einem leidenden Ausdruck in den guten Knabenaugen nach Virginia hinüber. Er schien hoffnungslos in sie verliebt.
Meister Josephus nicht! Ihre blühende, lebenswarme Schönheit fesselte ihn rein sachlich, als ein Sonntagswerk der Natur. Ein Körper voll Kraft, zu leben und zu genießen, und, auf dem matten Oval des goldhaarigen, verächtlichen Napoleonskopfs sich spiegelnd, eine Seele voll kalten Wollens und Wissens. Das reizte seine Künstlerhand. Derlei nachzubilden, in seiner altrömischen, klassischen Härte und Weichheit zugleich! Aber weiter ging es nicht.
Sie schien das auch zu merken und sprach nicht viel. Einen Künstler neben sich zu haben, war ihr eigentlich »shocking«. Das waren Menschen, die man bezahlte, Menschen aus der Menge unten, die wie die anderen etwas von einem haben wollten, Titel, Amt, Aufträge und Orden. Ihr Mannesideal, der angelsächsische »independent gentleman«, wollte nie und von niemand etwas, diente keinem, hatte selbst alles, was er vom Leben nur brauchen konnte, und ging aufrecht als Herr über die britische Erde.
Auch der alte Herzog war ziemlich schweigsam, besonders als sie jetzt über das langgestreckte holperige Pflaster von Pontresina rollten, inmitten des bunten Lebens der Hochsaison, das in diesen ungewöhnlich milden ersten Septembertagen noch das Engadin erfüllte. Waren doch weithin sogar die Bauernhäuser im Orte selbst und den Dörfern der Umgegend mit Fremden besetzt, ganze Familien, die unvorsichtig angekommen, in ihre einzelnen Bestandteile zerrissen und stundenweit voneinander entfernt einquartiert worden, und irrten doch jeden Abend, wenn unter Peitschenknall und Hörnerklang die lange staubbedeckte Reihe der Postwagen von Thusis vorgefahren war, die Ankömmlinge gepäckbeschwert, staubig und hungrig von einem Gasthaus zum anderen und nächtigten schließlich in einer Droschke, auf einem Billard oder einer Pritsche im Hausflur, voll Gram und Zorn ihres behaglichen, leichtsinnig verlassenen Heims gedenkend.
Meister Josephus wußte das und schmunzelte befriedigt. Es fiel ihm der Abend seiner gestrigen Ankunft in dem noch viel exklusiveren St. Moritz ein – dies unnachahmliche, mitleidig-süffisante Lächeln, mit dem der majestätische Maitre d'Hotel einen Trupp salopper deutscher Touristen, Herren und Damen, ersucht hatte, doch in vier bis sechs Wochen wieder einmal wegen eines Quartiers nachzufragen, und dann – zum staunenden Ärger der Zurückgewiesenen – diese schmeichelnde, unterwürfige Zuvorkommenheit der Frackträger, die ihm, dem Meister, das Gepäck abnahmen und ihn in die von Seiner Hoheit dem Herzog von Siebenwalden bestellten Gemächer führten.
Das war eben die große Welt. Die hob einen wie eine Wolke über alle Niederungen und Kleinlichkeiten empor. Die stellte überall das »Tischlein-deck-dich!« bereit und zauberte ein dienstfertiges Lächeln auf alle Gesichter. Die trug einen auf rollenden Rädern im Sonnenschein hoch über der Menge wie einen satten, zähnestochernden Halbgott im Fluge durch die weite Flur.
Meister Josephus war ganz würdevoll, ganz ernst geworden. Ein Bild aus dem Zillertal fiel ihm ein – eine winddurchpfiffene, aus Bruchsteinen ärmlich an eine Felswand geklebte Hütte und drinnen, auf einem Bündel schmutziger Hadern, ein nasser, hungeriger, durchfrorener Geißbub, der mutterseelenallein da oben auf der Alpe sich sein Reisigfeuerchen anmacht und inmitten des Rauches, in dem die blauen Kinderaugen tränen, an langen Abenden aus Langeweile mit seinem Messer an einem Stücke Holz herumbastelt und Figuren schnitzelt und sich kindisch seiner Kunstfertigkeit freut. ...
Und derselbe Geißbub saß jetzt da als ein majestätischer Dandy, den das Volk unten am Wege für einen Großfürsten oder Erzherzog halten mochte, mit wallendem Siegfriedsbart, den goldenen Zwicker über den tief schauenden großen Künstleraugen inmitten der blaublütigsten Wappenträger, der hochmütigsten Erbsöhne der Millionenwelt, und sie betrachteten ihn wie ihresgleichen! Sie ehrten ihn sogar und gaben ihn der Sonne ihres Kreises, der tizianischen Schönheit zu seiner Linken, als Nachbarn.
Er holte tief Atem. Er empfand plötzlich einen unbändigen Respekt vor sich selber! Er hatte es doch weit gebracht im Leben. Weiter als die um ihn, die sich nur die Mühe gegeben hatten, geboren zu werden! Und er konnte es noch weiter bringen! Nur klug mußte man sein! Auf seinen Vorteil passen! Wer vom Wege abweicht, den beißen die Hunde. Und drüben auf dem großen Markt, wo es Geld und Güter regnet, haben ihn die Menschen längst vergessen. ...
Man hatte jetzt den Wagen verlassen und sich in dem kleinen Chalet am Gletscher um einen Kaffeetisch gruppiert. Ringsum saß die buntscheckige, vielsprachige Touristenwelt und kam und ging in einem ewigen Gewimmel um den zahmen, mürrisch in seinem schmutzigen Moränenbett hingelagerten Eisstrom. Dunkle Punkte kletterten auf einer gegen ein Trinkgeld zugänglichen Treppe von Firnstufen bis hinauf auf den Rücken des Riesen, über dem in weiter Ferne die bleichen Kolosse der Berninagruppe von Mittagsflor umsponnen wie ein weißes Märchenreich zum Himmel ragten. Die schwarzen Insekten krochen, wenn sie sich oben lange genug in verwegenen Stellungen gesonnt hatten, am Billetschalter vorbei in die künstliche Eishöhle, sie klommen an den Schuttwänden des Tales jodelnd auf und nieder und umspielten wie die Mücken im Sonnenschein den toten, stundenlangen Lindwurm von kristallklarem Eis, der aus seinen unzugänglichen, weiß dräuenden Schlupfwinkeln in der Hochwelt langsam herabgeglitten war, um hier bei Böllerschüssen und dem Gekreisch nervöser Damen, dem Dunst der Kaffeekannen und dem Geschrei spielender Kinder zu enden.
Dazwischen tauchten jetzt ein paar fremdartige Gestalten auf. Die meinten es ernst mit den Bergen. Die hatten sie wirklich besucht und kamen von dort, von dem Gipfel des Engadiner Königs, des Piz Bernina. Zwei verwetterte vollbärtige Männer in braunem Loden, gerollte Seile um die Brust, den Rucksack im Kreuz, die Eisaxt in der Hand – Bergführer aus Pontresina – und hinter ihnen ein hagerer ältlicher Tourist mit einem faltigen Magistergesicht unter goldener Brille und einem grämlichen Lächeln darauf, als bereite ihm die im Tale schmausende, wandernde und seiner nicht achtende Menschheit einen empfindlichen Schmerz und zugleich eine trübe Genugtuung.
Meister Josephus fuhr halb auf. Jawohl – das war der wunderliche Heilige, der damals an der Jungfrau in die Gletscherspalte hineingelugt und ihn und Lotte an seiner seidenen Strickleiter aus den Schlünden des Rothtals errettet hatte. Er hatte ja selbst beim Verlassen der Zahnradbahn gesagt, daß er nach dem Engadin zu wallfahren gedenke, nach Sils-Maria, zum Zarathustra- Felsen von Surlei. Der Siegfried wollte ihn auf sich aufmerksam machen, ihn anrufen ... aber ihm stockte der Laut in der Kehle. ... Er konnte doch nicht schreien, in dieser Gesellschaft, daß sich alle die Köpfe nach ihm und dem verwitterten Alten vom Berge drehten, der so gar nicht in den Kreis der Stammbäume und Geldsäckel hier paßte. Und da war der Wüstenprediger auch schon verschwunden – weiter auf dem um das Chalet herumführenden Fahrweg, wie ein Schatten, der plötzlich auftaucht und wieder vergeht.
Die schöne rothaarige Frau an des Meisters Seite hatte die drei Höhenwanderer gleichgültig betrachtet. »Eine Frage, Herr Professor ... der alte Tourist da bringt mich darauf ... Sie standen doch vorhin im Stahlbad mit zwei Damen zusammen ...«
»Ei ja ...« Der Grandseigneur lächelte fein und drohte über den Tisch hinüber mit einer graziösen Hebung des Zeigefingers. »Ich sah da etwas ganz Reizendes ... Rosiges ... das sich leider bei meinem Nahen scheu zurückzog ... ja ... ja ... nur nicht verlegen ... mein allerbester Meister ... man kennt sie ja ... man weiß ja ... hähä ... man gönnt es Ihnen, mein Liebster ... von Herzen ... ja ... wie gesagt ... von Herzen. ...« Dabei nickte ihm der schöngeistige hagere Kavalier wohlwollend, väterlich vergnügt über den Tisch zu. Das gehörte für ihn, den diskreten Roué von einst, auch zu dem ästhetischen Behagen, das ihm die Persönlichkeit des löwenblonden Bildhauers bereitete – diese Folie von Schönheit und Jugend, wo jener ging und stand.
»Ich bitt' schön, Hoheit ...« hub Meister Josephus gutmütig an.
Aber seine Nachbarin unterbrach ihn. »Ist das die Bergsteigerin?« fragte sie. »Ich meine ... Sie haben doch eine Freundin, die eine berühmte Bergsteigerin sein soll ...«
»Die Lotte?« Er lachte herzlich. »Die geht auf keinen Berg mehr! Die hat eine heilige Angst davor. Gerad' wie ich! Der alte Herr mit dem Eispickel, der eben da mit seinen Führern vorbeigegangen ist – der weiß, warum? Der hat die Lotte und mich aus dem Abenteuer mit der Jungfrau, das ich vorhin erzählt hab', schließlich noch mit heiler Haut heimgebracht!«
»Also ist es die andere – die ältere Dame in Grau ... ich hielt sie für eine Gesellschafterin des Fräuleins oder so etwas ...«
Die ältere Dame in Grau – dieser Ausdruck mißfiel dem Bildhauer. Er verletzte ihn – vielleicht gerade weil er von diesen jugendroten Lippen kam. »Jawohl!« erwiderte er etwas unwirsch. »Das ist die Schwester. Und die macht Touren, daß jeder Bergführer den Hut abzieht!«
»Nehmen Sie mir, bitte, meine Neugierde nicht übel!« Ihre weiße, nervige Hand spielte unruhig mit den Brotkrumen auf dem Tisch. »Ich frage nur, weil, wie es scheint, diese Dame und mein Mann in den Bergen ganz unzertrennlich sind. Darum interessiert es mich schließlich doch ein wenig. Kennen Sie sie näher?«
»Es ist meine beste Freundin,« erwiderte Meister Josephus kurz und finster.
Der alte Kavalier gegenüber schüttelte fast unmerklich den Kopf und lächelte fein und ungläubig. Natürlich ... wie konnte der oder die anderen hier sich das zusammenreimen? Eine ältliche Dame in Grau und er, der strahlende, blonde Meister Frauenlob ... es war wirklich ein wenig komisch für ihn, diese Freundschaft, wenigstens so, wie ihn diese Menschen von St. Moritz sahen. Es konnte ihm hier geradezu schaden! Ihn uninteressant machen und dadurch seine Stellung erschüttern.
»Und was ist sie sonst?« fragte Virginia anscheinend zerstreut weiter und warf mit Krumen nach den am Boden spielenden Spatzen.
Sonst? Er stutzte. Ja, was war sie eigentlich sonst?
»Sie ist Waise!« sagte er endlich.
»O ... wirklich?«
»Und sie bildhauert ein bißchen ... freilich ... 's ist nicht weit her damit ... immerhin verdient sie sich dadurch ein wenig Geld ...«
»O ... das ist erfreulich ...«
»Ja ... und sonst ...« Es fiel ihm weiter nichts ein. Es war wirklich nicht viel von Ellinor zu sagen. So äußerlich, bei Kaffee und Kuchen. Und wenn solch eine eisige Schönheit wie Virginia nach ihr fragte. Diese Herrschaften hatten schon recht, zu erstaunen, daß er, der Meister Josephus, gerade mit einem wenig hübschen, armen und späten Mädchen eine Herzensfreundschaft geschlossen.
»Aber ein guter Kerl ist sie!« sagte er endlich ernst und einfach. Niemand antwortete. In diesen Kreisen schien man »einen guten Kerl« nicht zu kennen und es ärgerte ihn, daß er das Wort ausgesprochen.
Er empfand plötzlich eine Sehnsucht nach Ellinor. Wie nach der Heimat in der Fremde. Nach Ruhe und Frieden. Das war sie. Das gab sie ihm, in stummer Treue – sie allein auf der weiten Welt. Das war doch weit besser, als das ewige Herumgekratze und Herumgeküsse mit all den langhaarigen Katzen ...
Seine selige Mutter fiel ihm ein. Eine einfache Bauersfrau oben im Zillertal, die im Lesen nicht weit über die Gesangbuchverse, im Schreiben kaum über ihren Namen hinausgekommen war. Und trotzdem war etwas in ihrer Nähe, das ihn, den hochaufgeschossenen, trotzigen, jungen Akademiker, der in den Ferien, um sich satt zu essen, endlich einmal den Weg nach Hause fand, wieder zu dem kleinen Bauernbub von einst machte. Ein Gefühl von der Nähe einfältiger, schutzspendender Liebe. Und das war, als sie die Augen schloß, auf Ellinor übergegangen. Er hatte oft mit seiner sonnigen Sultansheiterkeit darüber gelächelt, wenn sie so mütterlich um ihn besorgt war – aber derlei zu verlieren, tut weh. Es kommt nicht wieder auf der Welt. Er wußte es wohl.
Der greise Kavalier ihm gegenüber riß ihn aus seinem Brüten. »So nachdenklich, mein lieber Herr Professor!« sagte er mit einem einschmeichelnden Sonnenschein auf den verwitterten Zügen. »Mein Teuerster ... nein ... es gibt kein Nachdenken mehr! c'est décidé. Wir arbeiten von nun an gemeinsam!«
Gemeinsam arbeiten mit dem schöngeistigen, krittligen, von sich selbst überzeugten alten Dynasten, der von dem Künstler eigentlich gar keine Kunst, sondern nur einen Dienst zur Verherrlichung seiner Ahnen verlangte, der in alles hineinsprach und jeden Einwand mit einer graziösen Handbewegung, einem verführerischen Lächeln geradezu hinwegblies – ja – diese bestrickende Liebenswürdigkeit des hohen Herrn, das war es, was Meister Josephus am meisten fürchtete! Ihr konnte er nicht widerstehen! Er war nicht wie andere – querköpfige, nervöse Rauhbeine, die schließlich wütend ihrem erlauchten Auftraggeber den ganzen Krempel vor die Füße werfen – er wurde, dank der ewigen Wandlungsfähigkeit seines Wesens, in der Hofluft zum Hofmann wie in der Bauernhütte zum Bauer, – er blieb und tat schließlich gelangweilt alles, was man wollte ...
Und dieser kleine Hofhalt! Eine Miniaturausgabe, ein Spielzeug im Rokokostil. Ein komisches Ding im zwanzigsten Jahrhundert! Mit all seinem Geflüster und Getuschel in den Ecken, seinen wichtig hochgezogenen Brauen, seinem ölglatten Lächeln und Achselzucken hinterher – alles falsch wie Galgenholz! Und dabei so liliputanerhaft! In der Renaissance, zur Zeit der überlebensgroßen Menschen, ließ man sich das Hofleben gefallen! Da war der Künstler im Hause der Fürsten geborgen wie Daniel in der Löwengrube. Ihm taten die schönen Bestien nichts, die sich untereinander zerfleischten! Aber jetzt ... Rang- und Quartierliste, Gothaer Almanach, Reichsanzeiger und Kreuzzeitung, Ordenstabellen und Streckenrapporte der Hofjagd und dazwischen so ein armer fideler Geißbub ... o weh! o weh! Meister Josephus wurde bitterweh zu Sinn. Er bemitleidete sich selbst aus tiefstem Herzen.
Den Herzog verstimmte sein Zögern. »Ich will ja nicht in Sie drängen, bester Herr Professor!« sagte er, sich erhebend, etwas pikiert. »Aber warum machen Sie es sich und mir unnötig schwer? Sie werden ja doch ...«
Der andere wehrte bittend mit der Hand ab. »Nur noch ein bißchen Bedenkzeit möcht' ich!« murmelte er kleinlaut. »Nur eine Viertelstunde, Hoheit ...«
»Aber selbstverständlich, mein bester Meister!« Die Hoheit nickte Gewährung und winkte ihm zugleich anmutig mit zwei Fingern der Linken, zu folgen, während er mit seinen Begleitern den Promenadepfad nach dem Gletscher einschlug. Aber Meister Josephus blieb gegen alle Höflichkeit und alle Etikette zurück. Finster dareinschauend und seinen Vollbart mit beiden Händen strählend saß er da und kümmerte sich nicht um die Welt.
Die schöne Amerikanerin zuckte, als sie in einiger Entfernung von ihm waren, in einer fröstelnden Abwehr mit den Schultern. Treuherzige deutsche Bären dieser Art liebte sie gar nicht. Aber ihr Oheim widersprach ihrem stummen Urteil.
»Was wollen Sie, ma chère!« sagte er mit seinem artigsten Lächeln. »Ein Bauer! Gewiß! Das ist und bleibt er. Aber ein amüsanter Bauer! Der ist mir lieber als ein langweiliger Hofmarschall. Das erfrischt mich! Das regt mich an. Das ist ein Jungbrunnen für mein altes, welkes Herz. Ich werde viel Vergnügen an diesem Meister Josephus haben ... ich bin in ihn verliebt ... hä ... ja ...« er kicherte diskret »... in der Tat verliebt ... wie ein junges Mädchen ...«
»Wenn er nur kommt ...«
Der alte Herr erschrak. »Sie meinen ... ja ... aber inwiefern sollte er jetzt noch ... im letzten Augenblick ...«
»Ich meine, daß er verliebt ist bis über die Ohren. Da ist doch jeder Mann unberechenbar!«
Das erfreute den feinen, greisen Roué. »Verliebt? Sehr gut ... vortrefflich ... das erquickt ... das gehört zu ihm ... ja ... solche Menschen müssen verliebt sein! ... es fehlte sonst etwas an ihrem Gesamtbild. Aber woran erkennt man das so rasch ... ?«
»Das merkt man eben!« Sie lächelte etwas verächtlich. Nun natürlich .... der erlauchte alte Philosoph begriff das wohl. Eine so schöne Frau wie diese klassische Tizianerscheinung neben ihm war gewohnt, daß alle Männer ihrem Zauber unterlagen. Blieb einer kühl wie der Meister Josephus heute den ganzen Nachmittag, hatte er nur den prüfenden, sachlich-ernsten Künstlerblick im Auge, wenn er diesen gebieterischen und verführerischen Napoleonskopf im Rahmen rotgoldenen Seidenhaars sah, dann war sein Herz eben schon bei einer anderen ...
»Ja ... allerdings ...« Ihr Begleiter hatte überlegt, »... ganz richtig ... ich sah da, wie ich schon vorhin bemerkte, etwas ganz Reizendes, Rosiges hinter ihm und leider gleich weg ... im Husch ... scheu wie ein Reh ... äh ja ... wer mag das wohl gewesen sein ... ein bißchen zweifelhaft ... was? Eine sehr glückliche Gesellschaft ist der Herr Professor für junge Damen nicht ... das schwirrt immer so um ihn wie die Schmetterlinge. Leichte Ware ... äh ja ... dieser glückliche Meister Josephus ...«
»Es ist keine leichte Ware! Ich habe mich danach erkundigt. Nicht wegen dieses kleinen Schulmädchens mit den großen Augen, sondern wegen ihrer Schwester, die die Busenfreundin meines Mannes bei seinen weltschmerzlichen Bergtouren ist. Es liegt nicht das Geringste gegen ihren Ruf vor.«
»Also am Ende gar eine Heirat?« Das belebte den müden Kavalier. »Vortrefflich ... das gönn' ich dem Meister! Das gönn' ich jedem! Schließlich muß jeder heiraten in einem gewissen Alter ... ich hab's auch getan! ... Angenehm ... wenn ich mir so eine charmante kleine Frau denke und ihn daneben ... als zahmen Löwen ... ein höchst, höchst amüsanter Bauer! Ich liebe ihn wirklich. Nun weiß ich auch schon, wie ich ihn kaptiviere ...«
Er versank in Sinnen und aus der Ferne sah der blonde Siegfried düster der Gruppe nach. »Affen!« sagte er halblaut vor sich hin. »Affen! Allzusammen! Und ich mach' mit! Ich lass' mich freiwillig mit in den Käfig sperren und bin noch vergnügt hinter Schloß und Riegel mit all den Mandrillen, und bin doch im kleinen Finger mehr wert als alle Gäste von St. Moritz miteinander.«
Er verachtete sie in diesem Augenblick aufrichtig im Grunde seines Herzens, aus seinem Können und seiner Künstlerschaft heraus, und wußte genau, daß sie, die Hochmütigsten aller Hochmütigen, ihn innerlich ebenso verachteten. Was gesellte sie also nur zusammen, den Geißbub und diese auserlesenen Sterblichen, daß sie zueinander schöntaten und sich verstellten? Es war eben doch derselbe Drang: Heraus aus der Masse, fort aus dem Gedränge, empor in die Höhe, wo die Luft rein ist und der Blick weit. Wo man aus dem Vollen atmet und nach Lust die Glieder streckt. Schließlich ist eben jeder Künstler Aristokrat. Unter dem schmutzigen, lärmenden, üblen Pöbel verzweifelt er. Er ist hochgeboren und gehört zu den Hochgeborenen in die freie große Welt.
Und wie schön war hier ringsum die Welt. Das sanfte, hinsterbende Blau des Abendhimmels, märchenhaftes Rosenrot im Alpenglühen die bleiche Pracht des ewigen Firns am Horizont verklärend, eine Höhenluft, rein und stärkend wie ein Quell im Walde, fröhliche Menschen überall, die langsam gingen und gemächlich plauderten, die nicht der Alltag hetzte mit seinem rüden Peitschenknall von schmutziger Not und Sorge und dem Stoßgebet der Armen: »Unser täglich Brot gib uns heute!«
Und in diesen Alltag, in irgendeinem weltentlegenen Landhaus in Toscana, hatte er sich ja selber hineinstürzen wollen, geflissentlich, wissentlich, wie ein Selbstmörder! Ein Segen, daß die kleine Lotte ihn noch im letzten Augenblick am Arm gepackt und zurückgerissen, dort unten, im Abendrot am blauen Meer von Salamis.
Er war ihr tief dankbar dafür. Die kleine, gute Lotte! So schön! So jung! So klug! Es kam wie eine Verklärung über ihn, wie er an sie dachte. Und alles umher, Himmel, Erde und Menschen, schien mit seinem unruhigen Herzschlag mitzuschwingen und mitzuklingen in dem einen und immer wieder dem einen: Verliebt ... verliebt ... verliebt ...
Verliebt wie noch nie in seinem liebereichen Leben! Ganz plötzlich wie eine Flamme über Nacht! Und es war nicht nur der Widerstand, der ihn reizte – das Kränzlein, das sie anmutig lachend bis zum Standesamt auf der weißen Kinderstirne behielt – es war ein tieferes Bangen und Sehnen da innen – das erste grauende Ahnen, baß auch von einem Meister Josephus die Jugend einmal Abschied nimmt ...
Er näherte sich doch bald den Vierzig. Und nach denen kamen die Fünfzig und weiter und weiter ging das Leben seinen Lauf und gab keinen Tag zurück. Und in der Ferne winkte die Jugend – die lachende Jugend mit all dem Übermut, der Selbstsucht, der strahlenden Daseinsfreude seiner lange verflossenen eigenen neunzehn Jahre und rief mit ihrer silberhellen Stimme: »Komm! Nimm mich! Werde mit mir wieder jung!«
Lotte – das war die Jugend. Das war die kleine Märchenprinzessin mit den schwermütigen Augen und dem herzlich tollen Lachen, die die Männer zu ihren Füßen zu Kindern macht, zu seligen, spielenden Kindern gleich ihr. Sie nahm dem Mann die Last seiner überschüssigen Jahre ab, ohne daß man die Bürde auf ihren schmalen Schultern sah, und machte ihn sich gleich, der kaum erschlossenen, schauernden und ahnenden Frauenblüte voll heiterer, knospenjunger Schönheit.
Verliebt! Verliebt! Und plötzlich fiel dem gedankenlos lächelnden Meister das Wort Virginias wieder ein. ›Eine ältere Dame in Grau!‹ Er sprang auf und ballte die Fäuste!
Jawohl – er kannte die Frau in Grau! Das war das Alter, das auf leisen Filzsohlen auf ihn zuschlich und ihn sachte bei der Hand nahm und aus dem Kreise der Fröhlichen hinausführte in die Ecken, wo die Verwelkten sitzen und denken, wie schön es einmal auf der Welt gewesen.
Ihm bangte. Ein Meister Josephus, der graue Haare hat – der das Lachen nicht mehr aus breiter Brust herausbringt, der nicht mehr sonnig mit den Weibern spielt und sie mit ihm – nein – nein – nicht alt werden! Es schrie etwas in ihm: ›Nicht alt werden!‹ Es klammerte sich etwas in ihm ans Leben, an das liebe Leben mit seiner Lust – es bäumte sich etwas voll Trotz in ihm auf: Was soll solch graue Frau? Warum geht solch graue Frau neben mir durchs Dasein und vergällt es mir, bis ich schließlich selber durch rauchfarbige Brillen nur noch Spinnweb und Staub sehe? Ich brauche keine ältere Dame in Grau – ich brauche die Schönheit! Der Schönheit dien' ich. Ich bete sie an und schaffe sie nach mein Leben lang. Ich kniee vor ihr! Ich bin ein Künstler!
Lotte – meine kleine Märchenprinzessin mit den weißen Gliedern! Ihm schauerte vor der Wonne der Wunder, die sie ihm und seinem Meißel enthüllen würde, und plötzlich wurde er ganz ruhig. »Solch ein Esel!« brummte er trotzig. »Solch ein Esel wie ich!« und trat mit unbefangener, treuherziger Heiterkeit dem Herzog und seiner Begleiterin entgegen, die, ihr Gefolge hinter sich lassend, von dem Ausflug nach dem Gletscher zurückkehrten.
Der hohe Herr war angenehm überrascht. »So fröhlich, mein Bester?« sagte er liebenswürdig. »Ein gutes Vorzeichen ... ja? ... für mich? Nun sprechen wir also von dem, was mir am Herzen liegt! Wenn Sie, wie man mir verraten will, verliebt sind, mein guter Meister – ich bin's auch ... haha ... in Sie! ... Ich lasse Sie nicht ziehen! Um da zunächst von Äußerlichkeiten zu reden – ich möchte Sie bei mir behaglich unterbringen! Ich habe da ein Jagdschloß ›Reihergarten‹ – ganz nahe bei der Stadt und doch einsam im tiefsten Wald – da könnten Sie ungestört nach Herzenslust schaffen. Es steht leer. Nur ein alter Förster wohnt darin. Allein würden Sie sich ja dort ein bißchen verlassen vorkommen ... aber in Gesellschaft ... nun ... wer weiß ...«
Und dann ein diskretes Lächeln, als erwarte er eine Antwort. Aber es kam keine. Der Meister hatte die Augen halb geschlossen. Lottes Märchenschloß, auf das sie ihn eingeladen, um sich von der Langeweile in Florenz zu erholen! Es ging alles in Erfüllung...
»Wenn Sie noch bauliche Veränderungen dort wünschen ... natürlicherweise ... ganz nach Ihrem Belieben ...«
»Da fehlte nur noch der Wintergarten mit den Goldfasanen ...« sagte der Meister zu sich wie aus einem Traum heraus.
Sein Gönner lächelte. Er war an Künstlerschrullen gewöhnt. »Gewiß! Auch das! Man muß sich das Leben hübsch zurechtmachen. Und besonders ...« ein anmutiges Räuspern und eine entsprechende Handbewegung ... »ich setze den Fall ... Sie heiraten ... das muß jeder einmal ... und ich habe, wie gesagt, eine sehr angenehme Erinnerung an heute vormittag. Solch große Kinderaugen in einem rosigen Gesichtchen. Mein Kompliment, lieber Professor ... Sie waren da in einer ganz reizenden Gesellschaft. Vielleicht ist das das goldene Vögelchen, dem Sie vorhin ein Nest mit Palmen in dem alten Jagdschloß bauen wollten ... hab' ich Sie recht verstanden? Nun – und was das letzte betrifft – den Geldpunkt – Sie wissen, ich bin reich mit Glücksgütern gesegnet. Es ist nicht nur für Sie gesorgt, sondern auch ... wenn Sie einmal nicht mehr allein stehen sollten. Man kann Sie sich ja auch gar nicht allein vorstellen. Sie und eine schöne junge Frau – das sind zwei Dinge, die nun einmal zusammengehören.«
Meister Josephus streckte ihm die Hand hin. »'s is gut, Hoheit!« sagte er treuherzig und trotzig. »Da bin ich! 's is schon alles in Ordnung! Es geht ja nicht anders. Ihr sollt mich haben, ihr alle zusammen ...«