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VI.

Lotte sah ihm nach. »Eigentlich ist's unschön, daß wir ihn so laufen lassen ... unseren Lebensretter ... aber sonst ist's mir ganz lieb ... er hat so etwas Seltsames! ...«

Der Meister lächelte sonnig. »Er hat sicher Magenbeschwerden. Solche Leute sind traurig. Aber ich hab' Hunger. Ich will essen.«

»Jetzt? In der Verfassung, in der wir sind? Noch ganz dumm im Kopf von der Gletscherspalte und naß und erfroren und todmüde und an allen Gliedern zerschlagen ...«

»Nun ja ... was macht man denn da?«

»Man legt sich doch ins Bett und läßt sich Tee kochen ...« sie erschrak plötzlich ... »und vor allem ... wir haben wirklich zwei schöne Brummschädel von der Jungfrau mitgebracht, lieber Meister ... das zu vergessen ...«

Ihr Begleiter hatte sich an einem Tisch vor ihrem Hotel niedergelassen und studierte die Speisekarte. »Was denn?« fragte er stirnrunzelnd.

»Ellinor und ihr Freund suchen uns doch! Die glauben doch, wie seien verunglückt. Die alarmieren jetzt alle Führer unten in Lauterbrunnen. Das ganze Tal kommt in Aufregung.«

»Hoffentlich!« sagte Meister Josephus.

»Es werden Expeditionen ausgeschickt.« Sie war ganz verwirrt bei dem Gedanken. »Und eine Menge Touristen laufen mit nach dem Rothtal und die Hoteliers telegraphieren ...«

Er nickte. »Das möchte ich den Kerls auch raten!«

»... und schließlich kommt es gar in die Zeitungen!«

Der Tiroler Siegfried sah sie mitleidig an, wie man ein töricht plapperndes Kind betrachtet. »Ja, wozu sind denn die Zeitungen sonst da? So eine Reklame gibt's ja gar nicht wieder! Depeschen nach allen Windrichtungen: ›Professor Joseph Ranggetiner mit einer bildschönen, fremden jungen Dame an der Jungfrau verunglückt.‹ Zweite Depesche: ›Er lebt – sitzt aber in einer Gletscherspalte und schimpft!‹ Dritte: ›Er ist draußen, aber wenig Hoffnung auf Rettung! Begleiterin tot!‹ Vierte: ›Er hat bloß den Schnupfen! Begleiterin bloß ohnmächtig gewesen.‹ Fünfte: ›Der Herzog von Siebenwalden erkundigt sich telegraphisch nach seinem Befinden und verleiht ihm seinen Hausorden vom grünen Hänfling um den Hals.‹ Es laufen ein Dutzend neue Bestellungen ein. Verfrühte Nachrufe in allen Zeitungen. Mein Händler hat die Gelegenheit benutzt, um die letzten Weck des verewigten Meisters um horrende Summen nach Amerika zu verkaufen ... kurzum ... Kind ... so was nutzt man doch aus! Schlau muß man doch sein!«

Sie prüfte mit Neugier und Unbehagen von der Seite die schöne, blondbärtige, listig-lächelnde Bauerngestalt. »Wer je aus Ihnen klug würde,« sagte sie. »Und daß Ellinor sich inzwischen um uns zu Tode ängstigt ...« »Dafür freut sie sich doppelt, wenn sie uns wohl und munter wiedersieht. Man muß doch seinen Mitmenschen Freude machen ... besonders, wenn es so wenig Geld kostet ...«

»Ich werde telephonieren!« Sie wendete sich entschlossen ab. »Hinunter ins Tal. Damit sie's wissen, daß ...«

Ein böses grünes Leuchten schoß aus seinen Augen. »Du bleibst hier! Verstanden! Das fehlte noch, daß die kleinen Mädchen mir meine Geschäfte ruinieren! Ich will in den Zeitungen genannt sein ... ich will Geld verdienen ... viel ... viel ... und noch mehr ...«

»Ich weiß ja, wie habgierig Sie sind« ... Sie blieb trotzig stehen. »Und nachher geben Sie es wieder mit vollen Händen für allerlei Atelierplunder aus. Aber ich mache das nicht mit!«

»Du wirst dich dahin setzen!« sagte er sanft. »Hier neben mich ... und ganz artig sein. So ist's recht! Ellinor findet uns schon noch. Dann lese ich euch, wenn ihr brav seid, meine Nekrologe vor, das wird zum Totlachen! Und jetzt hab ich Hunger. Heute möchte ich zu der Table d'hote!«

»Da wollt' ich schon lieber mit einem ungezogenen kleinen Kind zur Table d'hote kommen als mit Ihnen!« Lotte schüttelte energisch den Kopf. »Sie wissen doch, daß Sie bei Tisch unmöglich sind! Sie langen schon vor der Suppe nach den Weintrauben. Sie essen das Dessert vor dem Braten, Sie rauchen dazwischen eine Zigarette, greifen blindlings nach jeder beliebigen Schüssel, die vor Ihnen steht – ganz wie das große Kind, das Sie eben sind! Man würde glauben, ich hätte mir meinen Tiroler Führer Seppl auf Wein und Braten eingeladen!«

»Alsdann schaffen wir uns da heraußen was an, Euer Gnaden!« sagte der Siegfried-Seppl gemütlich. »He ... Kellnerin! Wir haben Hunger! Meine Schwester und ich!«

»Ihre Schwester?«

» Deine Schwester – heißt's! Was denn sonst? Für meine Tochter bist du zu jung. Du neunzehn – ich fünfunddreißig. Das stimmt nicht! Und Mann und Frau – ach – wenn ich ans Heiraten denke ...«

»Dich sollte man mal photographieren, wenn du ans Heiraten denkst!« sagte seine Begleiterin. »Da machst du ein Gesicht, als hättest du dir auf einen hohlen Zahn gebissen!«

»Ja, ist's denn nicht auch schrecklich? Ewig ein anderer Mensch da – bei Tag und bei Nacht. Und immer derselbe! Manchmal, wenn ich Alpdrücken hab', träume ich, ich sei verheiratet, und wache verstört auf und mache Licht und sage: ›Gott sei Dank – nein!‹«

»Aber wenn man sich einmal wirklich verliebt ...«

»Kann man einer Frau dann seine Liebe besser beweisen, als indem man sie nicht heiratet? Ein Kerl wie ich wenigstens? Das ist der höchste Ausdruck meiner Hochachtung! Du hast mir vorhin die Zähne gewiesen und gehöhnt: ›Meister Josephus – du fängst mich nicht!‹ Jetzt dreh' ich aber den Spieß um und sage: Ihr fangt mich nicht, ihr kleinen langhaarigen Philister. Ihr dürft um mich herumtanzen wie die Mücken am Sommerabend, aber sonst!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich hab' Hunger. Ich will essen!«

Sie machte ihm spöttisch nach, indem sie mit den Händen auf der Tischplatte trommelte. »Ich will aus der Gletscherspalte heraus!« klagte sie weinerlich. »Kinder ... was soll ich denn hier? Ich hab' zu tun! Laßt mich in mein Atelier!«

Dann dehnte sie sich behaglich. Ein bleicher Sonnenstreifen flimmerte durch die weißen Wolkenballen und ließ den Schnee dazwischen silbern aufblitzen. »Gott sei Dank – daß ich draußen bin. Und in der Sonne! Und daß du noch lebst, Meister Josephus, ist doch eigentlich auch ganz nett!«

Er goß ihr Wein ein. Sie stießen an und tranken, während sie sich fest in die Augen sahen. »Du ... Lotte,« begann er, »was soll denn nur eigentlich das ewige Gezüngel und Gezischel zwischen dir und mir! Du machst mich nervös! Ich will meine Ruhe! Ich sperr' mich jetzt in mein Atelier ein und lass' dich draußen! Und dann los! Arbeiten! Mein Schuhputzer macht mir meine Jungfraustatue nicht fertig!«

»Ist es denn überhaupt schon angefangen – das Kunstwerk der Zukunft?«

»Nein! Ich hab's im Kopf und weiß nicht was! Natürlich – sich auf zehn Uhr vormittags ein Modell bestellen und in Lehm nachkneten und es ›Jungfrau‹ nennen, das kann jeder Esel. Aber ich will das große Rätsel lösen: Euer großes Geheimnis vor uns. Euer unergründliches. Denn sowie wir euch Jungfrauen ergründen und erkennen, ist's ja verschwunden!« Er war plötzlich ganz ernst und schaute träumerisch in die Weite. »Ja – wenn du mein Urbild wärst ... mein Vorbild ... mit all deiner Schönheit... und mit all der süßen, dummen Unschuld, die du als kleines Mädchen nun einmal hast ... trotzdem du eigentlich solch ein blondes Teufelchen bist. ... Ach ja ... mein armes, gutes Lottchen! Zwölf Teufelchen hast du im Leib!«

»Woher weißt du denn das eigentlich, Meister Josephus?«

»Das will ich dir verraten!« Er dämpfte seine Stimme zu geheimnisvollem Flüstern. »Manchmal hab' ich einen geradezu schauderhaften Einfall – das Greulichste, was man sich denken kann! Da denk' ich mir nämlich: ›Wie wär' das, wenn du jetzt ein Frauenzimmer wärst?‹ Schrecklich – was!«

»Ja,« sagte seine Freundin einfach. »Das wäre auch schrecklich! In jeder Hinsicht!«

»Und weißt du, wie ich mich selber mir dann denke? Genau wie dich! Von innen und außen! Wie du leibst und lebst! Du bist mein weiblicher Doppelgänger!«

»Ich danke bestens!« Sie legte vor Empörung Messer und Gabel hin. »Du wirst tolldreist, Professor! Es gibt wirklich noch Zank zwischen uns!«

»Eben weil wir Zwillinge sind! Siamesen! Rechts der Adam – links die Eva! Dasselbe doppelt! Kein Mensch lebt mit sich selber im Frieden. Außer wenn er Zigarrenspitzen abschneidet und Ansichtspostkarten sammelt. Aber ein verderbter Zwilling wie wir beide ...« Er brach bekümmert ab, strich sich den langen blonden Bart und schaute hinüber nach der Jungfrau, von deren Schneegewand in fernem Donner eine Lawine stäubte.

»Sich mit mir zu vergleichen!« fing sie noch ganz entrüstet an. » Dieser Mann mit diesem Lebenswandel, diesem Ruf, diesen Grundsätzen oder vielmehr diesem bodenlosen Nichts an deren Stelle – mit mir, einer jungen Dame von tadelloser Vergangenheit und Benehmen und ...«

»Ach, das ist ja nur äußerlich!« sagte er sanft und traurig. »Und ich dachte, du würdest sehr geschmeichelt sein – durch den Vergleich! Denn siehst du, in meiner Kunst bin ich ein Gott, du kleines Kind!«

Sie nickte etwas verschüchtert und zündete sich eine Papyros aus dem Etui an, das er ihr reichte. Beide schwingen und stießen große Rauchringel in die Luft. Sie waren plötzlich sehr traurig, daß sie einander so ähnlich sein sollten ...

»Ja – das Urbild für meine Jungfrau ...« hub er endlich wieber an. »Lottchen ... lieber Freund ... wenn du nur einmal ...«

»Nein!« sagte sie kurz und hart.

»Lottchen ... kleiner Kamerad ... du verstehst das nicht ... glaubst du denn nicht, daß andere Künstler ... daß da sogar die eigenen Frauen ...«

»Ja ... wenn man verheiratet ist ...«

Wieder schwieg er, einen lauernden Zug um den Mund. »Am Ende bist du doch nicht so dumm! Was ich immer zu dir sage, von den fünf törichten Jungfrauen – das ist nicht wahr! Du bist klug! Viel zu klug!«

»Das weiß ich, Meister Siegfried!« sagte das junge Mädchen gelassen, und sie lächelten einander vertraut und feindselig in die blauen Augen ...

Die Sonne war jetzt, kurz vor ihrem Scheiden, siegreich durchgebrochen. Vereinzelte azurne Himmelslücken lugten aus dem rötlich durchstrahlten Wolkengespinst. Die Jungfrau selber hatte ihre Schleier abgeworfen. In weißer Schönheit stand sie still im Abendgold, auf den neben ihr kauernden schwarzen Mönch gelehnt, der verstohlen zu ihrer eisumpanzerten linken Brust, dem Silberhorn, emporblickte. Das grüne Tal zu ihren Füßen erfüllte sich von einem letzten lärmenden Leben. In schwerfälligem Puffen und Fauchen krochen die Zahnradbahnen längs der Lütschine herauf, über den Maulwurfhügel der Scheidegg und empor nach Mürren, und aus ihren Käfigen quoll, wo sie stehenbleibend Atem holten, immer wieder derselbe dreisprachige Fremdenstrom, mit den in der Luft durcheinander starrenden Spießen und Stangen der Bergstöcke und, wie die Matten oben von Alpenrosen, von den roten Flecken der Bädekerbücher durchsternt.

»Da kommen sie!« sagte Lotte phlegmatisch.

»Ellinor?« Er setzte eilig seinen Zwicker auf.

»Ja. Mit ihrem Freund! Der bleibt jetzt zurück. Sie hat uns gesehen! Sie geht gerade auf uns zu. Aber sie sieht gar nicht erschrocken aus. Eigentlich müßte sie uns doch für Gespenster halten!«

»Ach was! Sie hat einfach schon alles von unserem alten Lebensretter gehört. Der ist ja nach Lauterbrunnen zurück und erzählt dort, daß man uns nicht zu suchen brauche, sondern daß wir hier sitzen!«

»Jetzt nur keine Rührszenen!« sagte Meister Josephus verdrießlich ob der entgangenen Reklame. »Zünde dir eine neue Zigarette an! So! Fassung, Lottchen! Den Hut mehr ins Genick! Ellinor darf uns nichts tun! Wir wollen ihr ganz frech entgegenpromenieren!«

Lotte lief lachend auf ihre Schwester zu, umschlang sie und gab ihr einen herzhaften Kuß. »Arme Lore! wie blaß sie aussieht! Hast du Angst um uns gehabt? Ja – diesmal ging's noch so ab! Mit mir und dem Herrn Hofrat Josephus! Ein Held, sag' ich dir, Lore! Wie ein Löwe saß er in der Gletscherspalte und grollte!« Und halblaut fügte sie in dem Tone eines weinerlichen Kindes hinzu: »Jetzt will ich aber endlich aus dem Eiskasten heraus! In mein Atelier! Ich habe zu tun!«

Der andere furchte die Stirne. »Wir wollen jetzt nicht weiter von dem Abenteuer reden! Sie sind viel zu verstört, liebe Freundin Ellinor! Ihr Gesicht ist wie aus Wachs! Morgen ist auch noch ein Tag. Da erzählen wir uns alles! Ich bin ja gottlob unverletzt und die Kleine auch! Nicht einmal auf die Zunge hat sie sich gebissen, was wirklich ein Glück gewesen wäre ...«

»Aber Sie stützen sich so auf den Stock ...«

»Eine kleine Muskelzerrung am Bein, die sich nachträglich meldet. Das hat nichts zu bedeuten!«

»Nein. Es kommt bloß der Pferdefuß bei ihm heraus!« sagte Lotte. »Seit ich dem Meister Josephus in der Gletscherspalte meine Meinung gesagt hab' – die richtige Gardinenpredigt zwischen zwei haushohen Eiswänden – seitdem kann er sich vor mir und der Menschheit nicht mehr verstellen und hinkt wie ein richtiger Mephisto ...«

»Ich sage Ihnen, liebe Freundin!« der Bildhauer seufzte, »was diese törichte Jungfrau in den letzten sechs Stunden für einen Unsinn zusammengeredet hat ... und unaufhörlich, wie ein Wasserfall! Mir klingen schon die Ohren ...«

»Nämlich, weißt du, Lore!« Seine Begleiterin lachte und schlug dem Zillertaler Siegfried kameradschaftlich auf die Schulter. »Ich hab's doch immer behauptet: es ist unbegreiflich, wie man den Teufel mit Hörnern und Klauen malen kann! Seht euch doch nur um, Kinder: der Teufel ist ein schöner, sanfter, blondbärtiger Mann zu Ende der Dreißiger, wenn er sich auch gern ein paar Jahre jünger macht, und schmuck angezogen wie ein Tiroler Theaterbauer. Und er fletscht auch keineswegs die Zähne – so ein grauslicher Kerl würde doch zu schlechte Geschäfte auf der Welt machen –, sondern er ist sehr nett und lieb und väterlich-ernst zu den Frauen. Reizend kann er sein, in seiner Hilflosigkeit wie ein großes Kind. Jeder muß den Menschen gern haben. Einzig einen Charakter hat er nicht! Der arme Kerl! Bloß die Esel haben Charakter! sagt er.«

»Und ich weiß, daß der Teufel Zöpfe trägt!« Meister Josephus zündete sich verdrießlich eine neue Zigarette an. »Aber das ist eine alte Geschichte. Das haben schon die Kamele, die Säulenheiligen und solches Wüstenvolk gewußt. Die sind in der Verzweiflung schon vor dir auf die Bäume gekrochen, meine Tochter – aber umsonst – du kommst doch immer hinterdrein!«

Sie lachte herzlich. »Armer Meister Seppl!« sagte sie, mit vor Heiterkeit feuchtglänzenden Augen. »Armer Meister Tugendreich, den die bösen Frauen nicht in Ruhe lassen. Ich seh' dich förmlich vor mir, wie du auf einem Baum hockst und dich mit aufgespanntem Regenschirm gegen die Eva mit dem Apfel verteidigst! Du – das Sujet ist neu! Ein steinerner Regenschirm – und du dahinter als taufrischer Joseph ... das macht Furore!«

Ihre Schwester sah sie erstaunt an. »Seit wann sagt ihr euch denn du, Lotte?«

»O, schon lange! Innerlich! Aber nach außen waren wir zu schüchtern. Bis wir in die Gletscherspalte fielen. Dort haben Meister Josephus und ich unsere Herzen entdeckt und miteinander unverbrüchliche Feindschaft fürs Leben geschlossen! Er hat mir mit erhobener Hand ewige Untreue gelobt! Ich bin stolz darauf!«

»Also ... auf alles, was wir hassen!« der Bildhauer nickte ihr träumerisch zu und streckte ihr seine breite Hand entgegen.

Sie nahm sie und fuhr zusammen. »Au! du tust mir ja weh!«

Er schien das nicht zu hören und gab ihr die Rechte nicht frei. »Auf gute Feindschaft!« wiederholte er und wandte sich an die ältere Schwester. »Ich habe vorhin falsch gezählt! Dies Kind hat nicht zwölf – es hat hundert Teufelchen im Leib!«

»Du sollst mich loslassen!« Sie riß wütend an seiner Faust. »Was fällt dir denn ein!«

»Ach so! ... Verzeihung!« Wie aus tiefer Zerstreutheit erwachend, öffnete er seine Finger. Sie zog die Hand zurück und blies auf die geröteten Stellen. »Garstiger Seppl!« murmelte sie zornig vor sich hin. »Garstiger Seppl!« ...

Ihre Schwester sah finster auf sie nieder. »Ich weiß wirklich nicht, was in euch gefahren ist! Es ist ja kindisch! Wie Sie, Herr Professor, der Lotte auf einmal einen solchen Ton erlauben und angewöhnen können ...«

»Ja – was soll ich denn machen?« Der Siegfried lächelte hilflos. »Das kam so von selber in unserem Tete-a-tete unter der Erde!«

»Ich bin überhaupt sein Doppelgänger ... hat er gesagt!« schaltete das junge Mädchen ein, immer noch auf ihre schmale, magere Hand hauchend. »Dieselbe Couleur in Schwarz ... und das hält er unglaublicherweise auch noch für eine Schmeichelei.«

»Du bist vor Nervosität außer Rand und Band!« sagte ihre Schwester. »Wenn man in solch furchtbarer Gefahr war ...«

»Das ist doch vorbei!« Der schöne Meister reckte ungezwungen die Arme aus. »Und wenn wir tot wären, täte uns erst recht jetzt nichts mehr wehe! Schade wäre es ja um mich! Und um das Kind schließlich auch! Soll ich deswegen traurig sein? Da kauf' ich mich lieber los! Ich werde den Armen hier Geld schenken aus Anlaß unserer glücklichen Errettung! Heda – Sie!« Er winkte einen an der Straße stehenden Bergführer heran. »Gibt es hier nicht eine arme Witwe mit dreizehn Kindern ... oder ein goldenes Hochzeitspaar, das nichts zu beißen hat ... oder eine reine Jungfrau auszusteuern! Ich will ausnahmsweise ein gutes Werk tun!«

Der Mann begriff und überlegte. Am besten wäre es, meinte er dann, man wende das dem unglücklichen Bergführer drüben zu!

»Welchem Bergführer?«

Der an der Jungfrau in eine Gletscherspalte geraten sei, berichtete der Berner, und dabei beide Beine erfroren habe. Die seien ihm am Knie abgenommen. Viele Hochtouristen, die glücklich von der Jungfrau herunterkämen, schenkten ihm etwas und ließen sich wohl auch von ihm das böse Abenteuer erzählen.

»Brr!« sagte Meister Josephus düster, »das ist ja ein greulicher Gedanke! Zum Krüppel zu werden ...«

Lotte wurde plötzlich totenbleich. »Meister Seppl! Wenn wir jetzt auf einmal keine Beine mehr hätten! Was machten wir dann! o weh! o weh! Daran hab' ich gar nicht gedacht, daß uns das auch hätte passieren können!«

»Ich auch nicht!« murmelte der Siegfried und beide sahen unwillkürlich auf ihre Fußspitzen hernieder. Dann schickte er den Bergführer mit kurzem Dank seiner Wege. Er werde sich des Verunglückten erinnern.

»Du vergißt ihn ja doch bis morgen!« Lotte begann nervös zu gähnen und hielt die Hand vor die Lippen. »Aber für heute verdirbt's die Stimmung!«

»Ja!« brummte er ärgerlich.

»Bloß der Gedanke an die kaputten Beine!« Sie zitterte nervös. »Ich will mich schlafen legen! Und die Läden recht fest zumachen, daß ich nur nichts mehr von der Jungfrau schau'! Ich bekomme auf einmal so Herzklopfen, wenn ich hinaufsehe!«

»So seid ihr nun!« sagte ihre Schwester. »Über den Tod macht ihr euch beinahe lustig. Aber der Gedanke, daß man ein Bein verlieren könnte ...«

Der blondbärtige Meister stand auf. »Das ist auch schlimm. In den Augen eines Künstlers. Der will Harmonie des Ganzen oder nichts. Und das Kind zu meiner Linken sieht natürlich die Welt auch mit meinen Augen. In Schönheit! Weil sie selber ganz wohlgeraten ist!«

Sie nickte ernsthaft und erhob sich ebenfalls. »Jetzt geht, das schöne Kind mit den Hühnern schlafen. Jetzt kommt auf einmal der Rückschlag. Ein gräßlicher Schrecken, was uns alles hätte treffen können! Wenn ich nun eine erfrorene Nasenspitze hätte oder der Meister die rechte Hand erfroren – was würde dann aus uns?«

»Jetzt komm!« Ellinor nahm sie am Arm. »Wir brauchen alle drei Ruhe! Es war zu viel für unsere Nerven!«

Lotte ließ sich wie ein Kind an der Hand ihrer Schwester wegführen. »Gute Nacht, Meister!« rief sie. »Aber noch eines: morgen sagen wir uns wieder Sie! Es schickt sich nicht!«

»Wie du willst, meine Tochter! Schlaf gut!«

»Danke! Gleichfalls!«

Zehn Minuten darauf lag Lotte schon zu Bett.

»Weißt du, wie mir jetzt zu Mut ist?« Ihr schönes Gesicht blinzelte aus den Kissen, in die sie sich tief eingewühlt hatte, zu der neben dem Lager stehenden älteren Schwester empor. »Wie dem Mann, der, ohne es zu wissen, über den gefrorenen Bodensee geritten und nachträglich vor Schrecken gestorben ist. Eine Todesangst hab' ich... Geh – sei lieb und ziehe den Spalt im Vorhang zu. Da schaut immer noch von oben etwas Rosiges herein. Das ist die Jungfrau im Abendrot! Wenn ich die bloß seh', wird mir ganz übel vor Angst! Komisch ... in der Gletscherspalte hab' ich keine Angst gehabt – weil ich überzeugt war, du kämest. Und nachher, wie wir draußen waren, da kam eine Art Fieber über uns – eine verrückte Lustigkeit. Wie die kleinen Kinder waren wir! Sogar über unseren Befreier haben wir uns lustig gemacht – das gute alte Gletschergespenst mit der seidenen Leiter, an der wir wieder heraufgekrabbelt sind. – Nun, morgen werden wir wieber gesetzte Leute, der Professor und ich! Der arme, gute Professor ...«

Der Lockenkopf in dem Kissen bewegte sich lachend hin und her. »Ihr seid alle in ihn verliebt – du selber an der Spitze – ach, setze nur nicht gleich deine versteinerte Miene auf – schön! gut! Es war nur Freundschaft – weiter nichts – all die Jahre – siehst du – da heb' ich den kleinen Finger auf und schwöre dir, daß es nur Freundschaft war zwischen euch und wer's glaubt, selig wird ... also so seid ihr anderen ... so bist du! Aber ich nicht! Für euch ist der Seppl etwas unendlich Feierliches. Der Meister ... der Herrlichste von allen im Kreise seiner Jüngerinnen. Und für mich ist er so furchtbar komisch ... wie ein kleines Kind! Ich muß oft geradezu lachen vor Mitleid über ihn und seinen schönen träumerischen Vollbart ... und seinen Zorn, daß er auch noch einen Charakter haben soll, der arme Geißbub außer Diensten!«

»Und dabei wirst du blaß, wenn er dich nur ansieht!«

»Ja – Angst hab' ich auch vor ihm! Das geb' ich zu! Das ist die andere Seite der Sache! Er ist so stark. Und so schlecht. Und so unbefangen dabei, als könne das gar nicht anders sein. Als wäre er die Krone der Schöpfung. Das gefällt mir! Dagegen wehre ich mich mit Kratzen und Beißen, wenn es sein muß! Er soll mich nicht unterkriegen! Und Gott sei Dank – er hat auch gehörig Angst vor mir! Ich hab's gemerkt! Ich bin offenbar der einzige Mensch, der je auf die Idee gekommen ist, ihn ganz vergnügt ins Gesicht hinein auszulachen. Das macht ihn ganz ratlos und verstört, unseren Meister Goliath! Auf alles ist er gefaßt, aber auf solch eine Majestätsbeleidigung nicht. Dadurch wird er unsicher, schaut herum und kämmt seinen Vollbart. Oh – ich kenn' ihn!«

Sie lächelte zufrieden und feindselig und trommelte mit den Fingern auf der Bettdecke.

»Ein Einverständnis ist zwischen uns wie zwischen zwei Spitzbuben! Wir verabscheuen uns. Drum helfen wir uns im Leben! Der Meister hält etwas von mir. Ich glaube, wenn er mal heiratet, fragt er mich auch zuvor um Rat!«

Meister Josephus im Frack vor dem Standesbeamten! Sie schüttelte sich förmlich vor Heiterkeit bei dem Gedanken.

»Du! Das ist eine himmlische Idee! Er hat heute vom Heiraten gesprochen! Aber er tut's nicht! Er tut's nicht! Er hat die Frauen zu lieb, meint er! Er will keine kränken!«

Sie bezwang ihren Übermut, da sie sah, daß ihre Schwester ernst blieb, und streckte die schmächtigen weißen Mädchenarme spielerisch wie eine Katze nach ihr aus, um sie am Kleid beim Bette festzuhalten. »Pscht! Das heißt ... ich glaube ... er tut's doch einmal! Bald! Er ist reif! Er wird alt. Und wenn er dann vertraulich vorher meinen Rat wissen will ... weißt du, was ich ihm dann antworte?«

»Ach – schlafe jetzt, Lotte!«

»Du mußt mir aber dein großes Ehrenwort geben, nicht böse zu werden!«

Ihre Schwester suchte sich ungeduldig loszumachen. »Du sollst schlafen!«

Lotte wand sich wohlig in den Kissen. »Also ich würde mich auf die Fußspitzen stellen, den Meister am Ohrläppchen zupfen und ihm ins Ohr tuscheln: ›Machen Sie ein Ende mit Schrecken, Meister! Heiratet euch! Dreizehn Jahre überlegt ihr es euch jetzt und jünger wird kein Mensch! Ihr kennt euch! Ihr habt euch gern und eine treuere Seele finden Sie nicht, lieber Seppl – eine Seele, die nur für Sie lebt und einen Kultus mit Ihnen treibt und Ihnen ihre ganze Zukunft geopfert hat, was ich freilich nicht begreife. Sie nennt das vorderhand Freundschaft ... Aber wenn Sie ihr das richtige Wort dafür sagen, sagt sie auch nicht nein! Also los!‹« Sie schloß tiefaufatmend und befriedigt. »Warum weinst du denn? Das ist doch nichts Trauriges! Das wissen wir alle doch seit einer Ewigkeit, daß du ihn so lieb hast! Er verdient's ja gar nicht! Aber ich! Komm her und gib mir einen Kuß!«

Sie hing, sich aufrichtend, ihre schlangenkühlen bloßen Arme um den Hals der anderen, die blaß und verstört zu ihr getreten war, und zog sie mit dem Ungestüm ihrer Liebkosung zu sich herab und verschloß ihr, sowie sie reden wollte, den Mund mit ihren Lippen.

»Gut ist's!« erklärte sie endlich und lächelte listig und katzenweich über die vereinzelten Silberfäden hinweg, die im Haar der anderen schimmerten. »Ich bin doch eigentlich ein lieber Kerl? Nicht? Ihr verkennt mich alle. Besonders unser guter Meister Josephus! Der hält mich für ein nachtschwarzes Scheusal! Schade, daß ich nie seine Frau werden kann! Dem gönnte ich mich! Da könnte er etwas erleben! Aber lieber nicht!«

Sie lachte herzlich wie ein Kind. »Zu komisch! Mir ist er ungefährlich! Ich glaub' – ich hab' überhaupt kein rechtes Talent, mich zu verlieben. Ich bin nie über die ersten Ansätze hinausgekommen. Eigentlich hab' ich ja die Männer furchtbar gern. Aber sowie sie verliebt sind und düster und gefühlvoll werden, muß ich lachen. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht nur aus Übermut, weil ich mir dann so stolz vorkomme.«

Die andere hob ihren blassen Kopf in die Höhe. »Du bist ein sonderbares Ding!« sagte sie. »Gott weiß, wie das beisammen sein kann – so viel Temperament und dabei so eiskalt. Ich kenne dich doch besser als irgendwer – aber ganz klug werd' auch ich nicht aus dir!«

»Ich mag mich auch nicht kennen lernen!« Das junge Mädchen legte sich schläfrig zur Seite und schloß die Augen. »Das ... das wäre am Ende dann eine höchst lästige Bekanntschaft. Die wird man dann nicht wieder los! Wozu denn auch? Es geht ja auch so! Man lebt so hin! Ganz nett! Gute Nacht! Jetzt werd' ich schlafen und von der Jungfrau träumen und du vom Meister Josephus. 's ist ein ... ein ... zu ... komischer Kerl ...«

Und damit glitten schon die Vorboten des nahenden Schlummers wie Schatten über die müden, schönen Züge. Sie ballte noch einmal seufzend die Faust, als wollte sie den Bergen oben gute Nacht wünschen, und ihre Brust hob und senkte sich langsam.

Ihre Schwester ging auf den Fußspitzen aus dem Gemach und schloß behutsam, mit einem letzten mütterlichsorgenden Blick nach der Schlafenden, die Türe.

 


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