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»Guten Tag!« Der eisgraue Berggänger hatte beide Hände an den Mund gelegt, um den Schall seiner Stimme zu verstärken. »Wie geht's Ihnen?«
Meister Josephus setzte nervös seinen Zwicker auf und hob sich auf die Fußspitzen. »... Helfen Sie uns heraus!« befahl er mit seiner donnernden Löwenstimme aus der Dämmerung. »Ich mag da unten nicht mehr bleiben. Ich will in mein Atelier.«
»Ist jemand von Ihnen verletzt? Nein? Sie haben mehr Glück gehabt als Verstand? ... Schön! Also einen Augenblick!« Der Kopf des grämlichen Magisters verschwand. Es regte sich eine Weile dort oben nichts.
Der Siegfried wurde ungeduldig. Er hatte Mühe, sein Zittern zu beherrschen. »Der Mensch läuft uns doch nicht am Ende wieder weg!« stöhnte er zu seiner Begleiterin und strengte dann seine Kehle an, wie er nur konnte: »Herr! Wo bleiben Sie denn? Wir erfrieren ja in diesem Eiskeller!«
»Gleich! Gleich! Nur Geduld!« Wieder schob sich der Kopf des Wüstenpredigers über den Spaltenrand und zwinkerte mephistophelisch heiter herab. »Ich hab' nur den Schnee um meinen Pickel ein wenig festgetreten! Vorsicht tut immer gut, wenn man allein auf dem Gletscher herumzieht!«
»Ja ... sind Sie denn allein?« schrie Lotte verzweifelt. »Jawohl, mein Lämmchen!« Der Alte oben schmunzelte neckisch. »Ich brauche keine Begleitung. Ich bin hier zu Hause, in meinen vier Gletscherwänden!«
»Dann können Sie uns auch nicht helfen!« Meister Josephus setzte sich schwer nieder und trocknete sich den kalten Schweiß von der Stirne. »Selbst wenn Sie ein Seil mithaben! Kein Mann allein kann einen anderen aus einer solchen Tiefe herausziehen! Und dabei lachen Sie auch noch!« tobte er mit geballten Fäusten zu dem bebrillten alten Herrn hinauf, der mit kopfschüttelndem Interesse zu ihnen niederlugte, wie man etwa die Bären im Zwinger betrachtet. »Wir sind hier mit unserem Latein zu Ende und...«
»Was liegt denn an Ihrer Weisheit?« sagte der oben vergnügt und mit heller Stimme, um das Brausen des unterirdischen Stromes zu übertönen. »Auf die Weisheit hier oben kommt's an. Die liegt hier bäuchlings auf dem Schnee und funkelt wie ein Drache von Geist und Bosheit. Also aufgepaßt – da kommt die Brücke zum Leben!«
Ein feines Maschenwerk surrte herab, eine Strickleiter aus roher Seide, und baumelte lässig an der Eiswand hin und her.
»Bitte einsteigen!« rief der Alte von oben. »Und keine Furcht! Das Ding ist oben gut verwahrt. An meinem Pickel, den ich fest in den Schnee gerammt habe – und dann noch einmal um einen Eisblock geschlungen. Ja, sehen Sie, mein Gutester ... derlei führt man mit sich, wenn man ein einsamer Wanderer und Bergsteiger ist, und hilft damit seinem Nächsten und lieber noch seinem Fernsten! Erst soll die Dame herauf! Aber vorsichtig, damit sie nicht schwindlig wird und ausrutscht! Nur das Seil fest anpacken! Es macht nichts, wenn es hin und her schaukelt. Nicht die Augen zukneifen! Da greift man fehl. Nur Mut! Immer vorwärts – gleich sind Sie oben! So! Nicht loslassen, Kind! Ich packe Sie unter den Armen und helfe Ihnen ans Tageslicht!«
Der Gedanke, gleich seiner katzenartig behende und behutsam kletternden Gefährtin dem eisigen Kerker zu entrinnen, gab auch Meister Josephus unten alle Spannkraft wieder. In wenigen Minuten erreichte auch er auf der luftigen Leiter das Reich des Nebels und schob sich, von seinem immer noch im Schnee liegenden Retter mit beiden Händen unterstützt, über die Kante des Gletscherrisses hinüber.
»Aha – jetzt taucht ja auch dies Löwenhaupt aus der Tiefe!« sagte der befriedigt. »Gut! Wie ich da oben die Fußspuren und den Rutsch im Schnee sah, da kriegte ich einen Schrecken. Nicht daß Menschen verunglückt seien – daran liegt nicht so viel, als man glaubt! Aber ich dachte mir: was wirst du nun da unten in dem Käfig finden? Ein Häuflein zerschundenen Alltag, ein Vierteldutzend der Vielzuvielen und Allermeisten – betend, auf Knieen rutschend, weinend und ihre Sünden bereuend, kurz, das Bild, das ich nicht liebe. Es geht mir gegen den Geschmack. Und statt dessen finde ich einen Löwen im Käfig und ein schönes Mädchen! Und beide in Zank und Zorn, daß man's bis oben hin durch das Rauschen dieser stygischen Gewässer hört. So ist's gut! Ich freu' mich, daß ich euch herausgeholt hab' – es wäre schade um euch.«
Die anderen sahen ihn unschlüssig an. Sie wußten nicht, war es noch ihre eigene Verwirrung und Verstörtheit oder entsprang es der Wirklichkeit, daß ihnen ihr Befreier so unheimlich erschien, nicht wie ein Mensch von unten aus den Tälern, sondern eher wie ein Wesen, das plötzlich schattenhaft und unvermittelt aus den ringsum milchig flutenden Nebelmassen entstanden und hervorgetreten war und ihres leisen Grauens lachte.
Sie fröstelten beide. Seltsam war's: Sie vermochten ihrer Erlösung noch gar nicht froh zu werden. Es kam alles so unerwartet, so geheimnisvoll. Sie fühlten sich wie von einem Traum umfangen in dieser totenstillen nebelweißen Öde, das Stöhnen des leichenfarbenen Eises unter ihrem Schuh, dicht über sich den feinen trüben Rauch, alles wie eine körperlose Luftspiegelung, durch die man mit den Händen hindurchgreifen kann und doch geängstigt und gequält die Wirklichkeit nicht erreicht.
Lotte überwand sich und streckte, ein dankbares Lächeln auf dem blassen Gesicht, ihrem Retter die Rechte hin. »Gottseidank! Aber wo ist denn meine Schwester? Haben Sie sie denn nicht getroffen? Sie sollte vom Lawinentor herunterkommen. Mit einem Begleiter!«
Der Alte nickte. »Gesehen habe ich die beiden. Sie haben mich aus meiner Ruhe aufgestört. Und dann hörte ich sie rufen, wie um Hilfe. Da machte ich mich auf – ich lag ganz hinten im Tal auf der Schleppe der Jungfrau und dachte mir dies und jenes – und fing an, mein Gebiet abzusuchen. Es war nicht leicht, im Nebel euren Fußspuren zu folgen! Wie die Unsinnigen seid ihr im Zickzack hin und her gerannt – immer im Kreis über Spalten und papierdünne Schneebrücken. Es ist ein Wunder, daß derlei noch lebt!«
»Ja – aber meine Schwester?...« fing Lotte wieder an.
»Die ist mit dem anderen hinunter ins Tal – um Hilfe zu holen. Das einzige, was sie tun konnten, da sie kein Seil mithatten und den Gletscher nicht so kennen wie ich. Ich hab' sie laufen sehen, fern durch den Nebel, und 'geschrieen. Aber die Lawinen schreien stärker und tiefer. Sie haben mich nicht gehört!«
Jetzt drückte ihm auch Meister Josephus, wie aus einer Ohnmacht erwachend, die Hand. »Da hätten wir noch lange da drinnen stecken können. Welch ein Segen, daß Sie gekommen sind!«
»Ich wollt' heute früh auf die Jungfrau!« sagte der Alte trocken. »... Aber es ging nicht. Die Jungfrau ist böse. Ich hab's gemerkt beim Aufstieg über den Rothtalgrat. Sie faucht und wehrt sich um ihr Kränzlein wie eine große Katze. An solchen Tagen verliert sie alle mädchenhafte Schüchternheit. Da ballt sie die nächsten besten paar Gewitterwolken zusammen und wirft sie ihren Freiern an den Kopf, daß es blitzt und donnert, und holt aus ihrem Nadelkissen ein paar Millionen Eissplitter und bläst aus beiden Backen kalt hinein, daß es hübsch im Sturm umeinander fliegt...«
Aus der Ferne rollte und grollte es erschütternd durch den Schwadendunst und erstarb allmählich wieder.
Der Alte warf einen grämlichen Blick nach oben. »Da haben wir's! Die Jungfrau scheltet mich aus!« sagte er. »Sie ärgert sich über eure Befreiung! Ich will lieber gehen!«
Er stieg, mit nachtwandlerischer Sicherheit im Nebel den Weg findend, ihnen voraus, bahnte sich hier einen Pfad zwischen Eisblöcken hindurch, umging dort eine Gletscherspalte und führte sie schnurgerade zum Ausgang aus dem grau dampfenden, unterhöhlten Irrgarten.
»Es sind nur hundert Schritte bis zum Steig!« murmelte er dabei. »Dicht am gebahnten Steig sind Sie in die Gletscherspalte gefallen wie die kleinen Kinder in den Mühlgraben. Nun noch über die Felsblöcke herauf – dann haben wir wieder feste Erde unter den Füßen!«
Meister Josephus und Lotte standen stumm und verdutzt auf dem zur Rothtalhütte aus dem Tal herausführenden Fußsteig. Jetzt erschien es ihnen ganz unerklärlich, wie sie diesen selbstverständlichen Weg nicht hatten finden können!
»Wollen Sie zur Hütte?« fragte ihr Retter, seine Brille abwischend. »Dann müssen wir zurück! Sie sind im Nebel den halben Gletscher hinuntergelaufen!«
Der Bildhauer verneinte energisch. »Keine zehn Pferde bringen mich mehr in das fade Rothtal zurück!«
»Aber unsere Sachen in der Hütte...«
»Unsere Sachen, Lotte, mögen die Mäuse fressen. Ich will nichts mehr von den Bergen wissen. Ich wünsche nicht, daß man mit mir noch von der Schweiz spricht. Ich hab' genug!«
Und mit großen Schritten trabte er, die Fäuste in den Taschen seiner Zillertaler Joppe vergrabend, den Hut mit der Spielhahnfeder schief auf dem Kopf und leise wie ein mißvergnügter Tiroler Holzknecht mit sich selber brummelnd, den steilen Fußpfad hinab.
Die anderen folgten. Hart neben ihnen starrten links aus dem fahlen Dunst die ungeheuren Zacken und Eistürme des Gletscherabsturzes aus haustiefen Schlünden und zerschmetterten Kesseln empor. Es war, als beschirme eine Mauer weißer Giganten feierlich und stumm wie Gralswächter den Eingang zum Höhenreich der Jungfrau.
»Sehen Sie nur die weiße Riesin da!« sagte der alte Magister grämlich lächelnd zu Lotte. »Die Eisnadel da drüben mein' ich! Steht sie nicht stolz da wie die Germania auf dem Niederwald? Die kennt mich schon. Aber sie lebt nicht mehr lange. Ich hab's ihr neulich schon gesagt. Die Sonne tut ihr zu weh! Sie schmilzt von unten. In ein paar Tagen stürzt sie sich plötzlich kopfvor von der Wand herunter, recht wie eine Selbstmörderin! Schade – schade um die weiße Germania!«
Wieder fröstelte Lotte leicht. »Sie sind wohl viel in den Bergen?« fragte sie beklommen.
»Einen Monat im Jahr!«
»Nur einen Monat?«
»Im Juli oder August. Zur Ferienzeit. Wie jetzt. Den Rest des Jahres hindurch soll, wie mir schon von vielen Seiten glaubhaft versichert wurde, ein langweiliger Philister meinen Namen und mein Äußeres führen – irgendwo da draußen! Ich weiß es selber nicht. Ich vergesse es immer wieder. Jedenfalls sitzt dort dieser Hämorrhoidarius in seinem Bureau und röchelt über den Akten und funkelt das Publikum durch seine Brillengläser an. Ein unausstehlicher Kerl! Ein Glück, daß ich das nicht bin. Jetzt wenigstens nicht. Freilich – in heute und siebenundzwanzig Tagen – da klopft mein Doppelgänger wieder an – und ich kann ihn nicht gut vor die Türe setzen. Denn ehe ich mich versehe, bin ich's selber. Traurig ... traurig! Ein Mandarin mit langem Zopf. Aber wenn die alle wüßten, wie ich hier oben zur Sommerszeit in den Gletschern lache, daß mir der Zopf wackelt...«
Lotte machte lange Schritte. Ihr war nicht wohl bei den Reden des hageren alten Herrn. Ohne weiter ein Wort zu wechseln, eilten sie die Matten hinab, überstiegen die Platten der Stufensteinalpe und kamen zu Tal.
Jetzt, wo sie sich immer mehr bewohnten Stätten näherten, ging eine merkwürdige Wandlung mit dem Meister Josephus vor. Es war, als würde er nun erst sich seiner Rettung voll bewußt. Ein jungenhafter Übermut kam über ihn. Er pfiff laut vor sich hin, strählte sich im Abwärtsschreiten den mächtigen goldenen Vollbart und warf zuweilen einen Blick voll listigen Triumphes hinter sich nach den Bergen zurück. »Ein zuwideres Lokal – so eine Gletscherspalte –« sagte er dann. »Man verliert förmlich seinen Humor in der Kälte und Nässe...«
»Ach ja, Meister Josephus!« Das junge Mädchen nickte melancholisch. »Es war wirklich keine Spur von Grazie mehr in Ihnen! Wenn ich daran denke, wie Sie gleich einem Eisbär darin herumliefen! Offenbar war ich nur so tapfer, weil ich Sie so schwach sah. Da entlud sich mein Herz. Aber nun seien Sie so gut und vergessen Sie's!«
»Fällt mir nicht ein!« Er warf mit einem vergnügten Kopfschütteln den Bergstock auf die andere Schulter. »Das passiert mir zu selten, daß man mich armen stillen Steinmetzen für solch ein Scheusal hält! Das bin ich doch – in Ihren Augen? Nicht wahr? Sie schauen mich doch durch und durch! Nach Ihrer Meinung war ich in der Gletscherspalte gerade am rechten Ort! Da konnt' ich bleiben. Was liegt auch an so einem Steinklopfer mehr oder weniger?«
»Das hab' ich nicht gesagt!«
»Doch, Kind – doch! Und es hat mir wirklich weh getan!« Er neigte den Kopf zu ihr herab, ein seines Zigarettenparfüm wehte aus seinem weichen Vollbart, und seine Stimme klang warm und schmeichelnd-tief. »Ich hab's so gern, wenn mich die Menschen lieb haben! Jeder soll mich lieb haben. Sonst freut mich 's Leben nicht! Aber Sie können mich nicht ausstehen!«
Sie nickte kurz und entschieden und verstärkte ihren energischen Gang. Er schritt, trübe den Kopf hängen lassend, neben ihr her. Auf einmal lachte er laut vor sich hin.
»Was haben Sie denn, Herr Professor?«
»O nichts!« Er hob seine Löwenmähne und seine Augen funkelten. »Es ist mir nur etwas eingefallen!«
»...Das wird wieder etwas Rares sein!«
»Ja freilich! Daß man seine Feinde lieben soll! Gottlob, daß zwischen uns Feindschaft ist!«
»Feindschaft auch nicht! Nichts! Gar nichts ist zwischen uns! Meinerseits wenigstens!«
»Ach!« sagte er mit einem seltsamen, halblauten Ton und blieb stehen. Sie tat willenlos das Gleiche. Sie fühlte, daß ein törichtes Rot ihre Wangen überzog. Ihr Herz begann zu hämmern, in einer Art hilfloser Wut gegen den Meister Siegfried.
»Ach ... ach, Kind!« wiederholte der tröstend, als hätte sie ihm eben Gott weiß welch wichtiges Geheimnis gebeichtet. »Es ist ja alles nicht so schlimm. Versuchen Sie's mal und haben Sie mich ein bißchen lieb, wie die anderen alle auch! Die tun's in aller Unschuld! Sie sind besser daran! Sie allein wissen das große Geheimnis, das ich selbst noch nicht kannte – unser großes Geheimnis aus der Gletscherspalte: was ich nämlich für ein böses, böses Untier bin!«
»Und trotzdem soll ich Sie gerne haben?«
»Gerade deswegen!« sagte er ganz erstaunt. »Nette Menschen kann jeder lieb haben! Das ist kein Kunststück. – Aber blonde Bestien wie mich ... lachen Sie mal, Kind Gottes, und geben Sie mir die Hand! Flugs! So! Ein fester Händedruck. Ob Sie wollen oder nicht! So! Sehen Sie wohl! Jetzt bin ich erst recht Ihr Freund!«
Sie lachte befangen und ballte unwillkürlich die Hand, während sie sie wieder zurückzog. Aber er schien es gar nicht zu merken. »So ist's recht!« lobte er. »Immer vergnügt! Pfeifen und bei der Arbeit stehen und vergnügt sein – das ist die Hauptsache im Leben. Alles übrige – das geht so mit! Da leg' ich keinen Wert darauf. Aber man tut mir ja immer unrecht. Und Sie, Sie böser kleiner Freund, am meisten!«
Er war in rosigster Stimmung. Es amüsierte ihn, daß ihn die Touristen, die mit Bergstock und Bädeker bewehrt scharenweise ihren Weg kreuzten, für einen Tiroler Führer hielten. Für einen Renommierzillertaler, den sich die reizende junge Dame und ihr Vater da vorn, der allein gehende grämliche alte Herr, aus dem österreichischen Kaiserreich mitgebracht. Treuherzig wie ein rechter Seppl aus Heiligenblut oder Sulden seinen Hut lüpfend, bot er den Vorbeiwandernden sein »Grüaß Gott!« »Ös schaut's aber sauber aus!« meinte er naiv bewundernd zu zwei jungen Mädchen, die seine buntgekleidete Siegfriedsgestalt wohlgefällig betrachteten, und als deren Begleiter, ein militärisch straffer, strenger Norddeutscher, über diese Dreistigkeit verblüfft, den Mund öffnen wollte, schnitt er ihm das Wort mit einem langgezogenen Jodler ab, der melodisch an der Bergwand widerhallte.
»Eigentlich hat's so ein rechter Tiroler Bauernbub doch am besten im Leben!« sagte er weitergehend zu seiner Gefährtin, während ringsum alle Köpfe nach dem Paar sich wandten. »Er is nix, er hat nix, er denkt nix, er will nix, er lobt seinen Herrgott und ist mit der Welt zufrieden. Ich wollt', ich wär's geblieben, statt daß ich so ein hochdeutscher Lakel in Frack und weißer Binde geworden bin!«
»Eben sind Sie's ja! Vollkommen Tiroler, weil Sie gerade das grüne Zillertaler Wams und die gestickten Kniestutzen anhaben. Ich glaube, Sie würden sogar unorthographisch schreiben in diesem Augenblick! Und wenn jemand dem armen Seppl eine Zigarre oder ein Trinkgeld in die Hand drückte – wahrhaftig – er nähm's!«
»Und ob ich's nähme!« sagte der Meister Josephus nachdrücklich. »Man muß alles in der Welt mitnehmen. Ich kann die feierlichen Leute nicht ausstehen! Die Steifleinenen, die immer auf einen Ton gestimmt sind. Regen und Sonnenschein, das muß wie Schatten über die Gesichter kommen und gehen. Darum habe ich die Weiber so gern. Bei denen ist alles Welle, Bewegung, Leben. Aber die Männer – die meisten wenigstens – die sind fad! Sehen Sie sich nur unseren Erretter an, Kind, wie er da kopfhängerisch zehn Schritte vor uns herläuft! Aber kommen Sie, daß wir ihn nicht verlieren! Der muß einen schlechten Magen haben. Sonst sähe er nicht so, sauertöpfisch aus!«
In der Tat hatten sich die gefurchten Züge des Alten seit dem Eintritt in das Tal immer mehr verdüstert. Rings um ihn wimmelte und wirrte die Menschheit. Die Fremdenindustrie stand in voller Blüte. Ein Alphornbläser entlockte seinem Schallrohr Töne, die an die Klagen einer liebeskranken Kuh erinnerten. Nicht weit von ihm hatten sich drei kleine Mädchen an der Hand gefaßt und sangen mit dünnen, falschen Kinderstimmchen ein gefühlvolles Bettellied, halbwüchsige Jungen schwenkten Edelweiß und Alpenrosen, junge Burschen boten sich als Träger, ein hübsches, in seiner Berner Tracht vor Frost mit den Zähnen klapperndes Mädchen aus einer Holzbude heraus als Verkäuferin von Bier und Milch an. Andere Kinder klöppelten vor den Haustüren Spitzen oder hielten Schnitzwerk und Ansichtspostkarten feil, die Kutscher knallten aufmunternd mit den Peitschen, und hoch von oben klang ein echoweckender Pistolenschuß in die allgemeine große Symphonie: »Fremdling, öffne deinen Beutel!«
»Entsetzlich!« sagte der alte Herr und ließ stehenbleibend die beiden anderen herankommen. »Es ist, als ob die Welt ihren ganzen Sonntagnachmittag auf Wanderschaft geschickt hätte, um diesen herrlichen Fleck Erde zu entweihen. Sehen Sie nur diesen dickbäuchigen Menschen mit aufgekrempelten Hosen dort drüben, wie er das Bier gierig in sich hineinschüttet. Sollte man solche Gesichter nicht polizeilich unterdrücken?«
»Warum denn?« Der blonde Meister lächelte gutmütig und zerstreut einer hübschen Saaltochter nach. »Die Leute wollen auch leben! Kommen Sie nur! Sonst fährt die Zahnradbahn ohne uns ab!«
»Die Zahnradbahn!« Das verhaßte Wort schien dem anderen nur schwer von der Zunge zu gehen. »In diese Brutstätte des Philistertums wollen Sie? Unter diese Herde? Sehen Sie nur, wie es unten an der Station Lauterbrunnen von diesen Gründlingen wimmelt und strömt. Da wollen Sie sich hineinpferchen? Als zwölfter im Dutzend? Ein Mann, der eben noch beinahe von der Jungfrau umgebracht worden ist?«
»Nun gerade!« Meister Josephus lachte, verstohlen nach den verschleierten Höhen blickend. »Wir wollen sie ärgern, die weiße Dame. Wie du mir, so ich dir! Erst hat sie uns aus lauter Bosheit in ein Kellerloch gesteckt wie die unartigen Kinder – jetzt sind wir noch tückischer und machen ihr in der Zahnradbahn eine Fensterpromenade und drehen ihr aus dem Coupéfenster eine lange Nase: ›Etsch, Majestät! Fangen Sie uns doch! Da sind wir wieder!‹ Wenn man zuvor in einer Gletscherspalte war, dann gehört man an die Table d'hote ober in die Eisenbahn! Abwechselung ist der Witz des Lebens! Kontrast ist Witz! Wissen Sie das noch nicht?«
Sein Retter blieb stumm. Mit einem äußerst grämlichen, zwischen Neugier und Abscheu gemischten Interesse, wie etwa ein Forscher, der endlich ein langgesuchtes Reptil in seinem Sumpfwinkel sich ringelnd gefunden, beobachtete er, während sie einstiegen, den Sturm der Ausflügler auf die Zahnradbahn, das Schreien, Lachen und Streiten in allen Sprachen, den wilden Kampf um die Eckplätze rechts, die verzweifelten Versuche, die langen Bergstöcke irgendwie unterzubringen, die Manöver der Engländer, ihre Hunde listig ins Coupé zu schmuggeln, ohne daß der Schaffner es merkte.
Endlich hatte alles seinen Platz gefunden, die Misses hielten die Foxterriers auf dem Schoß, ihre Begleiter die Alpenstöcke zwischen den Beinen der Mitreisenden, die Pfeife schrillte, die Rundreisehefte, die Bädekers, Meyers und Murrays entblätterten sich und die Fahrt begann.
Der Meister Josephus war in die Betrachtung einer bildhübschen Britin versunken. Er war jetzt plötzlich ganz Künstler – tiefernst, sachlich, beinahe andächtig. »Diese schmalen sommersprossigen Madonnengesichter ...« murmelte er zu seiner Begleiterin. »Es ist, als ob sie dafür einen Stempel in England hätten und sie der Reihe nach ausprägte«, gleich hundert oder tausend Stück hintereinander. Es ist ja ganz echt, diese Kälte und weiße Unschuld ... aber gerade darum raffiniert. Das lockt, wie frischgefallener Schnee. Dieser kühle blonde Engel da drüben hat natürlich, wenn er aufsteht, auch wieder zwei linke Beine. Aber eben diese linkische Grazie ... sie ist so ehrlich – so urwüchsig – so gesund – ach, so was mit dem Meißel festzuhalten ...« wieder musterte er die hübsche Miß und schüttelte den Kopf. »... Kinder Gottes ... wie könnt ihr nur so temperamentlos sein?«
»... Wenn man eben blond ist ...« sagte Lotte.
Da lachte Meister Josephus herzlich. »Bin ich es nicht auch? Und Sie selber, kleine Heilige? Und trotzdem –! Warum sehen Sie mich denn so entrüstet an? Ist's denn ein Fehler, heißes Blut zu haben? Sie haben's, Gott sei Dank! Sie sagen, Sie durchschauen mich in meiner schwarzen Niedertracht! Ich Sie aber auch, Kind meiner Seele! Wissen Sie, was Sie sind?« Er dämpfte seine Stimme und neigte, um von den Umsitzenden nicht gehört zu werden, seine Lippen zu ihrem Ohr, daß sein Vollbart ihre Wange umfächelte. »Sie werden mir entrüstet antworten: ›Eine wohlerzogene junge Dame von neunzehn Jahren!‹ Stimmt! Vor den Augen der Menschheit! Aber nicht vor den Augen des Meisters! Da sind Sie ein sanfter kleiner Vulkan, der still vor sich hinglimmt und seiner Zeit wartet. Vorhin – der Ausbruch in der Gletscherspalte – das war so eine Probe!«
Jetzt lachte auch Lotte und warf ihm unter den halbgesenkten Wimpern einen eigentümlich glänzenden, feindseligen Blick zu. »Und wann kommt die Zeit, Meister Josephus?«
»Wenn Sie erkannt haben, daß ich Ihr Freund bin!«
»Da können Sie lange warten!«
»O Kind, Kind ...« sagte der blonde Bildhauer eindringlich. »Sehen Sie ... Freundschaft kann man nur für jemanden fühlen, den man durch und durch versteht. Sie sagen, Sie seien der einzige Mensch, der mich durchschaut – und zwar gründlich ... nun also ...«
»Also müssen wir Freunde werden?«
»Ja. Wenigstens durch ein äußerliches Zeichen vorläufig.
In Erinnerung an unsere Kameradschaft in der Gletscherspalte. Soviel ich weiß, sagt man in solchen Orten überhaupt ohne weiteres ›du‹ zu einander! Ja! Das wird so etwas Väterliches in unsere Beziehungen bringen! Das Kind und der Meister! Herrlich! ... ergreifend! Nicht wahr?« Er sah ihr sanft und offen ins Gesicht. »Vertrauen um Vertrauen! Jetzt sagen wir ›du‹ zu einander!«
Sie lachte. Ihre Lippen waren dicht vor seinen und die blauen Augenpaare funkelten ineinander. »Du fängst mich nicht, Meister Josephus!« sagte sie, während es mutwillig um ihre Mundwinkel zuckte und die Zähne feindlich aufblitzten. »Geh nur umher wie ein Löwe und sich, wen du verschlingst! Ich entwisch' dir!«
»Oh!« Ihr Freund bog sich anscheinend gleichgültig zurück. »Aber immerhin ... sie hat ›du‹ gesagt!«
Und nach kurzem Nachdenken setzte er, tiefsinnig vor sich niederblickend, hinzu: »Und außerdem ... wie kann man fangen, was man schon hat?«
Jetzt wurde sie aber ernstlich böse. Ihre Wangen färbten sich und auf ihrer schmalen weißen Stirne erschien eine drohende Furche. »Wirklich ... ihr Männer seid doch zu komische Menschen!« sagte sie. »Von einem Dünkel ... ich möchte nur wissen, für was ihr uns eigentlich haltet! Daß Sie sich wirklich ...«
»... Daß du dir wirklich ...«
»Also gut ... daß du, Meister Josephus, dir in allem Ernste einbildest, du könntest mit mir spielen, wie die Katze mit der Maus! Ganz im Gegenteil! Wenn du das noch nicht gemerkt hast, daß ich mich die ganze Zeit über dich lustig mache ...«
»Natürlich hab' ich's gemerkt!« Der Siegfried dehnte sich philosophisch in den Polstern und blinzelte nur von der Seite zu seiner schönen Begleiterin herüber. »Also gut! Aus ist's! Ich bin ein Simpel! Der Vetter vom Lande! Ein armer, geplagter Steinklopfer, dem die kleinen Mädchen auf der Nase herumtanzen! Still! Jetzt bin ich bös' auf dich!«
»Ich auch!« sagte das junge Mädchen und beide wurden stumm und sahen sich nicht mehr an.
Weder ihr abseits sitzender Gefährte noch die Mitreisenden hatten sich um das Paar gekümmert. Sie drängten sich an die Fenster wie die Fliegen an die Zuckerschüssel und starrten, aus dem Reisehandbuch die Berge kontrollierend, hinaus nach dem Absturz des Mönches und der Jungfrau. Die firngepanzerten, von schuppigen Gletschern durchkrochenen, blendend überschneiten Riesenwände waren nur zum Teil sichtbar. Ein Gewimmel kleiner milchfarbener Wolkenballen, das schon tief unten im Tal wie eine Lämmerherde weidete, stand vor ihren weißen Flächen und ging nach oben hin in undurchsichtigen Flor über. An einzelnen Stellen lugte noch aus unwahrscheinlicher Höhe der hellere Glanz eines weltenfernen Eisfelds durch die fahlen Schwaden. Die eigentlichen Gipfel der Gigantin und ihrer beiden Genossen blieben verhüllt. Aber trotzdem war der Anblick ergreifend in seiner bleichen Pracht.
»Etsch!« sagte Meister Josephus plötzlich. »Brrr! Wenn wir jetzt noch in der Gletscherspalte säßen. Da strecke ich doch lieber hier die Beine lang aus, pfeife mir eines und betrachte die Jungfrau aus sicherer Entfernung vor einer neuen Ohrfeige. Freilich, unser Befreier glaubt das nicht. Der lächelt schon wieder in sich hinein, als hätt' er ein paar Spinnen gefrühstückt!« Er erhob seine Stimme. »Was haben Sie denn? Ist's nicht wundervoll hier?«
Auf der dritten Bank von ihnen erhob sich, während der Zug stillstand und alles zum Ausgang drängte, der alte Berggänger und deutete mit verzweifeltem Lächeln auf ein paar nebenan haltende Eisenbahnwagen. »Können Sie lesen?« fragte er. »Da steht's geschrieben: ›Jungfraubahn‹! ... Ganz frank und frei! Pfui – pfui – pfui! Mir wird übel bei dem Gedanken! Wie lange dauert es noch, so sind sie oben auf der Spitze. Der Alltag, der Landregen, das Plattland in ganzen Wagenladungen und im Dutzend billiger. Krüppel, Greise, Kinder, alte Frauen, Defraudanten, Flitterwöchner, Hotelportiers, Schneidergesellen, Putzmamsells, Alphornbläser, Gähnende und nicht mehr Nüchterne – alles trampelt dort oben auf dem weißen Brautkranz unserer lieben Jungfrau umher und gröhlt und jodelt in die heilige Luft. Die Krankheit der Erde ... der heutige Mensch! O ihr Unberufenen, ihr Vielzuvielen, ihr Allermeisten – was wollt ihr in unserem Reich?«
»Was soll ich hier noch?« Der Alte warf in bitterem Zorn seinen Rucksack um. »Warum haben Sie mich hier heraufgeschleppt unter die Philister? Da sitzen sie und schreiben Ansichtspostkarten – nicht eine, nein, ein Dutzend – sie hadern mit dem Wirt, weil sein Plakat verbietet, mitgebrachtes Frühstück an seinen Tischen zu verzehren – sie schlürfen und schmatzen ... und dort ... prägen Sie sich den Greuel ein – dort sitzen drei bierbäuchige, kurzsichtige junge Männer und spielen Skat! ... Skat beim Lawinendonner der Jungfrau! Im Angesicht des Trümmletentals! Warum schafft man derlei mit Dampfmaschinen hier herauf? Skat! Und sie wiehern vor Wonne über ihre vier Wenzel! Adieu, Berner Oberland! Ich geh' und kehre nicht mehr wieder. Du gehörst dem Alltag! Du bist entweiht und verwüstet!«
Er bot den anderen die Hand zum Abschied. »Im Engadin gibt's noch keine Eisenbahn! Ich will wieder einmal eine Wallfahrt tun ... nach Sils-Maria! Zum Felsen von Surlei, wo der Zarathustra entstand! Was der Zarathustra ist, mein liebes Fräulein? Wenn Sie es nicht wissen, brauchen Sie es auch nicht zu erfahren! Am wenigsten hier – unter den langen Ohren! Adieu! Danken Sie mir nicht! Begegnen Sie mir lieber wieder da oben, in der Höhe – wo wir unter uns sind!«
Meister Josephus schüttelte energisch ablehnend den Kopf und der Alte verschwand, grau und unansehnlich wie eine Motte, in der ringsum drängenden und schwatzenden Menge.