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XI.

Was sich nun noch auf dem grünen Rasen abspielte, fand kaum mehr Zuschauer. Diese Rennen um zehntausend, um zwölftausend Mark, die den Rest des Tagesprogrammes füllten, konnten in Breslau oder Magdeburg imponieren. Hier, nach der Sensation des Großen Preises und ihrem freudvollen und leidvollen Nachzittern bei »Aegirs« Anhängern und Gegnern verblaßte das alles.

Auf der Klubtribüne rüstete man sich schon zum Aufbruch. Während noch die Glocke zum Start rief und bald darauf ein Gewimmel farbiger Punkte in Eile fern über das grüne Gelände hinschoß, wie bunte kleine Kugeln über das Billardtuch rollen, brachten vor der Auffahrt schon die kahlrasierten und die vollbärtigen Kutscher ihre Gefährte in Ordnung, die Lakaien wischten sich rasch den Bierschaum von den glatten Lippen und nahmen ihren majestätischen Gesichtsausdruck an, die Grooms rannten hin und her, und bald rollten schon die ersten Wagen davon, zwischen den niederen Dorfhäusern hindurch in die Sonnenglut der Rheinebene hinaus, auf deren verbrannten Feldern ebenso wie vor drei Stunden, als sei gar nichts inzwischen geschehen, die Ackersleute harkten und schaufelten und, sich den Schweiß von der Stirne wischend und auf den Spaten gestützt, dem wieder wie eine Vision in der zitternden Augusthitze ferne auftauchenden Fastnachtsreigen nachschauten.

Den ersten Viererzug, der abfuhr, lenkte Mr. Owen mit kunstgeübter Hand. In derlei war er Meister. Wenn er phlegmatisch und stumm wie immer die Leinen in seinen Eisenfäusten hielt, konnten die Damen hinter ihm auf dem Verdeck, dies zarte Gewimmel von Rosa, Blau, Weiß und Blutrot, – konnten die sachverständigen Gentlemen, die dazwischen saßen, und unten, in dem erstickend heißen halbdunklen Kasten des Innenraums die Diener unbesorgt sein. Es passierte nichts.

Eben bog er sich prüfend zurück, um zu sehen, ob er nach hinten, gegen das Haus hin, Platz genug zum Wenden habe –, da machte Virginia, die, noch zitternd und bebend von der Erregung des Kampfes, wie eine Königin neben ihm thronte, eine jähe Bewegung. »Kommst du denn nicht mit?« rief sie hinunter.

Unten stand ihr Mann und verneinte. »Ich fahre lieber allein! Ich habe mir den Dogcart mit dem amerikanischen Traber herauskommen lassen.«

» Well!« brummte der Herrenreiter oben zwischen den Zähnen und beschrieb mit seinen Rossen eine kunstvolle Kurve in dem Boden. Das tiefe Tuten des Hornes tönte, und die Mailcoach glitt lautlos durch den tiefen Sand und Staub unter den Bäumen hinaus in die Sonne.

Aber der kleine Prinz fuhr nicht allein. Er hatte seinen Oheim gebeten, ihn zu begleiten. Die Einsamkeit lag ihm zu schwer auf dem Herzen. Er mußte sich einmal aussprechen und nickte dankbar dem alten Herrn zu, wie er straff, rasch und hochaufgerichtet, Grandseigneur wie immer, heranschritt und einsteigend ohne weiteres die Zügel ergriff, während der Kutscher hinten, der sie beide nur gestört hätte, auf seinen Wink zurückblieb.

Der Traber holte mit federnden Hufen aus. Bald waren sie inmitten der staubumwölkten, abenteuerlichen Wagenburg, die eilig, wie sie gekommen, unter Rädergerassel und Peitschenknall zwischen weißgepuderten Bäumen auf weißglühender Chaussee dem Schwarzwald zurollte.

Prinz Wilfried sah nachdenklich zu, wie der greise Kavalier neben ihm ihr Gefährt mit leichter und sicherer Hand durch das Wirrwarr von hochragenden Viererzügen und kleinen Berner Chaischen, von menschenwimmelnden Leiterwagen und langsamen Landauern lenkte und dabei immer noch Zeit fand, mit verbindlicher Peitschensenkung rechts und links die Grüße zu erwidern. Er wußte selbst nicht, warum ihm der alte Herr so imponierte. Gerade der unter so vielen Standesgenossen! Er war durchaus kein hervorragender Geist – er hatte nichts Sonderliches in seinem Leben geleistet und doch – es war etwas anders an ihm als bei den übrigen. Der moderne prinzliche Denker und Träumer an seiner Seite fühlte es unbestimmt: Es war ein Stück Vergangenheit, ein Überbleibsel vom achtzehnten Jahrhundert, was da neben ihm saß. Der große Herr von einst, selbstbewußt und wohlwollend, sorgfältig gepflegten Geistes, ein bißchen zu fein, ein bißchen zu müde, ein bißchen zu alt für unsere Tage, aber vornehm, naiv vornehm bis in die Fingerspitzen, gleich jenen gepuderten französischen Marquis, die mit demselben weltmännischen Takte die Treppe zur Guillotine hinaufstiegen, wie sie wenige Jahre vorher den Weg zur Levée des Königs in Versailles gefunden.

Einer der glücklichen, hochgeborenen Dilettanten des Lebens! Herzog Eberhard hatte in seinen jungen Tagen sich viel in Kriegsdiensten versucht – er wurde im Jahre 49 als österreichischer Offizier von den ungarischen Aufständischen verwundet und gefangen, er war einer der Gefährten des unglücklichen Kaisers Maximilian in Mexiko, er sah sich im Bruderkrieg von sechsundsechzig mit seinen Truppen von den Preußen geschlagen und machte zwischen alledem noch im Dienste der englischen Königin ein paar unglückliche Kolonialfeldzüge mit ... er befand sich immer auf seiten der Unterliegenden und pflegte in seiner leisen, vornehmen Sprachweise selbst zuzugestehen, daß ihm das Schlachtenglück nie hold gewesen. Aber er fand es eigentlich ganz natürlich. Er lebte vollständig in der Vorstellung der alten Zeit, daß ein hoher Herr sich auch mit Soldatenspielerei beschäftigen müsse, um der Überlieferung seiner Ahnen getreu zu bleiben. Und wenn er kein Talent dazu hatte, so wurde er eben geschlagen und zog sich mit ein paar ehrenvollen Narben auf seine Besitzungen zurück.

In späteren Jahren hatte er dem neuen Reiche seine Dienste geweiht, nicht eben enthusiastisch, sondern still, diskret, als ein Mann von gutem Geschmack und feinen Sitten, ein distinguierter Diplomat der alten Schule, überall mit Vorteil zu verwenden, wo es sich nur darum handelte, tadellos zu repräsentieren, vornehmer Causeur, Feinschmecker, Weidmann und Hausherr zu sein und die eigentliche Arbeit anderen zu überlassen.

Als er dann die Standesherrschaft übernahm, hatte er viel Gutes für seine Pächter und Beamten getan, in denen er eigentlich immer noch die »Untertanen« von früher sah, für die ein aufgeklärter und geschmackvoller Fürst nach bestem Wissen sorgen mußte. Und nun fand er auch Zeit und Mittel, seine künstlerischen Neigungen frei zu entfalten. Eine wohlanständige Prachtliebe in richtig gesteckten Grenzen gehörte nach seinem Empfinden zu der ganzen Erscheinung eines feingeistigen Grandseigneurs. So kam durch ihn Leben in die Stille des zopfigen standesherrlichen Residenzleins mit seinem Barockschloß aus dem achtzehnten Jahrhundert, in das der alte Herr so gut paßte. Und so gab er sich eben jetzt auch alle Mühe, seinen Liebling, den Meister Josephus Ranggetiner, für seinen großen Plan, die marmorne Ahnengalerie im Schloßpark, zu gewinnen.

Geheiratet hatte er spät – nach einer in diskret abgetönten Liebesstürmen verbrachten Jugend –, hatte vier Söhne, wie sich das für das Haupt eines altfürstlichen Hauses schickt, und war jetzt noch, als Großvater, mit seiner hohen, schlanken Gestalt, der straffen Haltung und dem freundlichen, von sorgfältig ausgeschorenen weißen Bartstreifen eingerahmten Greisengesicht eine imponierende Erscheinung, ein schönes Schaustück aus alter Zeit.

Prinz Wilfried, sein Neffe, beneidete ihn. Da war Sicherheit, da war Ruhe – da war alles so selbstverständlich, was er sprach und tat, was er litt und erlebte, als könne es gar nicht anders sein. Dieser Kavalier der legitimistischen Schule hatte nie an sich gezweifelt. Er stand unerschütterlich auf seinem Platze in der Welt – nichts Tiefes, nichts Großes in seinem Wesen – aber ganz in sich ausgeglichen und befestigt, eine durch und durch harmonische Natur, ein glücklicher Mensch von seinen Knabenjahren bis jetzt in das Greisenalter.

Der alte Herzog runzelte die Stirne, während er vorsichtig einem ungeschickt fahrenden Hotelwagen auswich, in dem vier Berliner Buchmacher, ordinäre Bierwirtsgesichter, saßen und heiser aufeinander einschrieen und stritten. Er kutschierte gut, wie er auch seinen Hirsch sicher zur Strecke brachte und jetzt noch alltäglich seinen Spazierritt unternahm. Er war auch darin, ohne vordringliche Meisterschaft, einwandfrei und ein sicherer Weltmann, wie in allem.

»Sage einmal, mein Lieber!« begann er endlich, da sein Nachbar immer noch schwieg. »Was ist eigentlich mit dir? Du gefällst mir gar nicht!«

»Ich gefalle mir auch nicht!« sagte der kleine Prinz.

Der alte Grandseigneur grüßte lächelnd mit der Peitschenspitze zu einer Schar hübscher Amerikanerinnen hinüber, an denen er vorbeifuhr. »Eine Hauptsache im Leben, mein lieber Wilfried – eine Grundregel heißt: Man fällt nicht auf! Das tut kein Gentleman. Mein Bester – du fällst auf! Du bist exzentrisch! Überlasse das doch den neuen Menschen – aus Amerika oder von der Wiener Börse. Uns steht das nicht!«

Prinz Wilfried nickte. »Ja. Aber ich bin nun einmal wie ich bin!«

»Alles zu seiner Zeit! Man ist einmal dieses, einmal jenes, wie es gerade der Moment erfordert. Ein Mann von Geschmack wird gewiß vermeiden, sich auf einen einzigen Ton zu stimmen und dadurch sich und anderen langweilig zu werden. Und er schwimmt nicht gegen den Strom. Was sind das für Einfälle, mitten in der Baden-Badener Woche plötzlich zu verschwinden und sich als ein menschenscheuer Sonderling irgendwo in Schnee und Eis zu verkriechen? Oder als Gewinner des Großen Preises eine weltschmerzliche Miene aufzusetzen, wie du sie zur Schau trägst? Derlei macht einen gezwungenen Eindruck ... äh ... ja ... mein Lieber... Man spricht darüber.«

»Mag man!«

»Und vor allem ... ja ... lieber Freund ... du bist nun einmal verheiratet ... du hast sogar eine sehr schöne Frau ... die Art, wie ihr in der Öffentlichkeit miteinander verkehrt ... dieser nachlässige Händedruck vorhin, nachdem ihr euch drei Tage nicht gesehen habt ... ungefähr wie wenn sich zwei oberflächlich bekannte Gentlemen vor dem Klub treffen! ›Guten Tag!‹ ... ›Was Neues?‹ ... ›Nein!‹ Und man rückt am Hut und geht wieder auseinander. Glaubst du denn, daß derlei nicht beobachtet wird? daß man daran Bemerkungen knüpft – äh ... ich will ja gewiß nicht sagen, betreffs des Rufes deiner Frau – aber immerhin Bemerkungen, die nicht gerade schmeichelhaft für dich sind.«

»Ich sage mir auch sehr wenig Schmeichelhaftes, wenn ich mit mir allein bin. Aber meinst du wirklich, daß Virginia oder sonst irgend jemand hier mich vermißt, wenn ich nicht da bin!«

» Go on!« murmelte der alte Grandseigneur geschäftsmäßig mit den Zähnen und mahnte mit einem leichten Peitschenschmitz den Traber an seine Pflicht.

»Das ist doch deine Schuld, mein Freund!« fuhr er dann lauter und lebhafter fort. »... Warum läßt du dich nicht vermissen?«

»Kein Mensch kann sich ändern! Ich bin, was ich bin! Und bleib' es!«

»Und was bist du?«

Darauf blieb Prinz Wilfried zunächst die Antwort schuldig. Er schüttelte nur den Kopf und schaute vor sich hin in das staubumhüllte Getümmel der Wagen.

»Ganz muß man sein!« sagte er endlich. »Ganz! Siehst du – das ist's!«

Der Herzog sah ihn aufmerksam und ein wenig verwundert an. »Was nennst du ganz?«

»Alles, was natürlich ist. Selbstverständlich. Aus sich herausgewachsen. Aber ich...«

»Nun – aber du?«

Sein Neffe drehte sich zu ihm herum: »Sieh mich doch an! schmächtig, unansehnlich, ein bißchen verwachsen, blaß und müde im Gesicht. Ist das ein Prinz? Soll so ein richtiger Prinz aussehen? Ach wo!«

»Du bist's aber doch!«

»Ich bin's und ich bin's nicht! Ja – wenn ich du wäre – von reinstem, altem Blut! – Unter dir ist eine Schranke. Und darunter das Volk, die Masse, mit der du nichts gemein hast, so wenig wie die lange Reihe deiner Vorfahren. Das ist schön. Das muß einem das Gefühl von Sicherheit geben! – Aber ich – glaubst du – ich hätte vergessen, von wo ich meinen Ursprung ableite – aus dem achtzehnten Jahrhundert, als es an unserem Hofe Brauch war, die Söhne des Landes nach Amerika zu verschachern, und die Töchter des Landes ... nun ja ... heutzutage kommt es nicht mehr vor, daß eine ehrgeizige Favoritin für sich und ihre Kinder zur linken Hand den Prinzentitel erhält! Das ist meine Vorfahrin, meine ehrwürdige Urahne. Von der stamme ich und lasse mich einen Prinzen schelten...«

»Ein Prinzentitel wie mancher andere!«

»Und bei uns, wo sie zu Hause war, meine glorreiche Stammutter, die Jungfer Barbara Fleckin und spätere Fürstin von Eck – da leben noch jetzt ihre Verwandten! In jedem Dorf sind welche, die den Namen Fleck führen, Ackersleute, Händler, Uhrmacher, Krämer – was weiß ich! Ehrliches, braves Alltagsvolk! Vielleicht auch die Hefe des Volks darunter. Von denen komme ich mütterlicherseits, von der Tochter des fürstlichen Lakaien Fleck, eines richtigen Halunken, wie es scheint – und väterlicherseits vom Hofe der Hohenstaufen. Siehst du: das stimmt nicht zueinander: eines hebt das andere auf. Ich bin kein echter Prinz!

»Und wenn ich wenigstens noch ein nützlicher Prinz wäre!« fuhr er melancholisch fort. »Ein Gardekavallerist in glänzender Uniform – ein Gesandtschaftsattaché ... aber ich kann ja nicht dienen – mit meiner schiefen Schulter. Und zum Diplomaten ist man erst recht verloren, wenn man grüblerisch und menschenscheu ist wie ich.

»Oder ein starker gesunder Prinz! Aber ich habe ja gekränkelt von Jugend auf. Wir haben schlechtes Blut im Leibe, wir alle von der Seitenlinie der Barbara Fleckin selig. Das ist uns geblieben – aus dem achtzehnten Jahrhundert. Das einzige, was uns geblieben ist. Geld und Gut der verkauften Landeskinder sind ja weg!

»Ja – wenn ich zum mindesten ein reicher Prinz gewesen wäre! Aber es war ja ein Fluch auf dem englischen Geld, das aus dem Menschenhandel kam. Es war wie verhext. Heute Gold, morgen Streu! Vertan und verpraßt und verspielt und verliebelt von denen vor mir, bis aufs letzte! Also nun sieh!« schloß er philosophisch, immer mehr zu sich als zu dem anderen redend. »Ein armer, kränklicher, verwachsener, menschenscheuer Abkömmling eines schurkischen Lakaien und zugleich ein Prinz – wie reimt sich das zusammen?«

»Du denkst zu viel!« sagte der alte Kavalier neben ihm in freundlichem Ton. »Lasse doch das ewige Denken! Das hilft gar nichts!«

Sein blasser Neffe zog die Brauen hoch. »Das Denken an sich vielleicht nicht! Aber das Handeln, das daraus kommt! Siehst du – wie ich mich selber einigermaßen kennenlernte, so um die Zwanzig herum – da sagte ich mir: Was geschehen ist, kann ich nicht ändern. Aber was noch werden soll, daran läßt sich bessern. Ich will keine unnütze prinzliche Drohne werden – keines jener traurigen Anhängsel eines hohen Hauses, von denen man nur einmal hört, wenn sie geboren werden, wenn sie heiraten oder unter Kuratel kommen und wenn sie endlich unter allgemeinem Beifall das Zeitliche segnen. Ich wollte selbst etwas aus mir machen!«

»Das hast du doch weiß Gott getan, mein Lieber!«

»Ich hab's versucht. Ich habe meinen Doktor gemacht, aber was beweist das? Wer läßt einen Prinzen durchs Doktorexamen fallen? Ich habe ein wissenschaftliches Werk veröffentlicht. Hätte es ein anderer verfaßt, hätte es vielleicht in den Kreisen der Sozialpolitiker Aufsehen erregt. Es sind neue Gedanken darin, vielleicht sogar große! Aber wer nimmt einen kleinen Prinzen zu Mitte der Zwanzig ernst? Dessen Sache ist es doch, auf Hofbällen zu tanzen, vor dem Zug zu reiten, am Spieltisch zu sitzen, im cabinet particulier zu soupieren. ... Aber dies Leben hat mich bald gelangweilt ... angeekelt ... ich wollte mehr...«

Um seine dünnen blassen Lippen legte sich ein harter Zug. »Ich habe Wollen gelernt! Und durchgesetzt, was ich wollte! Ich habe meine Muskeln gestählt, langsam und geduldig, ich habe meine Nerven erzogen, die früher schwach waren wie bei einem kleinen Mädchen, bis sie mir gehorchten. Jetzt bin ich gottlob so weit! Jetzt geh' ich im Hochgebirge über Abgründe, wo auch dem Mutigsten schaudern könnte, und mein Körper schaudert so wenig wie dein gehorsames Pferd vor uns. Ich kann mich auf mich verlassen, wenn ich auch nie so aus dem Vollen heraus robust und breitschulterig sein werde wie andere – sondern immer ein bißchen was von der Krankenstube habe, aber ich habe mir das Kranksein abgewöhnt ... das hab' ich erprobt in den indischen Fieberdschungeln und in den Kordilleren – und ich habe mir die Nerven abgewöhnt – das weiß ich, seit ich einen Tiger auf zwanzig Schritt vor der Büchse hatte und nicht mit der Wimper zuckte.«

»Nun also!« sagte der Herzog. »Sei doch froh in der Erinnerung. Es gibt nicht viele, die mit heiler Haut aus so viel Gefahren entkommen sind.«

»Nein! Besonders wenn man nicht als Prinz reist, als ein Stück Eilgut um die Erde, sondern, wie ich, inkognito. Aber wer glaubt mir denn nun, daß dieser Mr. Smith oder dieser Dr. Stark, der diesen Tiger geschossen oder jenen Berg erstiegen, daß das wirklich der blasse Prinz von Eck mit der schiefen Schulter war? Da sagt sich doch jedermann: ›Es war wohl gar nicht so schlimm, wenn es schon ein Prinz fertig gebracht hat!‹ Jetzt bin ich ja philosophisch geworden. Jetzt rede ich ja gar nicht mehr darüber. Sonst könnte ich euch zum Beispiel von meinem Abstieg am Lawinentor gestern etwas erzählen.«

Er starrte auf die lange, staubige Wagenschlange vor ihnen. »Vielleicht, daß ein anderer an meiner Stelle es fertig gebracht hätte! Der hätte vielleicht Reklame für sich gemacht, die Zeitungen alarmiert, Photographien und Bilder von sich verteilt, bis man ihn für voll gerechnet hätte, obwohl er ein Prinz war. – Ich kann das nicht. Mir graut vor der Menge. Vor allem, was Öffentlichkeit heißt. Ich lebe in mir. Und nehme die Dinge zu ernst. Drum werd' ich nicht ernst genommen!«

»Weißt du,« fuhr er fort, »vor zwei Jahren war ich soweit, daß ich mir dachte: Wozu das alles? Es ist ja doch alles vergebens! Ich hab' umsonst versucht, einen Inhalt für mein Leben zu gewinnen. Ich hab' mich umsonst aus einem Talmiprinzen zu einem ernsten modernen Menschen gemacht, umsonst aus einem unnützen Prinzen zu einem verdienstvollen Forschungsreisenden, aus einem kränklichen Prinzen zu einem entschlossenen, zähen Mann. Umsonst! Niemand dankt es – niemand glaubt es oder sieht es überhaupt! Vielleicht liegt das an meiner schiefen Schulter. Ich bin nun einmal eine verwachsene Hoheit, die still von ihrer Apanage lebt, bis sie stirbt. Und die Apanage war klein. Ich war arm.«

»Ja,« sagte der Herzog gedehnt, in einem eigentümlichen Ton. »Jetzt kommen wir endlich zum Kern der Dinge!«

Der junge Bergsteiger lächelte bitter. »Ein armer Prinz! Wie das klingt! Wie aus der Operette! Ich bin ein Prinz – sonst gar nichts mehr! Aber die Operette spielt sich draußen im Leben ab – und nicht nur bei mir – und wer darin die Hauptrolle spielt, dem ist gar nicht komisch zu Mut. Ich hab' auf meinen Reisen das Geld kennen gelernt – was viele Kreise bei uns in Deutschland immer noch nicht ganz einsehen – seine Weltherrschaft –- seine Allmacht... ich bin ja gar nicht habgierig ... am Besitz selbst liegt mir gar nichts – aber die Freiheit, die er verleiht... mein ganzes Wesen drängt nur nach Freiheit, nach Ungeschorensein, nach Sichselberleben – und um wirklich frei zu sein, um über den kleinen Zufälligkeiten und Störungen des Alltags zu stehen, braucht man vor allem, wie mir einmal ein Engländer in Kalkutta sagte, zweierlei: gute Kreditbriefe und einen guten Magen! Reichtum und Gesundheit! Ich hab' sie mir erworben! Die Gesundheit oben in den Bergen und den Reichtum durch meine Heirat....«

»Nun also!« Der alte Herzog furchte ärgerlich die Stirne. »Du hast dich also doch nie irgendwelchen Illusionen über deine Ehe hingegeben! Wenn man die Tochter eines amerikanischen Silber- und Eisenbahnkönigs mit ich weiß nicht wie vielen Millionen Mitgift zur Frau nimmt, so...«

»... so verkauft man sich!« ergänzte der blasse kleine Prinz. »Du sagst es! Einmal in meinem Leben hab' ich mich verkauft. Einmal! Oder sagen wir statt: ›verkauft‹ – wir haben einander gekauft – sie mich und ich sie. Es war ein ganz ehrliches Spiel. So mag wohl mein Schwiegervater drüben, den ich, Gott sei Dank, nur vierzehn Tage jährlich in Paris zu Gesicht bekomme, mit irgend einem anderen Silbermagnaten teilen, wenn einer seiner Fischzüge oder Raubzüge geglückt ist. ›Hier deine Hälfte – hier meine!‹ Ebenso haben meine Frau und ich uns entschlossen, zusammenzugehen – ohne irgend welche Abneigung natürlich – aber ganz kühl, ganz glatt und verbindlich – im leichten, überlegenen Stil, wie zwei Menschen, die gefunden haben, daß sie einander brauchen, um zu einem gemeinsamen Ziel zu kommen, und die nun auf dem langen Weg möglichst artig und rücksichtsvoll miteinander sind, um ihn sich nicht noch länger zu machen, als er so schon ist ...«

»Sehr schön – was willst du denn noch! Solche Konvenienzehen gibt es doch genug auf der Welt! Ich bin der letzte, der sich darüber entrüstet!«

»Besonders, weil du mich im Grunde deines Herzens ja doch nicht als ebenbürtig ansiehst. Wenn einer deiner Söhne meinem Beispiel folgen wollte, dann wollte ich einmal sehen ... aber einerlei ... du sagst Konvenienzehe ... ja, wenn es nur das wäre.« Er starrte vor sich auf den Boden und seine Stimme wurde unsicher. »An alles hab' ich gedacht, wie ich mich verkauft hab' ... nur an das eine nicht, daß ich mich verlieben könnte ...«

Der alte Grandseigneur neigte den Kopf etwas zu ihm, ohne die Augen von dem Traber zu wenden. »Du? ... Das ist ja das Neueste! Sag mal – im Vertrauen – in wen denn?«

Der kleine Prinz sah ganz erstaunt auf. »In wen?« wiederholte er langsam. »In meine Frau!«

Der andere lachte leise. »Du bist wirklich ein sonderbares Menschenkind! Sei doch froh! Es ist doch, weiß Gott, besser, man heiratet sich aus Verstand und bleibt aus Liebe zusammen, als umgekehrt. Und diese freudige Mitteilung macht er mit einem Gesicht voller Schwermut und Schuldbewußtsein, als ob ... Du hast doch wahrhaftig das Recht, deine Frau zu lieben!«

»Nein,« sagte Prinz Wilfried finster und kurz. »Eine Frau, die ich mir gekauft habe, oder sie mich – es kommt ja auf eines hinaus – die darf ich nicht lieben! Dadurch wird alles, was vorher war, noch entwürdigender für mich – noch widerlicher ... Der Ekel schnürt mir die Kehle zu ... und dabei ist es so lächerlich ... ich weiß es ... lache nur ruhig über mich ... ich tue es auch, wenn ich allein bin und über mich nachdenke ... Ein Ehemann, der darüber klagt, daß er seine Frau gern hat ... das ist doch etwas für die Franzosen ... für ein Boulevardstück, wo sich alles vor Heiterkeit schüttelt ...«

»Ich will nicht lachen!« Der alte Herzog bändigte mit energischer Hand das abgehende Pferd. »Aber tragisch finde ich die Geschichte auch noch nicht. Im Gegenteil ... sehr nett ... sogar charmant! Beinahe rührend! Plötzlich blüht in einer Vernunftehe die Liebe auf! Das ist ja ein Gedicht! Und du bist nicht selig, mein Bester? Das begreif' ich nicht!«

Wieder schaute ihn der kleine Prinz traurig an. »Wenn das so wäre!« sagte er langsam, »...wenn wir uns überhaupt verständen, sie und ich – wenn sie eine Ahnung hätte, was sie mir ist...«

»Dann sage es ihr doch...«

Er lachte bitter auf. »Ihr Gesicht möchte ich sehen! Wenn ich ihr mit Liebeserklärungen komme, ich, ihr Mann! Nach zwei Jahren! Ich weiß nicht, würde sie einen Heiterkeitsanfall bekommen oder ärgerlich über die Störung sein oder ... nein, sie würde sich nur maßlos erstaunen! So war der Handel doch nicht abgemacht! Von ehelicher Sentimentalität steht nichts in dem Kontrakt! Das könnte ihr gerade noch fehlen – solche Abhaltung – in dem Wirbel, in dem sie ihre Tage verbringt. Das geht ja wie eine Hetzjagd vom frühen Morgen bis zum späten Abend, mit Garden-Parties und Lawn-Tennis, Empfängen und Ausfahrten und Diners und Geflirte an allen Ecken und Enden... Sie würde mich überhaupt gar nicht begreifen... Sie würde sich auf den Standpunkt stellen: Ich halte unser Abkommen! Ich repräsentiere als deine Frau und lasse mir trotz meines exzentrischen Lebens nichts zuschulden kommen – also wahre du auch deine Stellung und störe mich jetzt nicht weiter. Ich muß zum Tee bei der alten Fürstin Kurakin, oder es ist Empfang beim Prinzen von Wales, oder die Schneiderin ist da, oder Mr. Owen will mich zum Spazierritt abholen ... oder sonst etwas. Sie hat ja immer etwas vor. Sie denkt ja nur an sich und ihr Vergnügen.«

»Hm!« Der greise Kavalier räusperte sich. »Nun sag' einmal: ich geb' ja zu, es kommt im Leben vor, daß man eine Frau schon jahrelang kennt und sich dann plötzlich in sie verliebt ... also dein Fall... Da ist es denn doch anzunehmen, daß man in dieser Zeit besondere Eigenschaften an ihr entdeckte und schätzen lernte, die man früher nicht kannte ... nicht wahr?«

»Ja. Sie ist so schön!«

»Nun – das hast du schon bei der Heirat gewußt!«

»Nein. Das hab' ich nicht wissen können, wie schön sie ist!«

»Also gut ... aber ich spreche auch von geistigen Eigenschaften! Du bist doch ein ernster, ein trüber Mensch! Ist es die Heiterkeit deiner Frau, die dich so bestochen hat?«

»Nennst du das heiter?« fragte der kleine Prinz bitter. »Ich nenn' es oberflächlich ... gedankenlos ... einfach töricht.«

»So?« Der Herzog war etwas verblüfft. »Oder hat sie sich vielleicht geistig inzwischen weiter entwickelt, als wir anderen es merken und ahnen? Du mußt das ja besser wissen.«

»O ja. Sie hat sich weiter entwickelt seit der Hochzeit. Sie kann jetzt den Gothaer Almanach und die Rennkalender auswendig. Aber sonst auch nichts.«

»So ... so! Nun ja ... den Eindruck macht es ja auch ... also bleibt eigentlich nur noch übrig, baß ihr Gemüt ... ihr Herz, wie man so sagt, an Tiefe gewonnen hat...«

Sein kleiner blasser Neffe sah ihn an. »Gemüt?« sagte er ruhig. »Ich versichere dich: wenn du die Selbstsucht, die eisigste, erbarmungsloseste, gedankenlose Selbstsucht malen lassen willst, dann nimm Virginia zum Modell. Und es wird ein schönes Bild. Sie ist ja so schön ... so wunderschön...« setzte er nach einer Weile träumerisch, in ferne Gedanken verloren, hinzu.

Der alte Herr war ernst geworden. »Hör' mal, mon cher ... du erschreckst mich! Du siehst ja ganz klar über sie. Du urteilst mehr wie nüchtern über sie – streng, feindlich, könnt' man sagen, und trotzdem ... das geht über meinen Verstand...«

»Über deinen Verstand sicher nicht ... nur über deine ehrwürdigen Jahre. Ich bin noch jung und kann nur immer wieder sagen: sie ist so schön!«

»Das heißt also mit anderen Worten...«

»Das heißt, daß ich mich in die Schönheit einer Frau verliebt habe, die gar nicht wert ist, daß ein Mann wie ich sie liebt – die ich durchschaue ... bis in das Innerste ... von der ich ganz genau weiß, daß sie ein kleinlicher, selbstsüchtiger, oberflächlicher, ungebildeter Mensch ist – und mit allen Fehlern ihres Geschlechts noch dazu – boshaft, nachtragend, selbst grausam, wenn man sie ärgert oder auch nur in ihrem Vergnügen stört – aber schön ... schön ... und ich weiß das alles und bete ihre Schönheit an ... ich habe nun einmal diesen Durst nach Schönheit in mir, vielleicht weil ich selbst häßlich und kränklich und verwachsen bin – und die Schönheit – das ist sie! Ich kann mir nichts Schöneres denken. Und bin in sie verliebt. Wahnsinnig. Und kann nicht von ihr lassen. Ich flieh' vor ihr – in die Berge ... in die Einsamkeit ... und komme nach zwei Tagen wieder zurück und finde sie da inmitten ihres Schwarmes, ihres Hofstaates ... und ich steh' daneben und eine wahnsinnige Eifersucht auf jeden, mit dem sie spricht und flirtet und kokettiert und nach rechts und links Händedrücke austauscht und schmachtend die dümmsten Schmeicheleien anhört – eine wütende Eifersucht verzehrt mich und ich darf sie nicht einmal zeigen ... sonst mache ich mich ja noch lächerlicher, als ich schon bin als der deutsche Prinzgemahl ... der Strohmann für eine ehrgeizige Millionärin ... und ich suche vergebens nach der Kraft, das zu tun, was ich längst sollte ... mich freizumachen von der ganzen Komödie ... hinauszugehen ... meinetwegen als ein Bettler und verspottet dazu. Daran läge mir nichts. Aber sie ... sie hält mich fest. Ich kann nicht von ihr. Sie ist so schön...«

»Und schließlich bist du doch ihr Mann!« sagte der andere halblaut und mit seltsamer Betonung.

Der kleine Prinz richtete seine melancholischen grauen Augen voll auf das Gesicht des Oheims. »Ihr gekaufter Mann!« spräche er. »Für schweres Geld und freiwillig in Deutschland gekauft. Weißt du, was das heißt? Weißt du, wie der Gedanke alles vergiftet ... alles... bis ins Höchste und Heiligste ... glaubst du, daß der Gedanke sich überhaupt ausdenken läßt ... nein ... man erstickt vorher daran und ich bin nahe dazu.«...

»Und du hast nie mit ihr darüber gesprochen?«

»Was soll ich ihr denn sagen? Und außerdem ... wann hätte sie je Zeit, derlei von mir anzuhören ... Da gibt es Wichtigeres. Ich bin ja bloß ihr Mann. Durch mich wird sie sich doch nicht stören lassen!«

»Du machst mich ungeduldig!« sagte der alte Grandseigneur energisch. »Du behauptest: ich bin bloß ihr Mann! Ach was! Ein Mann bist du – ganz einfach ein Mann! Das ist ganz genug gegenüber einer Frau! Aber wissen muß man's! Und ausnutzen! Schließlich wollen sie ja alle doch nichts anderes als gehorchen! Fragt sich nur, wem? Dem, der befiehlt! Befehle! Mache 'was aus dir! Du bist ein kluger, mutiger, hochgebildeter Mensch! Stelle dein Licht doch nicht unter den Scheffel! Ich hab' in meinem langen und abwechselungsreichen Leben doch weiß Gott manchen Imbécile getroffen – Leute ohne irgend welche Qualitäten, die es nur dank ihrem Schneid, dank einer gewissen Sicherheit zu allem brachten, was sie wollten! Und nun erst du!«

»So spricht die Weisheit!« sagte der kleine Prinz trübe lächelnd. »Aber ich habe die Erfahrung für mich! Ich kenne doch Virginia. Sie hat in ihrem ganzen zweiundzwanzigjährigen Leben immer nur das getan, was sie selbst wollte... Sie läßt sich keinen fremden Willen aufzwingen!«

»Leicht wird es nicht sein. Aber schließlich geht alles auf der Welt!«

»Und wie denn?«

Der greise Herzog lächelte verstohlen. »Es ist mir ein Gedicht in der Erinnerung, weil sein Kehrreim gerade für uns und unseresgleichen eine nützliche Lehre enthält. Dieser Reim aber lautet: ›Landgraf, Landgraf, werde hart!‹ Werde hart, mein lieber Neffe! Mit Sammethandschuhen regiert man kein Land und keine Frau!«

»Man regiert, wenn man ein Recht hat! Wo habe ich denn ein Recht? Die Yankees haben mich gekauft. Ein ganzes Konsortium. Ein Familienrat von Silberkönigen und Silberprinzen. Und sie lassen es mich deutlich genug merken, wie gering sie mich schätzen. Ich bin nichts als der Prinzgemahl in der regierenden Sippe. Ich habe keinen Einfluß, keine Stellung, keine Meinung – nichts! Versuche ich es, mich in die Familienangelegenheiten einzumischen, so lese ich in allen Blicken: den deutschen Prinzen geht das doch nichts an! Den haben wir für Virginia angeschafft als einen Schlüssel zu den oberen Zehntausend von Europa. Dazu ist er gut und nützlich, aber zu sonst nichts! Meine Frau verwaltet doch auch ihre Mitgift selbst. Ihr Vater und ihre Brüder beraten sie dabei. Wird etwas angeschafft, etwa wie ›Aegir‹, oder das Schloß Thieregg, oder eine Jacht, so zahlen sie es aus ihrer Tasche und fragen mich gar nicht erst. Ich habe nichts zu tun, als die Zinsen mitzugenießen. Ich bin das fünfte Rad am Wagen. Ich habe kein Recht und keine Pflichten!«

»Ach, Recht! Recht!« Der Grandseigneur wiegte ärgerlich das weiße Haupt. »Recht hat immer der Stärkere. Und ein Mann ist immer stärker als eine Frau!«

»Ja, wenn er nicht in die Frau verliebt ist!«

»Ach ja ... dann freilich...!« sagte der alte Herr in trüber Erinnerung und beinahe erschrocken, und beide waren eine Zeitlang still.

 


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